ZWISCHEN PANKOFF UND KAHLA

Zwei Romane im Ursachenmilieu

Zu Spitzenzeiten des Kalten Krieges benannten  sich die Kontrahenten nicht mit Namen, sondern mit Metaphern. Adenauer und Brandt (!) hießen im Osten ‚Bonner Ultras‘, während im Westen nur vom Pankower oder Zonenregime gesprochen wurde. Adenauer sagte zudem nicht Pankow, sondern Pankoff, und nahm noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die ostzonalen Schwestern und Brüder nicht in Pankoff regiert wurden, sondern dass im Majakowskiring nur die Machthaber wohnten. In der nicht so geschlossenen Siedlung auf der anderen Seite der  Grabbeallee wohnten die systemtreuen Künstler mit Ausnahme von Brecht. Wenige hundert Meter nördlich davon hat die Familie Erpenbeck sogar eine eigene kleine Straße. Und unter der fortwährenden Existenz in dieser pseudoelitären Situation leidet der zu großen Einsichten fähige und befähigende neueste Roman von Jenny Erpenbeck. Er erzählt von einer blutjungen Angehörigen einer solchen proletarischen Edelfamilie, die sich in einen vierunddreißig Jahre älteren anscheinend berühmten Schriftsteller verliebt, der aber eigentlich nur ein neues Verhältnis sucht, für die vergangenen Verhältnisse war er stadtbekannt. Halt: der zweite Makel des auch stilistisch – gemessen an Juli Zeh – herausragenden Romans ist die selbst produzierte und auf alle potenziellen Opfer projizierte Berühmtheit und Größe der eigenen Leute. Jeder Weltbürger hat natürlich Hegel und Marx gelesen, jeder findet die angepinnten Lenin-Zitate gut (Beispiel: Der Marxismus ist richtig, weil er wahr ist.), Brecht ist überhaupt der größte Dichter, den es gab, gibt und geben kann. Im Falle von Brecht fielen sogar die Selbstdarstellung und das von oben herab gelassene Bild des sozialistischen Oberklassikers zusammen. In dem Roman ‚Kairos‘ fehlt es schon nicht an Ironie und Selbstironie, aber ich schwöre – und ich habe auch vierzig Jahre nicht gerade als Gegner in der DDR gelebt –, ich kenne keinen einzigen Menschen, der zum Grab von Ernst Busch gegangen wäre. Viele, die ich kannte, mich selbst eingeschlossen, haben Ernst Busch erst zur Kenntnis genommen, als der Buschfunk meldete, dass Ernst Busch betrunken Honecker die Meinung sagt. Viele, die ich kannte, hätten, wenn ich sie nach Ernst Busch gefragt hätte, zurückgefragt, ob das der Direktor von Zirkus Busch sei. Vielmehr erwies sich am Beispiel von Busch und Brecht der Glaube der DDR-Kulturfunktionäre, dass die ganze DDR nichts anderes las, hörte und sah, als die verordnete Kunst mit ihrer verordneten Berühmtheit, als Aber- und Irrglaube.

Umgekehrt ist jeder Glaube an den Staat Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Die erste große Schlusspointe wird lange und tiefgründig vorbereitet: der berühmte Schriftsteller, und das zeigt, dass er nur scheinbar groß ist, tut fast nichts als ununterbrochen essen zu gehen oder in Cafés herumzusitzen. Den gleichaltrigen Freundinnen der blutjungen Geliebten bleibt nichts als Neid vor so viel demonstrativem Reichtum, der dann auch schnell zur Armut verkommt. Beim erstbesten Anlass verfällt der scheinbar berühmte Mann in sein eigentliches Metier: das Denunziantentum. Die Geliebte hat in Frankfurt an der Oder, wo sie einst im Bahnhofsklo eine Stunde lang geweint hatte, und ein Bahnhofsklo im Osten war wahrlich kein Vergnügen, einen einfühlsamen und gleichaltrigen Zuhörer gefunden, dessen sexuellen Avancen sie sehr tapfer und sehr lange widersteht. Unser Berufsdenunziant hat die folgenden Wochen und Monate nichts besseres zu tun als Dossier um Dossier über diesen von ihm so benannten Verrat (und das Wort verrät seine eigentliche Herkunft) zu füllen, bis wohlmeinende Freunde ihm eine Therapie empfehlen. Er geht auch zu einem Psychologen, aber nur, um auch diesen über die einzig wahre Sicht auf Hölderlin zu belehren. So wie in den ersten Monaten der Beziehung jeder Jahrestag (also eher das Monatsdatum) gefeiert wird, wird nun alles zurückgespult und alles unter dem neuen Vorzeichen – nicht des glücklichen Zusammentreffens -, des unglücklichen Auseinandergehens bewertet. Dabei bleibt alles beim alten: die Cafés, das Essengehen, Rauchen der Zigaretten Marke Duett, sechs Ostmark die Schachtel, verwirklichte Pornografie im Bett. Man ahnt, dass der Roman, der sich bisher wie Memoiren einer jungen Frau las, das Potential zur Parabel hat. Diese ganze Liebe beruht auf Verrat und dieses ganze Land beruht auf Verrat. Der Unterschied ist nur, dass die Bewohner des Landes sich unbemerkt von ihrer Führung von ihrer Führung entfernen. Seit immer mehr Nichtrentner in den Westen reisen dürfen, spricht sich herum, dass selbst die Arbeitslosen im Westen weniger klagen als die Entmündigten und Passlosen im Osten. Während wir Leser uns über die von ihm verfassten Kassetten empören, muss Katharina sie minutiös beantworten und gerät dadurch in Konflikt und schließlich in den Dissens mit ihrem Geliebten. Wir ahnen, worauf es hinausläuft, aber die Protagonistin der Fiktion muss erst Akteneinsicht beantragen.

