WO WAREN 1967 DIE ACHTUNDSECHZIGER?

Nr. 225

Wir Menschen schwanken in unseren Erwartungen gern zwischen der Apokalypse und dem tausendjährigen Reich. Unsere historischen Emotionen und Dimensionen pendeln vom Minimum auf das Maximum und zurück. Als tausend noch eine große Zahl war, fielen die beiden Begriffe auch gern zusammen. Ein Hauptgrund für diese der täglichen Langeweile widersprechenden Vorstellung ist unser dichotomisches oder bipolares Weltbild. Wir sind immer die Guten, die anderen dürfen das Böse verkörpern. Unser Reich ist das Ende der Geschichte, alles andere muss und wird untergehen. Diese Sicht erzeugt Selbstgerechtigkeit und die schadet einer Idee immer mehr als der äußere Feind, den einzuladen wir so gerne verpassen. Statt sie einzuladen, werden die anderen, die auf der anderen Seite gerne als die Antipoden angesehen, die also nicht nur anders sind, sondern auch noch auf dem Kopf stehen. Diese ganze Feindrhetorik beruht auf dem Unterschied von Evidenz und Tatsache. Erst seit kurzem ist uns bewusst, dass wir Tatsachen nicht so leicht aufnehmen können, wenn überhaupt. Die Relativität von oben und unten hat es den damals herrschenden, ob nun bewusst oder unbewusst, leichtgemacht zu erklären, dass in Australien niemand leben kann, es sei denn, er sei vom bösen Geist besessen, es sei denn, die Erde ist eine Scheibe, es sei denn, die Berichterstatter lügen allesamt. Das war die Erfindung der Lügenpresse. Wir können nicht glauben, dass das, was wir sehen, nicht das ist, was ist, sondern nur das, was wir glauben. Unsere Gewissheit über oben und unten wurde zum ersten Mal erschüttert, als wir eine Milchkanne an unserem Arm herumschleuderten und die Milch nicht auslief. Aber es gibt keine Milchkannen mehr. Eine Karikatur über die europafressende Rothschildbank hat es immerhin schon bis in ein Sozialkundebuch (Autor der Karikatur: David Dees, Anstöße 2, 2012) des Klettverlages geschafft.

Seit vielen Jahren bedauern wird die Abschwächung des Rechtslinksschemas. Merkel wird die Zerstörung des Konservatismus, Schröder die Aufweichung der Sozialdemokratie vorgeworfen. Tatsächlich leben wir in einem reichen Sozialstaat mit Schützen- und Vertriebenenvereinen, mit rechten und linken Parteien, mit einer sehr großen Bandbreite von Meinungen und politischen Absichten. Die Wähler   wählen seit vielen Jahren die Partei oder die Parteien, die Beständigkeit versprechen. Aber Beständigkeit ist nicht identisch mit Konservatismus oder Sozialdemokratismus. Wählen ist nicht nur eine rationale, sondern auch eine emotionale, traditionelle, zeitgeistbelastete, flüchtige Entscheidung. Kaum einer prüft die Parteiprogramme oder die Kandidaten. Jeder, der auf Tatsachen schwören würde, wenn man ihn fragte, folgt hier dem nebulösen Gefühl von Sicherheit und Unsicherheit, von Bündnis und Nationalstaat, von Europa und dem Dorf, in dem seine Großmutter lebt.

1968, und die Jahreszahl ist auch eher Symbol als Tatsache, vollzog sich ein Wandel von der formal schon seit 1917 installierten Demokratie – oder jedenfalls dem Ende von fünf monarchischen Großreichen – zur wirklich gelebten Demokratie mit freien Wahlen, freier Presse, mit Emanzipation der Frauen und der Schwarzen, mit der Revolution und dem bittersten Konservatismus. Am 2. Juni 1967 wurde der schöngeistige Student Benno Ohnesorg in Westberlin von einem blindwütigen Polizisten erschossen, der sowohl Nazi, wie die Hälfte seiner Kollegen, als auch Stasi-Agent war und trotzdem das Denkschema von vor 1917 zu verteidigen glaubte. Ihn trifft der Vorwurf: Wenn wir die Schläger schlagen, sind wir die Schläger. Aber Benno Ohnesorg war kein Schläger, Randalierer, Revolutionär oder dergleichen. Eher war er die Ahnung von dem neuen empathischen, interessierten, hilfreichen Menschen.

