GRUND LEGENDE LEGENDE

Ob ein Gedanke brandnew oder trivial ist, kann der Verfasser selten entscheiden, genauso wenig aber die Leser.

So vielen Menschen fällt es schwer, in der Gegenwart zu leben. Sie sehnen sich nach der Zukunft oder nach der Vergangenheit. Dabei scheint es reziprok zuzugehen: wer in der Vergangenheit lebt, beurteilt die Zukunft als fortwährende Katastrophe, wer in der Zukunft lebt, verzerrt die Vergangenheit. Allerdings muss auch, wer die Vergangenheit liebt, diese reinigen, geraderücken, den Regeln der heutigen Vernunft anpassen. Vernunft aber, so hatten wir schon letztens geschrieben, ist keine Triebkraft der Geschichte, sondern allenfalls ein Instrument ihrer Beschreibung. Rational geht es bei uns Menschen nicht zu.

Der ukrainische Autor Serhij Zhadan schreibt Bücher über den Krieg mit Russland, der seit 2014 tobt und seit einem Jahr durch den russischen Angriff in eine heiße Phase getreten ist. In ‚Internat‘ [2017] holt ein leicht behinderter, nicht sehr selbstbewusster Lehrer der ukrainischen Sprache, die er aber im Alltag selbst nicht spricht, seinen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt Charkiw, die nicht genannt wird. Der Neffe liebt seine Familie nicht und ist nicht besonders handsome, er folgt seinem Onkel nur widerwillig. Während dieser insgesamt dreitägigen Ruinenodyssee begegnen sowohl dem Lehrer allein auf dem Hinweg und den beiden zwangsbefreundeten Wanderern zwar hin und wieder Soldaten, aber es lässt sich oft gar nicht ausmachen, zu welcher Seite die oft versprengten Truppen gehören. Meist lassen sie unsere beiden relativ unbehelligt entkommen, wenn nicht, findet sich ein Umweg. Es wird also weniger der Krieg beschrieben, als vielmehr das Chaos, das dem Krieg auf Schritt und Tritt folgt. Überall findet sich aber auch das Chaos der Sowjetzeit. Warum also die Neorechten hierzulande Zhadan als Kriegstreiber bezeichnen, bleibt ein Rätsel, wenn man außeracht lässt, dass in der neorechten Szene Etiketten wohlfeiler als Argumente sind. 

Noch krasser wird das in dem schon davor erschienenen Roman ‚Die Erfindung des Jazz im Donbass‘ [2010] erfahrbar. Die ganze Welt des Donbas besteht aus Versatzstücken der Sowjetunion, der oligarchiegesteuerten Privatisierung und des schwelenden Konflikts. Daher kommen auch die ständig erwähnten Postkarten aus Woroschilowgrad, so auch der Originaltitel des Buches, die zeitweilige Bezeichnung der Stadt Luhansk nach dem sowjetischen Politiker und Militär. In Luhansk befand sich die im Jahre 1900 von dem Dresdner Fabrikanten Gustav Hartmann gegründete größte Lokomotivfabrik Europas – aber sie ist weitgehend zerstört und stellt heute, in einer winzigen Restproduktion, Töpfe für den Haushalt her! Die Odyssee, auch dieses Buch ist die Vorlage für ein roadmovie, des Protagonisten Herrmann zurück in seine verwüstete Heimat ist beinahe noch fragiler als jene, immerhin auf drei Tage beschränkte Wanderung durch Charkiw, denn sie hat einen nicht benannten Ausgangspunkt und mündet Kriegswüsteneien. Die agierenden Menschen sind alle ehemalige Leninpioniere und haben ihre Immer-bereit-Ideologie nicht aufgegeben. Der Zerfall des Sowjetimperiums mag für einige eine Katastrophe sein, für andere ein Segen, geopolitisch verbesserte sich das Gesamtsystem beträchtlich. Es ist von großer symbolischer Bedeutung, dass neben der Krim der Donbass, das einstige industrielle Herz Russlands, mit seinen reichen Kohlevorkommen, die seit 1795 abgebaut werden, das Streitobjekt zwischen Russland und der Ukraine ist. Um Kohle und Diesellokomotiven wird es in der nahen Zukunft eben nicht mehr gehen. Der gesamte Putinismus ist ein Streben nach dem verlorenen Gestern: Hegemonie, Einflusssphären, Großmachtstreben, Kolonialismus und eben Kohle und Stahl.  

So lässt sich auch viel besser als mit allen anderen Ansätzen erklären, warum die Ostdeutschen so merkwürdig retrovertiert verhalten, obwohl sich – jedenfalls äußerlich – ihr Landstrich wesentlich schneller entwickelte als alle anderen: man vergleiche das prosperierende Potsdam mit dem schrumpfenden Saarbrücken. Nur in der Anzahl der Bettler kann Saarbrücken punkten. Trotzdem wählten die Ostdeutschen beharrlich PDS, jetzt DIE LINKE, nun aber AfD, obwohl sie von sich glauben, dass sie keine Nazis sind. Dies scheint mir am besten erklärbar mit diesem Verharren im Vergangenen, so wie es Zhadan für die Ukraine schildert, die auf dem Weg in den Westen ist, aber jede Menge leninistisches Sperrgut mitschleppt. Auch die Korruption ist als Erbe der Sowjetzeit erklärbar. Sie spielte in der DDR aber nicht die große Rolle, vielmehr war das so genannte Vitamin B eher ein Austausch, wenn auch nicht gleichberechtigt. Das lag aber am extrem asymmetrischen illegalen Umtauschkurs zur D-Mark.  