Die zweite Pointe ist nicht so leicht zu erkennen, aber sie ist genauso konstruiert: gleichnishaft zeigt der Roman an der manchmal bis ins Kitschige gleitenden Liebe wie die DDR funktionierte. Denn wir sollten dem Staat unseren Dank, dass wir studieren durften, mit dem drei Jahre währenden Armeedienst abstatten. Aber hätte der Staat nicht uns dankbar sein müssen, dass wir uns auf seine unsinnigen Argumente einließen? Denn wenn wir uns nicht eingelassen hätten, wäre es ein Land ohne Ärzte und ohne Armee geworden. Jedes große System versucht, die Beweislast dergestalt einfach umzukehren. Die Diktatoren und Autokraten verlangen auch noch Dankbarkeit für ihre Anmaßung. Es ist dasselbe Paradox wie bei den Bankeinlagen: wenn alle Kunden ihr Geld an einem Tag abheben würden, gäbe es nicht genügend Bargeld. Aber die Kunden machen das natürlich nicht, und die DDR-Bürger haben zwar gemault, aber auch gekuscht, nur Torsten ging in den Westen statt in die Armee, und er wollte doch nur Zahnarzt werden. Auch das umgekehrte ist denkbar: der Staat, dem man sich widersetzt, rächt sich, er verkündet, alle Dissidenten und Attentäter zu erschießen, aber dann zeigt sich, dass das nicht geht. Zum 90. Geburtstag ließ sich Nina Gräfin Schenk von Stauffenberg ein Foto mit ihren 90 Nachkommen anfertigen, obwohl der allmächtigste Terrorist verkündet hatte, dass er die gesamte Familie mit Stumpf und Stiel ausrotten wird.

Jenny Erpenbecks Roman vom Gott des günstigen Augenblicks findet, obwohl ein bisschen elitelastig, dann doch noch den Weg zur Parabel. Denn die Elite war ja keine, und den berühmten Schriftsteller erkennt heute kein einziger Leser mehr, auch Jenny Erpenbeck musste, wie sie im Nachwort schreibt, ihren Vater und Professor Erdmut Wizisla befragen, um das Flair der untergegangenen Elite zu rekonstruieren. Die Würde des Menschen war nicht nur antastbar und demzufolge grundsätzlich befleckt, sondern wurde verliehen wie ein Orden, und wer ihn nicht erhielt, hatte sich ‚als unwürdig erwiesen‘, wie auch unsere Protagonistin Katharina. Jeder Versuch zu glauben, dass es sinnvoll sei, einen Staat oder eine Religion über ein Land zu verhängen, ist sinnlos und zum Scheitern verurteilt. Die Überschätzung des Staates ist uns Menschen aus der DDR aber doppelt zum Verhängnis geworden: nämlich damals, als wir auf die Pseudoelite hereingefallen sind und mit Brecht- und Leninzitaten um uns haben werfen lassen, und heute, da wir immer noch glauben, dass irgendeine heisere Bürokratin uns aus unserem Elend erlösen will. Das müssen wir schon selber tun und der Staat sollte dabei allerhöchstens der Nachtwächter sein und hin und wieder einen Sozialarbeiter vorbeischicken.

Obwohl der im zweiten Roman beschriebene Ort Kana leicht als Kahla in Thüringen und Hort der Neonaziszene erkennbar ist, ist genauso leicht der Parabelcharakter des Buches überdeutlich. Der oberste Neonazi des kleinen Städtchens südlich von Jena, genannt DER BOSS, liebt Bach und nimmt sich eines armen Waisenjungen aus dem Kinderheim an, kurzum, alle unvereinbaren Subkulturen werden hier neu gemischt. Das Personal des kleinen, eigentlich liebenswürdig-verschrobenen Örtchens scheint aus einem Musterbuch des Kleinstadtbewohners zu stammen. Da ist der vom BOSS adoptierte Junge Florian Herscht, ein Riesenbaby von ungeheurer Kraft, man ahnt schon zu Beginn, dass er sie noch brauchen wird. Er ist genauso sympathisch, everybody’s darling, wie sein Vorbild aus der Weltliteratur: Lennie Small aus John Steinbecks großem, wenn auch kurzem Roman OF MICE AND MEN. Er ist der Freund der alten Frauen und der Hochhausbewohner, und er ist so glücklich, dass er im siebten Stock des Hochhauses eine eigene Wohnung besitzt, mit einem Stuhl und einem Tisch und einem Bett. Dort kann er aber mit seinem Laptop keine Bachkantaten hören, denn es gibt kein Internet. Dieses ganze wunderbare Leben verdankt er dem BOSS, der ihn vom Hochhaus zu den Einsätzen abholt, bei denen sie mit Spezialmitteln und noch spezielleren Werkzeugen Graffiti entfernen, besonders von den nationalen Heiligtümern der Bachgedenkstätten in Thüringen. Die Leiterin der Bibliothek gehört zu den Freundinnen und Freunden Florians ebenso wie der pensionierte Physiklehrer Adrian Köhler, von dem er zudem lernt, dass die Welt zu Nichts zerfällt, wenn die Politik nicht schnellstens reagiert. Florian schreibt deshalb mehrere Briefe an Angela Merkel und versucht auch, im Reichstag vorstellig zu werden. Kleinstadtmilieustudien werden nicht nur mit Frau Schneider und Frau Burgmüller vorgelegt, zwei konkurrierenden Nachbarinnen und omnipräsenten Zeitzeuginnen, sondern auch mit der – Frau Ritter aus Köthen nachempfundenen – völlig körperlich und geistig verwahrlosten Mutter des Nazis: die Geburt des [NATIONAL][SOZIAL][ISMUS] aus der Asozialität.