Die Frage, die sich jetzt aufdrängt, nachdem genau wieder fünfzig Jahre vergangen sind, ist, ob die Welt sich wieder umkehrt, die Populisten, die Rechten, die Rechtskonservativen das Denken bestimmen werden.

Diese Frage kann niemand beantworten. Wieder kann man nur glauben, obwohl man glaubt, Tatsachen zu sehen. Aber wir wollen noch einmal auf 1917 und 1967 zurückblicken. Vielleicht haben 1917 mehr Menschen den Krieg für sinnlos gehalten als 1914, wo doch eine satte Mehrheit den Krieg als Lebensgefühl und legitime Methode verstanden hatte. Aber niemand hat auch nur im entferntesten geahnt, dass vier Kaiser  einfach von der Bildfläche verschwinden würden. 1967 hat selbst der sozialdemokratische Pfarrer als Bürgermeister von Westberlin die Weltordnung durch feinsinnige Kunststudenten gefährdet gesehen.

Niemand kann die Zukunft voraussehen. Aber das überlange Festhalten an veralteten Vorstellungen hat immer eher zum Gegenteil dessen geführt, was es wollte oder vorgab zu wollen. Dass es oft einfach um Macht und Geld geht, hat auch nicht zur Glaubwürdigkeit von Politik beigetragen. So wie wir nicht wissen können, ob etwas Tatsache, Meinung oder Ideologie sei, so können wir auch nicht wissen, ob jemand selbst an das glaubt, was er sagt. Wenn wir andererseits immer von Manipulation, Betrug und Verführung ausgehen, muss es ein Skript geben, das jemand kennt und ausnutzt. Aber das Leben hat kein Skript, noch nicht einmal feste Regeln. Ineinandergeschachtelt unterliegen wir biotischem Verhalten, das wir aber aushebeln können (‚Antibabypille‘), sozialem Verhalten, das wir aber manipulieren (Halluzinogene, Populismus) und einem informationellen System, das zwischen Omnipotenz und Infarkt schwankt, wie wir selbst. Vielleicht sind wir in den letzten hundert Jahren aber auch geschickter zum Vorausahnen geworden. Kriege scheiden als Konfliktlösung aus. Mauern dienen keinesfalls dem Handel, der die Voraussetzung zum Wohlstand ist. Teilen ist das Grundprinzip des Sozialstaats und sollte in der Welt nicht gelten? Empathie hat sich nicht nur theoretisch (Jesus, Gandhi), sondern auch praktisch als Basisverhalten bewährt, ebenso wie Emanzipation. Wir glauben heute nicht mehr an die Schädlichkeit oder Besessenheit der Antipoden. Wir sollten gewitzt genug sein, überhaupt gegen anti zu sein. Besonders Ideologien, die sich auf anti stützen oder stützten, haben sich nicht bewährt. Da alle Ideologien für die Macht missbraucht wurden, sollten wir sie überhaupt überdenken oder auf ein Minimum beschränken.

Rechts hebelte die Mitte aus und gebar Links. Links vergaß sich in Selbstgefälligkeit und gebar erneutes Rechts. Was kommt, wird weder links noch rechts sein. Bis dahin können wir schon einmal an alle Wände sprühen: Mr. Trump tear down this wall. 

CELANs TODESFUGE

Es kann ihnen und uns kein Trost sein, dass der Tod auch Meister aus anderen Ländern war, ihnen nicht, weil sie nicht auferstehen können von den Toten, uns nicht, weil unsere Vorväter die Untaten auf ihr und unser Gewissen geladen haben. Der Dichter entkam den einen Schergen und entkam den anderen Schergen knapp, aber er entkam nicht seinem Gewissen und seiner Erinnerung. Er wurde derjenige, der die törichte Frage für absurd erklärte, ob man nach Auschwitz schreiben könne, man müsse, war seine Antwort, man müsse nach Auschwitz schreiben, auf dass das nicht zu Verstehende gefühlt würde. Sein Gedicht wurde das berühmteste und auch das beste, aber der Preis dafür war sehr hoch: sein Leben.