So wie jedes musikalisch ausdrückbare Gefühl im WTC und jedes zeichnerisch Fassbare sich in Michelangelos Werk findet, so findet sich auch jede menschliche Schwäche und jede Freude im vielleicht kollektiv entstandenen Shakespeareschen Dramen- und Gedichtwerk. So wird auch Hamlet gerne als Zögerer und Zauderer gesehen, weil er dreieinhalb Theaterstunden braucht, um zu tun, was getan werden muss. Hamlet in einer Demokratie würde Jahrzehnte benötigen, um vorwärts zu kommen. Aber ist nicht die berühmte Zeile, dass wir, da wir nicht wissen, was kommt, lieber in den Übeln verharren, die wir kennen, als zu anderen uns zu fliehen, von denen wir nichts wissen*, die Grunderzählung der Vorsicht, der Angst vor der Veränderung? Das ist kein Zaudern, das ist die Flucht zu jenen, die uns das ewige Gestern versprechen. Es gibt keine fortdauerndes Vorwärts. Minderheiten bremsen und wollen zurück und manchmal schaffen sie es, eine Welle der Mehrheit mit sich zu reißen. Aber warum schauen diese Menschen nicht einfach zurück und sehen, dass in der Vergangenheit all das nicht gelöst war, was uns heute belastet. Ausdrücklich lässt Shakespeare seinen nicht ausgedachten, sondern realistisch gezeichneten Protagonisten sagen, dass er bei those ills we have bleiben will. Er weiß und unsere Zeitgenossen wissen, dass es beträchtliche Nachteile gibt. Aber man kennt sie, und deshalb will man bei ihnen bleiben. Die Angst ist größer als das Heilsversprechen, also wird das Heilsversprechen nach hinten verlegt, ins graue, trübe Gestern.

Die Zeitenwende, von der der Redenschreiber des Kanzlers sprechen ließ, ist nicht die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, so notwendig sie vielleicht sein mag, der wirklich wichtige Paradigmenwechsel ist die Ablösung der fossilen Energieträger, der sorgsame Umgang mit den Ressourcen einschließlich des Menschen selbst, das Ende einer europazentrierten Denk- und Wirtschaftsweise, eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz unter besonderer Beachtung der weltweiten Migrationskrise, beinahe möchte man schreiben: und so weiter und so fort, damit klar wird, ein wie winziges Rädchen in diesem Getriebe der Zukunft die Bundeswehr und die Wehrhaftigkeit sind. Sie sind winzige Rädchen!  Es wird uns kein Zaudern mehr weiterhelfen. Wir müssen die Aufgaben, die das Leben der Menschheit uns stellt, beherzt, visionär und bei vollem Verstand zu lösen versuchen. 

Der Protagonist Herrmann wird aus dem Privatzug eines lächerlichen Oligarchen geworfen, der sich auf toten Gleisen befindet. Nach einem langen Fußweg durch die im Nebel liegende unsichtbare Landschaft, bei dem er Angst vor einer Begegnung hat, strecken sich ihm plötzlich aus dem Nebel (des Lebens sozusagen) sechs Kinderhände entgegen. Die Kinder führen ihn in das Sammellager einer Völkerwanderung, die von der UNO und der EU aus Menschenrechtsgründen begleitet wird. In dem Lager, in dem ganzen mongolisch-tatarisch-unbestimmten Volk, haben die Frauen das Sagen. Alle leben in provisorischen Zelten, überall sind Feuer zugange. Es herrscht eine aufgeregte Erwartung. Alle warten auf die Niederkunft der Führerin, die ein Baby, ein Mädchen, ohne kennbaren Vater zur Welt bringen wird, daher der Stopp in der Steppe, und dann auch tatsächlich gebiert.

An dieser Stelle des Romans, dessen Sprache oft fast lyrisch ist, aber in den Dialogen in einen prolethaften Fäkaljargon fällt, obwohl alle Protagonisten einen Hochschulabschluss haben, an dieser Stelle wird das Versagen aller Religionen und Ideologien und gleichzeitig die Größe und Mächtigkeit des notwendigen Bruchs deutlich. Sie verharren bei der unbefleckten Jungfrauengeburt eines Knaben, dessen Vermächtnis sie seitdem mit Füßen treten. Es werden Yesuspuppen hin- und hergeschleppt, Marienbilder geküsst, alte Männer, begleitet von jungen Knaben, tragen Tabernakel und wedeln mit Weirauch. Aber es ist ihnen und keiner anderen Religion oder Ideologie in mehr als dreitausend Jahren nicht gelungen, den einfachen Satz, dass man seine Feinde lieben soll, weil man dann keine mehr hat, verständlich zu machen und die Menschheit damit zu infizieren. Statt dessen wird weiter gespalten, gehetzt, verleumdet, gelogen, gemordet und scheinheilig getan. Den einstweiligen Gipfel dieses eklatanten Missbrauchs dürfte jener KGB-Offizier sein, der sich jetzt Kirill der Erste nennt und als Oberhaupt der russischen Orthodoxen zum Brudermord an den ukrainischen Orthodoxen  offen aufruft, einschließlich der von ihm verfügten Vergebung aller Sünden.