Eine Extrastudie widmet Krasznahorkai dem Festhalten an den alten Essgewohnheiten Bockwurst, Schweineleber und Köstritzer Bier. Es gibt wohl kein Buch, in dem mehr Bockwurst gegessen wird. Aber wir verstehen: die Essgewohnheit ist auch ein Widerstand gegen Burger und Döner. Jedoch wie Weihnachten nie mehr so sein wird wie in der Kindheit, so wird die DDR nicht wieder auferstehen, soviel Bockwurst ihre follower auch in sich hineinstopfen mögen.

Die Kleinstadtidylle ist nach 1990 durch demografische und ökonomische Prozesse zerstört worden, die nicht direkt von einem Staat zu verantworten waren, weder vom untergegangenen noch vom eben aufgehenden. Zurück blieb ein verwahrloster Topos mit so gesehen obdachlosen Menschen. In dieses Vakuum stieß der mentale Linksradikalismus (BANKEN ENTEIGNEN) genauso wie der latente Neonazismus (DEUTSCHLAND DEN DEUTSCHEN), überhaupt jede vereinfachte Antwortoption und jedes autoritäre Reglement. Das Dilemma menschlichen Zusammenlebens ist hier zu sehen: entweder ein optionales Overprotecting oder die mögliche Verwahrlosung. Selbst die antiautoritärste Demokratie benötigt einen Grundkonsens, während auch die härteste Autokratie nicht ohne eine demokratische oder wenigstens merkantile Klammer auskommen kann. Das eine System basiert auf Emphase, dem permanent skandierten Unsinn, das andere auf Empathie, dem immer erneuerten Versuch der Annäherung.

Eine Ausnahme oder ein Zwischenglied ist der Lehrer. Da er sein Wissen unmittelbar weitergibt, glaubt er, es auch unmittelbar empfangen zu haben, er hält es und sich für absolut und schon sitzt er in der ungewollten Autoritätsfalle, obwohl er eigentlich nur durch Einfühlung existieren kann. Adrian Köhler versucht vergebens, die falsche Interpretation zu stoppen und verfällt in Demenz als der notwendigen Zivilisationskrankheit. Keine Autorität kommt ohne Kataklysmus aus, ob er nun im kleinen Städtchen Kahla im Untergang der Porzellanfabrik oder in der prächtigen Metropole Lissabon passiert, wo einst und deshalb die Aufklärung geboren wurde. Das Erdbeben ereilt Kahla wie Lissabon.

Indes tritt zu den gewalttätigen Neonazis eine weitere Bedrohung: die Wölfe, die alte Urangst des Menschen, der sich immer mehr von der Natur entfernt. Der Wolf als Metapher für sich selbst und den Flüchtling und die Pandemie ist die verkörperte Irrationalität. Der Mensch, selbst wenn er an Gott glaubt, glaubt sich rational, demgegenüber kommen die genannten Monster aus dem Off der Unvernunft.

Der Staat bleibt hilflos und unsicher, die Polizei tappt im Dunkeln, weil sich das Paralleluniversum der Neonazis als Stecknadelkopf im Heuballen entpuppt hat.

Jeder Glaube an den Staat ist Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Der Staat sind bestenfalls wir, aber dieser Fall kann wohl kaum eintreten, solange bezahlte Büttel von verlorener Macht träumen.

Beide Bücher spielen mit einer Art Unstrukturiertheit und spiegeln damit das zunächst unstrukturierte Leben, das uns erst nekrologisch logisch wird. Andersherum gesagt: nur im Kunstwerk können wir den Sinn oder den Unsinn des Lebens erkennen. Das tägliche Leben erschließt sich uns nur schwer. Wir wissen nicht, warum unser Nachbar stirbt oder drei Häuser weiter das siebte Kind geboren wird. Deswegen steht auf vielen Grabsteinen WARUM, aber keine Antwort, und Memoiren dienen eher dazu, die Gründe zu verschleiern statt sie aufzuklären. Erpenbeck beherrscht den Perspektivwechsel innerhalb eines Absatzes oder sogar eines Satzes. Dadurch entsteht im Leser eine Unmittelbarkeit, eine Dichte, die den Memoiren des alten Kindes dokumentarische Züge verleiht.

Dieselbe Wirkung erreicht Krasznahorkai dadurch, dass es in seinem ebenfalls 400 Seiten starken Buch nur einen einzigen Punkt gibt, den Schlusspunkt. Es gibt auch keinen Absatz und die Kapitelüberschriften sind Zitate vorheriger Kapitel. Dadurch können wir Leser glauben, dass der Roman das Leben so wiedergibt wie es ist: unstrukturiert, unverständlich, unglaublich, unverfroren, unwiederholbar, unhaltbar, unendlich. Aber der Schein trügt. Man ahnt es: Florian Herscht wird es beenden, so wie unser aller Leben eben endet. Am Schluss sterben sie alle wie die Fliegen. Aber die schönste Pointe, nach der die böseste der Bösen durch Genickbruch zu Tode kam, ist, dass die Pistole der toten Bösen noch einmal losging und HERSCHT mit den beiden vom Naturschutz geschändeten Wölfen stirbt, im Kopf hört er aus dem Stabat Mater von Pergolesi/Bach TILGE HÖCHSTER MEINE SÜNDEN. Ja, das wäre schön.  