Es wurde schon oft hineininterpretiert: der einzige Reim in dem Gedicht besteht aus den blauen Augen des Mörders und seinem zielgenauen Schuss. Vielleicht ist es Zufall, dass sich das Gedicht an dieser Stelle reimt. Was es zu einem großen Kunstwerk macht, ist der Gesang des schrecklichen Details, das Rezitativ der Trauer, die Banalität des bösen Briefeschreibers. Das Lager bestand nicht nur aus Schrecken und Tod, sondern auch aus diesen fortwährenden trivialen Befehlen: grabt schneller, grabt tiefer, grabt weiter an eurem Grab, eine Olympiade des Grabens, des Grauens und des Abgrunds. Dieses Gedicht zeigt, dass der Superlativ des Abgrunds nicht nur in der Größe des teuflischen Projekts lag, sondern auch in jedem einzelnen Opfer und jedem einzelnen Täter. Jeder Täter musste ein Maximum an Bösem in sich anhäufen und nach außen dringen lassen. Und jedes Opfer musste ein Maximum an Leid tragen und mit in das vor ihm liegende Grab nehmen. Darüber darf kein Gras wachsen, so nötig uns Gras sonst ist. Immer wieder gibt es Unmut darüber, dass wir, so lange danach, immer noch mit Verantwortung gestraft sind. Der Grund ist dieses unerträgliche Maximum an Leid, das die Opfer auf sich nehmen mussten. Jeder einzelne dieser Menschen hat ein Recht darauf, dass an ihn gedacht wird. In Löcknitz, einem vorpommerschen Städtchen, gab es nur zwei oder drei jüdische Familien, eine davon, die Familie Schwarzweiss, besaß das einzige Kaufhaus am Ort. Der letzte Besitzer hatte den heute peinlichen Vornamen Adolf. Eines Tages traf ich drei alte Frauen, und sie erzählten mir von dem Tag, an dem die drei Familien, voran Dolfi Schwarzweiss, aus ihren Wohnungen getrieben wurden, zum Bahnhof gehen mussten, nach Stettin gebracht wurden. Weiter wollten die drei Frauen nichts wissen. Wir wissen, dass nach Stettin das Todeslager kam, und aus dem Gedicht wissen wir, dass er, der Mörder, Briefe schrieb, dass Dolfi Schwarzweiss und seine Tochter Esther zum Graben singen mussten. Sie stehen im Totenbuch von Mecklenburg und in der Gedenkstätte Yad Vashem. Aber nur ihr Name ist erhalten. Als die Russen kamen, wurde gerade ihr Kauf- und Wohnhaus, in dem auch ein kleiner Betraum war, zerstört. Nichts erinnert mehr an die drei Familien von Löcknitz. Nur das Gedicht.

Dieses Gedicht ohne Satzzeichen, mit nur einem Reim, mit unerträglichem Refrain des Todes, dieses Gedicht lehrt uns, wie falsch es ist, immer noch die Sprache der Täter zu sprechen, nicht deutsch, das ist auch die Sprache der Opfer und des Dichters. Die Sprache der Täter sagt nämlich, dass dort nicht Menschen ermordet wurden, sondern angeblich eine bestimmte Gruppe von Menschen. Wer das betont, glaubt, wie wir wissen, an die Berechtigung seiner Morde. Aber wir? Wir glauben nicht an die Berechtigung zu töten. Wir lassen nur noch den Selbstmord und den Tyrannenmord als Ausnahme vom universellen Tötungsverbot bestehen.

Das ist nicht die Folge des Gedichts, wohl aber die Folge dieser Taten, und die hat dieses Gedicht zuerst und gültig beschrieben. Zu recht wird vom Wirtschaftswunder gesprochen, schon zu unrecht wird es nur westlich der Elbe gesehen. Aber ganz unrecht ist: warum wir nicht – oder zu wenig oder zu langsam – sehen, dass es nach diesem Krieg auch ein Moralwunder gegeben hat. Die Todesstrafe ist abgeschafft, der Krieg wurde für immer geächtet: Nicht der andere ist uns feind, sondern der Krieg. Nicht der Fremde ist  Ursache des Kriegs, sondern der Hunger.