Dem Verfasser von ‚Die Erfindung des Jazz im Donbass‘ geht es wahrscheinlich, mir ganz sicher nicht um ein neues Matriarchat. In manchen Bereichen sieht es zwar so aus, aber in anderen herrscht noch das blanke Mittelalter. Was sich da in der Steppe bei Woroschilowgrad zusammenbraut, ist die Metapher für die Größe der Lösung, die wir brauchen. Wie immer, deutet die Metapher einiges an: Nomaden auf dem Weg in die Sesshaftigkeit, Sesshafte auf dem Weg (!) ins Nomadentum, Frauen als Quelle des Lebens, Kinder als Quelle fortwährender Fröhlichkeit. Auf dem Weg in die Emanzipation aller Minderheiten sind wir schon weit fortgeschritten. Aber noch gibt es viel zu viele Kinder, die nicht genug essen oder lernen können. Wir müssen den Hänsel-und-Gretel-Komplex endgültig und nachhaltig umdrehen: Kindern darf die Zukunft nicht nur sprichwörtlich gehören, sondern wörtlich. Sie brauchen ein modal angepasstes Wahl- und Mitbestimmungsrecht. Sie brauchen Investitionen in ihre Bildung, moderne Schulen, moderne Methoden, moderne junge Lehrerinnen und Lehrer.  

Neulich sagte ein mit mir befreundeter Pfarrer, dass die Menschen von Moral nichts mehr hören wollen, dass sie moralsatt sind und dass deswegen die Säkularisierung in die Diktatur führt. Das ist zum Glück schon deshalb falsch, weil das Christentum zwar einen großen Anteil an unserer Moral, unserer Ethik und unserem Wertesystem hat, aber nicht der alleinige Urheber ist. Rousseau, Kant, Lessing (‚Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen für den erträglichern zu halten.‘) , Schiller (‚Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.‘), Goethe  (‚Gott  nur ist moralisch, kein Mensch ist es vis-a-vis von sich; man ist es nur gegen andere, denn niemand kann sich selbst subordinieren.‘), Kierkegaard und Nietzsche, die ganze Aufklärung, das ganze Programm, haben ebenfalls dazu beigetragen. Wenn wir aufhören, uns gegenseitig zu halten, wenn wir einander die Treue brechen, dann wird das Meer uns verschlingen, dann geht das Licht aus** – das steht nicht in der Bibel, das ist von einem der größten Denker Amerikas, James Baldwin.       

*Hamlet III1

**The Price of the Ticket, S. 400

Adenauer AfD Angst vor dem Neuen Berlin Coronakrise Diktatoren Erdogan Eritrea Erpenbeck Flüchtling Flüchtlinge Freiheit Genossenschaft Globalisierung Gott Grünspan Gutes Hegel Hiob Identität jesus Krieg Kästner LINKS Masaccio Maschinen Merkel Musik Nationalismus Navigation Nietzsche Orgel Plattenbausiedlung Politik Putin Rache Rousseau Schiller Strafe Trump ubuntu Uckermark verschwinden weihnachten Woddow

Werbung

3 Gedanken zu “GRUND LEGENDE LEGENDE

      • Ich lese Deine Texte sehr aufmerksam. Ich habe Dir zu danken.

        Anhang: / Moral

        Moral ist die Unterscheidung von Absichten, Entscheidungen und Handlungen zwischen solchen, die als richtig ausgezeichnet werden, und solchen, die unangemessen sind.

        Die Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden
        „die öffentliche Moral“

        Selten: sittliches Empfinden, Verhalten eines Einzelnen, einer Gruppe; Sittlichkeit
        „eine brüchige Moral“

        Die Ethik ist jener Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen und der Bewertung menschlichen Handelns befasst. Ihr Gegenstand ist damit die Moral insbesondere hinsichtlich ihrer Begründbarkeit und Reflexion. Cicero übersetzte als erster êthikê in den seinerzeit neuen Begriff philosophia moralis.

        Jesus von Nazaret hat nach dem Neuen Testament (NT) „Liebet eure Feinde“ geboten und damit das Gebot der Nächstenliebe (die ihrerseits Feindschaft und Hass überwinden soll) aus der Tora des Judentums ausgelegt. Der aus Jesu Gebot abgeleitete Begriff „Feindesliebe“ wird oft als Eigenheit des Christentums betrachtet.

        Der grösste Feind bin ich mir selbst.

        Herzliche Grüße
        Hans Gamma

        Like

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s