Jenny Erpenbeck, KAIROS., Penguin Verlag, München 2021

Laszlo Krasznahorkai, HERSCHT 07769, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021

SOLL ICH MEINES BRUDERS HÜTER SEIN?

träume sind erinnerung an taten

taten sind erinnerung an träume

1

Zu den Menschen, die man sich leider nicht aussuchen kann, und ich denke, das sind alle, gehört auch der Bruder. Gleichwohl hat er aber, als Bezeichnung, als Kategorie und als realer Bezug eine ungeheure Aufwertung erfahren. Das gleiche Schicksal, besser: der sehr ähnliche Ausgangspunkt, verband Brüder schon immer, aber der Name ‚Bruder‘ kann auch Metapher für die methodisch so beliebte Unterscheidung in zwei Kategorien sein: gut und böse, Mörder und Ermordeter. Die frühe Geschichte von Kain, der seinen Bruder aus Neid ermordet, zeigt uns aber auch, dass es auf den ersten Blick nur einen Weg gibt, nicht zum Mörder zu werden: nämlich ermordet zu werden. Die ganze Menschheitsgeschichte ist voller Täter und Opfer. Mauern, Ketten, Fesseln, Kreuze, Galgen und Guillotinen sollen den Opfern ihren Status bewusst machen und sie einschüchtern und einsperren.

Aus dieser endlosen Opfergeschichte erhebt sie die Emanzipation, die manchmal von oben verordnet wurde, wie bei der so genannten Judenemanzipation in Deutschland und Österreich, manchmal mit einem mutigen Akt der Selbstemanzipation begann, wie bei der Emanzipation der Frau oder, doppelt sozusagen, als Rosa Parks im Bus auf dem Platz für Weiße sitzenblieb. Und wir wollen nicht vergessen, dass das Busunternehmen in seinem Beharren auf Segregation direkt in die Pleite steuerte. Aus dieser Bewegung der afroamerikanischen, eher auf der Opferseite befindlichen Bevölkerung Nordamerikas stammt die neuerliche, inzwischen weltweite Aufwertung des Bruderbegriffs, der in der Religion immer gebräuchlich war, aber mit der Religion auch das Schicksal der Unglaubwürdigkeit teilte.

In der spektakulären Ausstellung ‚BEWEGTE ZEITEN‘, die an archäologischen Fundstücken unsere im doppelten Sinne bewegte Vergangenheit zeigt – die Menschen wanderten von jeher ein und aus, und sie schufen bewegende Artefakte, wie zum Beispiel vor dreitausend Jahren das Speichenrad von Stade – kann man gut sehen, dass die Kunst, die Venus und die Flöte von vor 40.000 Jahren, der treueste selbstgeschaffene Wegbegleiter der Menschen ist. Die Kunst ist vielleicht ein Produkt des Überflusses an Zeit, der entsteht, wenn man satt zu essen hat oder ausgestoßen ist. Im New York der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entstand diese eigenartige Subkultur des Hiphops, die heute weltweit als Rap fortbesteht und den antiken Begriff des Bruders (‚bro‘) als Metapher tiefer und selbstgewählter Zusammengehörigkeit hervorgebracht hat. Es ist aber eine Renaissance dieses uralten Begriffs und wir müssen auch gleichzeitig eingestehen, dass er einerseits natürlich wie jeder Begriff auch verlogen sein kann (‚und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein‘), und andererseits ist es vielleicht der letzte männlich-dominierende Begriff. Das hat sich aber niemand ausgedacht, um die Frauen oder die Feministinnen zu ärgern, sondern das kommt daher, dass in der modernen Industrie- oder Arbeitsweltgeschichte wieder Millionen junger Männer übrig sind und sein werden, die sich dann auch in organisiertem Verbrechen und in gelangweilten Subkulturen wiederfinden. Es gibt also neben Klimawandel, Digitalisierung als Veränderung der Arbeitswelt und Migration noch weitere Probleme, die wir in Zukunft lösen müssen. Dazu gehören die arbeitslosen jungen Männer genauso wie die seit siebenhundert Jahren in Europa lebende und verachtete Minderheit der Roma.

Bis ins neunzehnte Jahrhundert waren die Menschen aufgrund von Mangel aufeinander angewiesen, andererseits fanden sie über sich ein Gedankengebäude, das genauso ewig zu sein schien wie die Kathedrale, in der Solidarität und Sicherheit gepredigt wurden. Neben den religiösen Begriffen gehörten im neunzehnten Jahrhundert auch staatlich-nationale Vorstellungen zu diesem Gedankengebäude. Für den folgenden Satz wären wir sowohl im Kaiserreich als auch in der Nazidiktatur unweigerlich im Gefängnis gelandet: Vaterland war eine hohle Ersatzheimat für hungernde und obdachlose Menschen. Vaterland ist so etwas wie ein Schokoladenweihnachtsmann, schön anzusehen, aber leider hohl und nicht aus bester Schokolade, jeder, der ihn begreift, beschmutzt sich die Hände. Wer das nicht glaubt, begebe sich nach Verdun und sehe sich dort eine Million Soldatengräber an. Auch in ihnen liegen als überflüssig erachtete junge Männer, die bedenkenlos in den Tod gejagt wurden, jeder von ihnen hatte einen Schokoladenweihnachtsmann namens Vaterland in der Hand. Die Geschichte wäre übrigens nicht besser ausgegangen, wenn wir, die Deutschen, den ersten Weltkrieg gewonnen hätten. Kaiser Wilhelm ist der erste Populist gewesen, ein Politiker, der etwas sagt, wovon er zwar nicht überzeugt ist, von dem er aber glaubt, dass ein Großteil der Bevölkerung es schnell glauben oder annehmen wird.