Die Intoleranz steht am Pranger, alle Kinder und Jugendlichen lesen Rousseau und Kant, die Mündigkeit ist Verfassungsgebot, vielleicht am wichtigsten: alle fahren in alle Länder, also alles Fremde wird uns nah.

Fakt und Kontrafakt gehen in diesem Gedicht ineinander über wie im Leben. Wer will entscheiden, ob ‚das Grab in den Lüften’ die Metapher für das Undenkbare ist, oder das reale Bild verbrannter, zu Rauch gewordener Menschen, oder der ewige Ort, hoch oben, aller unserer Seelen?

Das Absurde kann nur im Absurden gezeigt werden, aber das Gedicht ist alles andere als surreal. Es heißt Fuge, weil es die stärkste Verdichtung des Grauens zeigt. Alle Mittel der Kunst werden ausgeschöpft, darunter erschreckend Neues, aber es liest sich trotzdem wie der Bericht eines Überlebenden. Tatsächlich hat sich Celan in die Rolle seiner Mutter versetzt, aus ihrer Sicht, die nicht überlebt hat, ist der Bericht. Er hat sich sein Leben lang Vorwürfe gemacht, dass er überlebt hat, sie nicht. Er war jung. Er ist zweimal weggelaufen, einmal vor den Deutschen, einmal vor den Russen, er, der so gut russisch konnte, dass er die Gedichte des erschossenen Mandelstam kongenial übersetzt hat und, wenn er betrunken war, russische Lieder gegrölt hat, mitten in Paris. Wie seine Heimat war er multilingual. Wie seine Heimat ist er untergegangen. Die Seine in Paris nahm ihn auf, nachdem der Pruth in Czernowitz ihn verstoßen hatte.

Eine Reihe von uns unbekannten Dichtern, die aber alle mit Celan bekannt waren, haben ähnliche Gedichte geschrieben. Celans Gedicht ist das dichteste, das deshalb zurecht das berühmteste wurde und er der berühmte Autor. Es ist schade, dass die anderen Dichter fast oder ganz vergessen sind (Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Immanuel Weissglas), aber das darf uns nicht hindern, Celan zu bewundern. Er selbst hat am meisten unter der von ihm bewusst gewählten – und von manchen Plagiat geschimpften – Intertextualität gelitten. Sein Gedicht ist eine Kompilation aus all den anderen Gedichten, aber auch das Denkmal gewordene Abbild des Schreckens. Besser als ein Geschichtsbuch lässt es uns fühlen (wer nicht hören will, muss fühlen), wie es wäre, wenn wir die Opfer oder die Mörder wären. Als einziger hat Celan es geschafft. Er litt auch darunter, dass dieses Gedicht in den Lesebüchern steht, aber da gehört es hin, zu uns.

ADENAUER ALS NARZISST

Nr. 223

Schon allein sein Dienstmercedes 300 C Langversion ist heute eine Freude. Mit ihm fuhr er 1958 zu General de Gaulle, seinen Dienstmercedes nahm er nach Moskau mit. Jeden Morgen fuhr er mit ihm auf einer Fähre über seinen geliebten Rhein. Als Adenauer vor fünfzig Jahren starb, war er schon ein steinalter Mann, der zweimal Witwer geworden war, drei politische Systeme überlebt und das vierte wesentlich mitgeprägt hatte. Er starb so gesehen mit einem guten Gewissen. Wie in einem Menschenleben, so ist es auch mit einem Land: hinterher kommt uns alles, was geschah, notwendig vor, richtig, schön. Das Leben wird erst nekrologisch logisch. Die Kunst des Lebens und Überlebens und damit auch der Politik besteht aber gerade darin, dass man nicht weiß, ob das, was  getan wird, sich auch als richtig und gut erweist. Ein schönes Beispiel ist das Werk von Adenauers östlichem Widerpart, die Mauer. Die Wirkung einer Mauer ist, umgekehrt wie das Leben, zunächst evident. Aber ob sich dann auch ein wirklicher Nutzen oder gar Sinn einstellt, ist bei der Berliner Mauer doch eher zu bezweifeln. Wäre sie sinnvoll gewesen, dann hätten wir Ostmenschen unser Schicksal angenommen. Da wir aber täglich in unseren Zeitungen lasen, dass morgen alles besser wird, waren wir zu Verzicht und Demut nicht bereit. Die bedeutendste Leistung von Adenauer dagegen ist eben jene Öffnung nach Westen hin gewesen, die ein paar Jahre später von Brandt durch die Öffnung nach Osten ergänzt wurde. Jahrzehntelang hatte es eine erbitterte Konkurrenz zwischen Frankreich und Deutschland gegeben, wirtschaftlich, kulturell, hegemonisch. Immer wieder fanden sich auf beiden Seiten des Rheins verbohrte Politiker, die den Zwist anheizten und zum Krieg reifen ließen. Drei verheerende Kriege mussten uns schwächen, bis sich Adenauer und de Gaulle in der wunderschönen Kathedrale zu Reims die Hände reichten. Schon lagerten vierhundert Journalisten mit Fotoapparaten und Schreibmaschinen an den geschichtsträchtigen Orten, aber noch wollten die Menschen Symbole und Metaphern sehen, Händedruck statt Großkonferenz. Es ist heute unvorstellbar, dass Europa damals von drei charismatischen Greisen geführt wurde: Churchill, de Gaulle,  Adenauer und auch Amerika bis 1961 einen greisen Präsidenten hatte, der noch dazu ein ehemaliger Fünfsternegeneral war.