Hiob, die antike Gestalt, über die Gott und der Teufel eine Wette abschließen, ob er bei ihn beinah vernichtendem Leid weiter an seinen Überzeugungen festhalten wird. Die Überzeugungen werden nicht näher benannt. Wir warnen aber: mit Gottestreue ist immer auch Systemtreue, Nationalismus, Auserwähltheit, Wahrheitsmonopol, Rechthaberei gemeint. Bekanntlich verflucht Hiob das alles und bleibt doch in diesem Gedankengebäude.

Ganz anders Grünspan: in der Wahl seiner Mittel bleibt er ein Kind der Zeit, ist er der Aktivist des Zeitgeists: statt zu Argumenten greift er zur Pistole. Man muss aber auch seine Lage sehen, er war gerade einmal siebzehn Jahre alt und völlig mittellos. Er hatte nicht nur kein Geld, sondern auch nichts anderes außer sich. Der Inhalt seiner Botschaft, und deshalb wurde sie zum Fanal, ist aber: dass man seine Brüder nicht in die Staatenlosigkeit, Mittellosigkeit, Mutlosigkeit, Lebenslosigkeit schicken kann. Wir kennen heute das Ziel dieser Reise: Auschwitz. Er hat es wohl geahnt.

Wir brauchen nicht nur eine neue Welt, die sich unter unseren Augen nicht von selbst, aber doch von den meisten von uns nicht gewollt, schafft, sondern wir brauchen auch ein neues Gedankengebäude, ein Zelt der Brüderlichkeit, des Zusammenhalts und des Trostes. Ein Trost für die rechtskonservativen Nostalgiker: ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER ist nicht nur die schönste Zeile der Europahymne, sondern auch von dem Dichter, den man im neunzehnten Jahrhundert für den deutschesten der Deutschen hielt: Schiller. Aber er war kein fahnenschwingender Losungsproduzent, sondern ein lebenshungriger Großintellektueller, der größte Stilist deutscher Sprache.

2    [Hiob]

Hiob gehört zu den großen Erzählungen, die uns gleichzeitig bewegen und trösten sollen und auch können. Hiob sieht seinen Erfolg übertrieben groß und sein Leid erdrückt ihn. Sein Erfolg ist – mit Ausnahme seiner Kinder – Haben und sein Leid ist Krieg und Krankheit, also für die Zeit, in der er lebt: Sein. Er findet sich auserwählt für übergroße Not und Ungerechtigkeit. Aber er ist nicht auserwählt. Keiner ist auserwählt. Da er, wie wir alle, alles richtig gemacht hat, trifft ihn jede Strafe zu unrecht. Überhaupt: warum glaubt er denn, dass er bestraft wird. Oder: glaubt nicht jeder an seine Unschuld? Würde jeder die Schuld bei sich suchen, wären die Täter schnell gefunden.

 Jede Strafe ist un[ge]recht. Die spiegelnden Strafen waren bloße Rache, sie vermehrten das Leid, statt es zu vermindern. Auch heute noch glaubt eine knappe Mehrheit, dass Strafe gerecht sei. Daraus, dass die Untat ungerecht ist, folgt nicht, dass die Strafe gerecht sei.  Gerecht wäre vorbeugendes Verhindern der Untat und liebevolle Wiedereingliederung des Täters. Wenn eine Wiedergutmachung am Opfer nicht möglich ist, so erhöht sie doch die Bilanz des Guten in einer Gesellschaft. Das universelle Tötungsverbot muss noch mehr durch   Waffenverbote und -ächtung unterstützt werden. In Europa und Japan nimmt die Zahl dieser Untaten drastisch ab, während sie in Ländern mit Armut und Waffen erschreckend  und fast antik hoch bleibt.

So ist es auch mit dem Lohn, dem Verdienst oder Gewinn, den man sich aus seinen Taten erhofft. Wir würden alle Hiob sozusagen überwinden, wenn wir es verstünden, Gutes zu tun, um es sofort zu vergessen. Stattdessen erwarten wir Dank und Lohn. Es schmerzt, wenn der Verdienst zum Bettler gemacht wird. Aber der wirkliche Gewinn liegt immer im Zugewinn an Seelenfrieden. All die dilemmatischen, schier unlösbaren Probleme der Menschheit, sie nähern sich mikrometermäßig ihren Lösungen, wenn wir anderen helfen, ohne zu fragen und ohne Lohn zu erwarten. Es gibt keinen böseren Verdienst als Finderlohn. Der Lohn der Treppe ist das oben, nicht noch etwas.

 Die höchste Instanz zur Beurteilung unseres Lebens ist Gott, aber er gab uns ein Gewissen. Und deshalb muss ein jeder Mensch mit seiner Schuld leben. Niemand kann sie ihm nehmen und niemand nimmt sie ihm. In den griechischen Tragödien, die zur gleichen Zeit entstanden wie das Buch Hiob, geraten die Menschen unschuldig in Schuld. Auch Hiobs Leid geht auf die Wette Gottes mit seinem Widersacher, dem Satan, zurück, liegt also nicht in Hiobs Leben. Viele Täter erschrecken vor ihrer Untat. Sie wissen nicht, wie sie dazu gekommen sind. Es gibt immer nicht nur einen Grund, warum etwas geschieht. Vielmehr benötigt man, um ein Ereignis zu erklären, mehr Gründe als man je finden kann. Das geht soweit, dass man eigentlich gar keine Warumfragen stellen kann: niemand kann sie beantworten. Zu groß ist die Masse der Gründe und Gegengründe, der Tatsachen und Rechtfertigungen.

 Wir müssen in diesem Geflecht von Taten und Untaten, von Schuld und Sühne leben, wir haben keinen anderen Ort als diese Welt. So gesehen gehören Hiob und Grünspan in die große Reihe der Märtyrer. Das sind Menschen, die standhalten, obwohl sie wissen, dass sie scheitern, unter der Last fremder Schuld zusammenbrechen werden, die     das auf sich nehmen, was andere ganz offensichtlich falsch machen. Aber die anderen sind das herrschende System, sie glauben erst recht Recht zu haben. In diesem Netzwerk von Taten und Untaten hat niemand recht. Der Fehler ist nicht die einzelne Tat, sondern das Bestehen auf ihr, das Rechthabenwollen, gefolgt vom Wahrheitpachten. Dann kommen schon die Kreuzzüge und dreißigjährigen  Weltkriege. Gott ist keine Burg, in der man Recht hat. Gott ist innen, nicht außen.

Das Leben folgt keiner Rechenkunst. Kein Kalkül ist möglich. Während der Pest müssen die Uhrmacher schweigen. Wir werden von dem, was wir Glück nennen, genauso überrascht, wie von dem, was uns Unglück scheint. Jähe Wendungen des Lebens sind genauso wenig vorhersehbar wie lange Strecken der Langeweile. Deshalb brauchen wir Hoffnung, Erzählung, Schlaf, Droge, Ablenkung, Trost. Die Hoffnung wird am meisten kritisiert, manche glauben gar, dass nur Narren hoffen. Hoffen hängt mit Wahrscheinlichkeit zusammen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn ist zum Glück genau so klein wie für den Blitzschlag. Die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass wir jemanden erfreuen können, ist groß, wenn wir nur genug dafür tun. Jeder hofft zurecht, dass er ein besserer Mensch werden kann. Niemand wird zum Narren, der hofft und harrt, erzählt und tröstet, schläft oder sich betäubt, wenn die Schläge des Schicksals zu hart scheinen. Wenn Sinus das Kreuz des Lebens ist, dann ist Cosinus die Lust des Strebens.

Das Leben ist kein Kalkül. Es hat demzufolge mit Zahl und Geld nichts zu tun. Das   Geld ist nur eine Projektion der Zeit, die wir zur Verfügung haben und für etwas ausgeben. Genauso wenig ist das Leben digital abbildbar, wenn uns das auch   Netz und Filme und Spiele immer wieder suggerieren wollen. Das Leben bleibt das Leben aus Fleisch und Blut, fragil, verletzlich, kostbar. Das Leben hat Würde und muss seine Würde behaupten, nur die Dinge haben einen Preis. Die besten Dinge aber sind die Geschenke, die Gaben, die ebenfalls keinen Preis, sondern eine Würde haben. Der schönste Satz, den ein Mensch zu einem anderen sagen kann, ist deshalb: du musst dich nicht bedanken, denn du bist das Geschenk. Das Leben ist kein Kalkül, und das einzige, was keine Inflation hat, ist das Wunder.  

Liebe ist die weiteste und größte Lösung aller unserer Probleme und unseres Schicksals. Sie eröffnet neue, weite Horizonte, weil sie sich anderen Menschen zuwendet.  Wenn die maximale Kommunikation dadurch zustande kommt, dass ein liebendes Paar in einem leeren Zimmer schweigt, dann schließt dies aber auch die gesamte Menschheit aus. Deshalb ist Liebe, wie jeder weiß, mehr als die individuelle Liebe zwischen zwei Menschen. Liebe, die die Menschheit einbezieht, ist Nächstenliebe oder Solidarität. Jedem Menschen ist das Kindchenschema eingeboren, viele haben das Helfersyndrom. Wer kalt ist, wird erfrieren. Wem kalt ist, wird geholfen. So funktioniert Gemeinschaft, ohne die wir nicht sein können. Gehe in ein fremdes Dorf irgendwo auf der Welt: man wird dir Tee bringen und deine Schuhe trocknen! Alles, was du brauchst, um keine Angst zu haben, ist Liebe, aber alles, was du brauchst, um zu lieben, ist, keine Angst zu haben. Liebe ist aber auch geben, ohne nehmen zu wollen. Nicht zufällig stammt einer der schönsten Sätze des Weltdenkens aus einer Liebestragödie: the more I give, the more I have. [1].

 Die tiefste Lösung aber für den Menschen ist der Glaube. Mit ihm und sich ist der Mensch allein. Wir glauben an etwas, das größer ist als wir, und wir bauen Häuser, die mehr sind als Schutz vor Regen und Sonne. Mit dem Tod aber können wir nur leben, weil wir nicht an ihn glauben. Es ist nicht wichtig, wie wir das, woran wir glauben, nennen, wenn es nur größer ist als wir selbst und die Summe von unseresgleichen. Hiob und Grünspan stellen sich einen Gott vor, den es nicht geben kann, der ihr Leben verwettet und verspielt. Das ist menschlich, aber nicht göttlich. Nur Ultraorthodoxe können sich den Teufel als Tatsache, aber den Frieden als bloße Metapher vorstellen. Tiefer Friede kommt aus tiefem Glauben. Das ist die Tiefe des Menschen. Glaube ist immer einsam. Gruppe dagegen ist Therapie und auch oft nötig. Die Frage, ob Hiob wirklich glaubt oder nur aus opportunistischen Gründen seinen Glauben bekennt, ist ebenso unbeantwortbar wie universell und unnütz. Wir wissen letztlich nicht, ob jemand, der sagt, dass er uns liebt, nicht sich und seine Befriedigung meint. Wir müssen es glauben, wir wollen es glauben, wir sollen es glauben. Aber genauso wenig wissen wir, wenn wir annehmen, dass wir glauben, ob wir uns nicht Vorteile bloß von der Einhaltung der Regeln, der Traditionen und Rituale versprechen. Wer – außer Grünspan – wäre kein Opportunist?