Wahrscheinlich haben die Zeitgenossen etwas ganz anderes als größte Leistung Adenauers gesehen. Er reiste 1955 als erster westlicher Staatschef nach Moskau, um diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufzunehmen und die letzten 10.000 Kriegsgefangenen zurückzuholen. Beides gelang ihm nicht ohne Schwierigkeiten. Als die ehemaligen deutschen Soldaten, die sich entscheiden konnten, ob sie nach Ost- oder Westdeutschland entlassen werden wollten, in Friedland bei Hannover eintrafen, war Adenauer anwesend und eine alte, tränenüberströmte Frau versuchte immer wieder, ihm die Hände zu küssen. Adenauer wollte das einerseits abwehren, weil er ein eher distanzierter Mensch war, andererseits verstand er natürlich die Geste und genoss sie. Die alte Frau benahm sich traditionell, sie dankte – bildlich gesprochen – dem Bischof an Gottes statt, da kein Heiland greifbar war, griff sie sich den Verkünder. Politik und Religion waren immer noch eins, wenn auch diese unheilvolle Verbindung schon schwer beschädigt war. Wir können heute nur spekulieren, aber doch annehmen, dass sich die meisten Kriegsgefangenen und ihre Familienangehörigen für unschuldig hielten. Niemand lebt gern mit seiner Schuld. Wir Menschen suchen uns gerne unsere Perspektive aus: mal wollen wir lieber Täter sein, dann wieder scheint uns die Opferrolle angemessen. Aber das Kaninchen, das geschlachtet wird, eines der grausamen Bilder aus meiner Kindheit, tötet nicht noch vorher schnell tausend Mäuse oder Bienen, weil sie unter ihm zu stehen scheinen.

Das Politikverständnis von Adenauer war von dem Ulbrichts also nicht so sehr verschieden. Beide sahen sich als Heilsbringer, die nicht nur eine Botschaft, sondern auch Lösungen hatten. Beide misstrauten ihren Mitarbeitern und Nachfolgern. Beide waren autoritär. Beide waren alt. Warum aber der eine sein Land einmauern ließ, der andere es aber gerade im Gegenteil öffnete, ist eine der unsinnigen Warumfragen, die man nicht beantworten kann.

Erst einem anderen Bundeskanzler ist dann ein Paradigmenwechsel im Politikverständnis gelungen. Willy Brandt hat sich nicht als Heilsbringer gesehen, obwohl er nicht weniger charismatisch war als Adenauer, sondern als erster Bürger seines Landes. Er bat die Nachbarn um Vergebung für etwas, das er nicht mitgetan hatte. Er war übrigens in seinem ersten Wahlkampf, – im zweiten durch gentleman agreement nicht mehr, er verzichtete im Gegenzug auf die Nennung des Altnazis Globke -, von den Konservativen und auch von Adenauer persönlich sowohl als uneheliches Kind als auch als Vaterlandsverräter bezichtigt worden. Fast scheint es so, als ob in dem Wort Volksverräter dieser Ungeist wieder erwacht, wenn auch nur bei einer Minderheit. Auch der vorgestern inaugurierte 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird mit seiner patriotischen Argumentation nicht erfolgreich sein, wie sich schon mit den machtvollen Demonstrationen am nächsten Tag zeigte. Die Zeiten des Einmauerns und Händeküssens sind vorbei. Jeder Politiker braucht eine Portion Narzissmus, um den politischen Alltag zu überstehen, aber Narzissmus ist kein politisches Programm. Übrigens ist schon Narziss an sich selbst und überhaupt gescheitert. Narziss und Echo scheinen jedoch wieder auferstanden.