 Hiob ist die Parabel für die Inflation schlechter Nachrichten. Aber sind es auch schlechte Dinge? Ist Hiob zum Schluss nicht stark und demütig, und ist freiwillige Demut nicht der Stärke gleichzusetzen? Hiob belehrt uns, aber wir wollen ihm nicht nacheifern, im bösen nicht, aber auch im guten nicht. Aber jeder von uns kennt einen: der den Schmerz ausgehalten hat, der das böse Schicksal angenommen hat, genauso wie vorher das gute. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, der unser Leben verwetten könnte, wenn er wollte, und der den Weg jeder einzelnen Ameise vorbestimmt. Aber wir wissen und glauben, dass es unsere Aufgabe ist, nicht aufzugeben, wieder aufzustehen, dem Nachbarn zu helfen, Gutes zu tun. Es ist gleich gültig, ob wir die Aufgabe als von Gott gegeben annehmen oder mit der Muttermilch der Menschlichkeit in der Vatersprache der Güte aufgenommen oder sogar beides, das ist gleich gültig, wenn wir nur mehr tun als haben zu wollen und sein zu sollen. Wir müssen mehr sein wollen: Geber und Gabe gleichzeitig.

[1] Shakespeare, Romeo and Juliet, 2,2

3 [Grünspan]

Woher wusste er, dass seine Tat schon am nächsten Tag in den Schlagzeilen aller europäischen Zeitungen stehen würde? Die Zeit ist nicht nur manchmal reif für Erfindungen oder Kriege, sondern auch für Fanale. Nicht alle Fanale jedoch werden gehört und gesehen. Sein Fanal ist von den Nazis willig aufgegriffen, von allen anderen, Europäern und Amerikanern, aber ignoriert worden. Die Nazis hatten endlich einen Beweis und die anderen, wer weiß, sahen sich in einem Vorurteil bestätigt. Aber in welchem? Wir alle wissen heute, dass es eine Verschwörung der Menschen aus dem schtetl[1] nicht gegeben haben kann. Vielmehr ist Grünspan ein Vorbote der Schulversagergeneration. Allerdings zählt dazu leider auch Hitler. Während man früher als Schulversager keine Chance hatte, ist das Widersetzen gegen die Welt der Erwachsenen bei manchen ein Synonym für Innovation, die, wie im Falle Hitlers aber auch ein Rückgriff sein kann. Grünspan dagegen wollte ein Signal dagegen setzen, dass der Staat sich das Recht anmaßen kann zu bestimmen, wer wo und wann sein darf oder soll. Die Freizügigkeit gehört zur Demokratie wie die Freiheit überhaupt, die Selbstbestimmtheit und die Intimsphäre. Er sah etwas verletzt, was zum Menschen gehört, aber damals noch nicht Allgemeingut war. Die Länder, die nicht so antisemitisch wie Deutschland und Polen waren, öffneten sich aber auch nicht sofort und vollständig für den zu erwartenden Flüchtlingsstrom, sondern gaben den Deutschen insgeheim Recht: ein Jude aus Polen zu sein bedeutete damals nichts Gutes. Fügt man dann noch Frau und Linkshänder hinzu, werden alle Vorurteile durch den Namen Curie hinweggefegt. Grünspan wollte zeigen, dass es unrecht ist, dass man erst zweifacher Nobelpreisträger sein muss, um überall geduldet zu werden. Dulden ist auch das falsche Wort. Jeder Mensch muss überall ganz selbstverständlich sein, dann wird die Welt bewohnbar. Der Streit zwischen Freiheit und Ordnung darf nicht Menschen opfern. Loyalität schließt den Tod nicht ein. Hätte Grünspan die heute zugängliche Literatur gelesen, so hätte er wissen können, dass in diesem Sinne seine Tat auch ‚falsch‘ war. Selbst wenn Tyrannenmord als Ausnahme vom Tötungsverbot bestehen bleibt, so kann man sich nicht beliebige Projektionsopfer wählen. Töten ist immer falsch, aber die Schuld am Töten kann man jetzt nicht Grünspan aufbürden, der intelligent genug war, aber nicht genug Zeit hatte, darüber nachzudenken. Grünspan wollte nicht gezwungenermaßen staatenlos sein, aber auch nicht freiwillig tatenlos. In bezug auf die Wahl seiner Mittel ist Grünspan ein Opfer des Zeitgeistes, aber für das, was er tat, gehört er auf die Liste der Weltinnovatoren. Grünspan ist der Vorkämpfer gegen jede Willkür der Behörden, die schon Hiob und Hamlet beklagten und die auch heute noch so viel Schaden anrichtet, obwohl die Behörden wissen können, dass sie Diener und nicht Herrscher sind. Auch ist er das letzte mögliche Signal gegen den Racheimpuls, der in jedem von uns als archaisches Element steckt, dem von Goebbels schon einen Tag nach Grünpans Tat brutal und alttestamentarisch nachgegeben wurde, der aber für immer geächtet ist durch die Unverhältnismäßigkeit. Das Leid wird durch Rache immer verstärkt, vergrößert. Dagegen verbessert sich das Gesamtsystem, wenn man etwas für andere tut. Das gilt sogar auch für die Grünspan-Initiative. Denn wir wissen heute, dass man Menschen nicht hindern darf, dahin zu gehen, wohin sie wollen. Leben – und wieviel mehr fliehen – heißt aber immer Risiko. Man kann das Leben genauso wenig optimieren wie Märkte, Regierungen und Wasserströme. Auch dafür ist Grünspan ein Zeuge. Er ging mit fünfzehn Jahren ohne Schulabschluss von seinen Eltern weg und es ist ihm alles gescheitert, außer in die Geschichte als leuchtendes Fanal einzugehen. In dem Punkt ähnelt er Gavrilo Princip. Auf den wenigen Fotos, die es gibt, sieht er nicht glücklich aus. Er ist gerade von der französischen Polizei verhaftet worden. Glücklichsein scheint nicht der Sinn des menschlichen Lebens zu sein, nur zu leben, ohne etwas zu tun, aber auch nicht.

 Niemand von uns kann die Konsequenzen seines Handelns absehen, nur machen die meisten so wenig, dass man die Folgen vernachlässigen kann. Es wäre also fatal, wollte man die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath als voraussehbares Signal zum Holocaust deuten. Also etwa so: Hitler hätte sich nicht getraut sechs Millionen Menschen umzubringen, wenn Grynszpan[2] nicht vorher den Botschaftssekretär erschossen hätte. Das ist absurd, so kann es nicht gewesen sein, vielleicht war es nicht einmal so, dass die Nazioberen auf ein Signal gewartet haben. Dafür dass sie gewartet haben, spricht eigentlich nur der erste September 1939, wo sie den Anlass, das Signal auf perfide Weise selbst geschaffen haben. Auch zum neunten November 1938 kann man annehmen, dass Goebbels nachgeholfen hat, denn der Legationssekretär hatte außer den Schussverletzungen auch eine Krankheit, die er sich durch homosexuellen Geschlechtsverkehr zugezogen hatte. Wenn man ihn sterben ließ, und dafür spricht einiges, hatte man nicht nur einen Märtyrer mehr, sondern einen schwulen Nazi weniger. Indessen war Ernst vom Rath genauso wenig Nazi wie Grynszpan von der jüdischen Weltverschwörung beauftragt.  Vom Rath orientierte sich an seinem Onkel Köster, dem deutschen Botschafter in Paris, mit seiner kritischen Sicht auf die Nazis. Dieser Köster wurde wahrscheinlich von Hitler in Paris belassen, um dem Naziregime einen pluralistischen Anschein zu geben. Später wurde er ermordet. Grynszpan wurde von der Verzweiflung seiner ausweglosen Lage getrieben. Er hatte nirgendwo eine Aufenthaltsgenehmigung. Als er hörte, dass seine Eltern und Geschwister nach Polen ausgewiesen worden waren, kaufte er sich vom ersparten Geld eine Waffe und ging in die deutsche Botschaft. Wahrscheinlich hat vom Rath ihn empfangen, weil er das genau so sah. Grynszpan ist ein Vorkämpfer der Freizügigkeit. Eigentlich wollte er dagegen protestieren, dass seine Eltern in ein Land ihrer Unwahl abgeschoben wurden, er aber nirgendwohin konnte, denn er war auch keine Pole mehr, Deutscher schon gar nicht, in Brüssel zeitweilig geduldet, in Paris illegal. Er war ein Europäer aus Hannover, der sich nach Geborgenheit sehnte, denn als er nach dem Einmarsch der Deutschen zufällig frei kam, begab er sich in die Obhut der französischen Behörden. Er war kein Anarchist. Was mag er dann im deutschen Gefängnis und im KZ Sachsenhausen getan und gedacht haben? Er folgte jedenfalls der Strategie seines französischen Verteidigers, indem er darauf bestand, dass er gar nicht hätte ausgeliefert werden dürfen und dass er vom Rath aus homosexuellen Kreisen kannte. Das rettete ihn vor einem Schauprozess mit Todesstrafe. Rettete ihm diese Argumentation auch das Leben? Vielleicht war es aber noch ganz anders. Grynszpan hatte sich eine Waffe gekauft, um den deutschen Botschafter zu erschießen. In der deutschen Botschaft angekommen, traf er auf Rath, den er kannte und der sich das Leben nehmen wollte, weil er diese furchtbare Krankheit hatte. Rath riet ihm, ihn zu erschießen und den Botschafter zu verschonen. So haben sie beide in einem letzten Einvernehmen ihre Probleme gelöst. Wäre Grynszpan die Reinkarnation von Hiob, so hätte er überlebt. Er wäre vielleicht der US-Finanzminister geworden oder gewesen. Später glaubte er nicht mehr an Fanal und Rache, sondern an Worte. Er sagte zum Beispiel: Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meine. Er war in Satzkonstruktionen geflüchtet, denen niemand folgen konnte und sie deshalb lieber bewunderte als kritisierte. Er hatte erkannt, dass Zinsen, Schulden und Wachstum nicht nur rein quantitative Parameter sind, sondern auch durch die Qualität der dahinter stehenden Leistungen und Waren bestimmt sind. Das alles hätte er nicht wissen können, wenn er nicht an jenem siebten November den Mann erschossen hätte, der erschossen werden wollte, aber damit gleichzeitig das Fanal für die Würde des Menschen geliefert hat. Er war der moderne Hiob, der Hüter der Brüder.

[1] jiddisch für Ghetto        [2] polnische Schreibweise