DAS MATHEMATIKGEBÄUDE

Nr. 222

für a.r.s

Wenn die Großstadt und das Wetter zusammenstoßen, erscheint es uns oft wie ein Weltuntergang. Dagegen versinkt die Großstadt nur in jener Umwelt, die sie auch ohne die Millionen Menschen wäre. Die Spatzen, Rehe und Wölfe, die früher hier lebten, erlebten auch die Inkommodität des Schneesturms. Aber sie waren nicht so viele, sie hatten keine Lobby, sie waren von Gott verlassen. Der Schneesturm hinderte an diesem Tag selbst die Kanzlerin Deutschlands, rechtzeitig zur Eröffnung der Elbphilharmonie nach Hamburg zu kommen. Wo früher die Rehe und Wölfe waren, ist jetzt das Einsteinufer, das man vor lauter Schnee kaum erkennen konnte. Ein graues Hochhäuschen, im Stil dem Anbau des Rathauses Wedding nicht unähnlich, ist vom Einsteinufer aus gesehen das Portal in die Welt der Mathematik und Informatik. Endlose Gänge, herauskopiert aus science-fiction-Filmen der sechziger Jahre, Automatiktüren, wenige Menschen, diese in sich versonnen und verschlossen. Man läuft mit dem Klischee im Kopf mit dem Kopf durch die offenen Wände. Tatsächlich gibt es keine bessere Metapher für die Offenheit der Gesellschaft, die einerseits ihren Ursprung zweifelsfrei in Jean Jacques Rousseaus Gedanken, andererseits ebenso zweifelsfrei in der Visionswelt John von Neumanns hat, als die Gänge und Übergänge, die Fenster, beinahe möchte man sagen windows, und sich von Zauberhand öffnenden Türen in einem Mathematikgebäude. Man kommt sich in dieser unwirklichen Welt wie Harry Potter und das verwunschene Kind vor, der Twitter als Zauber entlarvt, der keiner ist.

Das Äußere des Gebäudes verblasste an diesem Tag im Schneesturm, hat aber auch sonst schwer zu kämpfen gegen die Siegessäule, gegen die verblichene Königin Sophie Charlotte und den legendären Ernst Reuter, der aber auch lange nach Werner von Siemens kam, der nicht nur das Telefon, damals noch mit ph, als Kommunikationsmittel verbreitete, viele vergessen, dass dieses kleine Berlin, in dem noch vor kurzem die Wölfe am Einsteinufer heulten, der Beginn einer gigantischen technischen Umwälzung war, sondern auch die U- und die Straßenbahn mit Elektromotoren erfand und in die Geschichte losschickte, der irgendwie verlassen den Gebäudekomplex zu bewachen scheint; er hatte hier Vorlesungen gehalten. Von außen wirkt das Gebäude also wie eine ins Unscheinbare abgeglittene Mikroutopie. Innen finden es die angehenden Mathematiker, Informatiker und Ingenieure, die aber alle Siemens als Vorbild haben, etwas veraltet. Nun gibt es aber kaum ein Institut, vielleicht vom Elektronenbeschleuniger der Hamburger Universität abgesehen, in dem schneller gedacht wird, demzufolge die Dinge auch schneller veralten. Tatsächlich ist die Innenarchitektur, die man mit drei Strichen nachzeichnen kann, keineswegs veraltet. Sie ist vielmehr eine Bestandsaufnahme der Industriegesellschaft. Rote Rohre geben die Begrenzungen, Geländer und fast den gesamten Schmuck ab. Ein Dubai der Petrolchemie ist hier vorweggenommen, ein Spiegel und eine abgekürzte Chronik der Ruhrgebiete und Liverpools und Lothringens, insofern auch eine gesamteuropäische Wallonie, in der aber Zahlen produziert werden. Und diese Omnipräsenz der Industrie ist es, die unseren mathematischen Vordenkern wie eine abgelebte Vergangenheit vorkommt. Es fehlt nicht viel, und die Industrie der Rohre und Schlote scheint genauso lange her zu sein wie das Einsteinufer mit seinen heulenden Wölfen und flüchtenden Rehen. Das zweite Element ist sogar eine architektonische Vorwegnahme: nämlich Sichtbeton, von dem der finnische Architekt Pekka Einari Salminen sagt, dass er der Naturstein des einundzwanzigsten Jahrhunderts sei. Aus Sichtbeton bestehen hier anachronistische Alkoven, kleine Amphitheater und offene Gänge wie in der Kölner Philharmonie. Sie sind verspielt, aber nicht veraltet. Aber können wir wissen, wie diese Schnelldenker und Zukunftsplaner, die hier in babylonische Gespräche vertieft sind, fühlen? Nicht nur der Architekt muss eine Mitte finden zwischen Zeitgeist, Tradition und Zukunft. Schnell sind wir mit dem Urteil zur Hand, aber die Entscheidung liegt in den Tiefen der Jahrhunderte. Erst wenn ein Gebäude Jahrhunderte überstanden hat, können wir es groß oder klein nennen. Das gleiche gilt für Texte, Bilder, Musik, in Zukunft auch für Filme. Form follows function ist hier keinesfalls der Verzicht auf Zierrat. Davon zeugt auch das dritte Element, die Unzahl von Aluminiumlampenschirmen, die insofern inzwischen ein metaphorischer Witz geworden sind, als es in den Büros eine Unzahl von Bildschirmen gibt, ja das ganze Leben der Menschheit sich von den Lampenschirmen ab- und den Bildschirmen zugewandt hat. Form follows function heißt bei so einer dynamischen Institution wie der alten Charlottenburger Technischen Hochschule, der heutigen weltberühmten Technischen Universität, aber auch Abriss. So wird es wohl auch hier sein, weshalb ein Requiem benötigt wird, dessen Name – Ruhe – für Gebäude aber untauglich ist. Der drohende Abriss ist auch noch aus einem anderen Grund mehr als bedauerlich, hatten doch die Architekten einst versucht, mit einer fast ganz gläsernen Südfassade ökologische Vorstellungen vorwegzunehmen, Menschen wie Pflanzen in ein Glashaus zu setzen und dem Klima höchst schädliche Klimaanlagen zu verbannen. Dass ausgerechnet im kalten Deutschland, durch das die Schneestürme und Wölfe heulen, der Sommer ein Problem für diesen wunderbaren Versuch darstellte, ist bedauerlich. Aber Mathematiker sind nicht die einzige Sorte Mensch, die man nicht beauftragen kann, jeden Abend auf das Thermometer zu sehen und für die notwendige Nachtauskühlung die Fenster zu öffnen. In dem Moment sehen wir aus dem Fenster, draußen steht Siemens, der den Elektromotor nicht nur für Straßenbahnen dachte. Kann er uns unterstützen, nachts die Fenster zu öffnen und damit dem Bau und seiner Idee zum Fortbestehen verhelfen?

Dem Zeitgeist zu widerstehen heißt ja nicht nur, durch den Schneesturm mit Sandalen zu gehen. Ein Balance aus Funktion und Tradition ist schon schwer genug. Die bildliche Vision zum Beispiel eines Schiffes muss die Elbphilharmonie mit dem Gesundbrunnencenter teilen, einer Mall für eher Arme. Wer sich über Kosten aufzuregen angewöhnt hat, solle, nebenbei bemerkt, sich klarmachen, dass die achso teure Elbphilharmonie, ein Palast des Wohlklangs und der Bildung, gerade einmal so viel gekostet hat, wie ein Kriegsschiff (Fregatte vom Typ F125) oder zehn Eurofighter. Aber auch die Balance aus Funktion und Vision ist schwerer herzustellen, als man im ersten Moment glauben mag. Auch Visionen können sich nur aus Bildern der Welt, wie sie ist, speisen. Gebäude sind eher wie Fotografien ein erstarrter Moment, nicht ohne Dialog, aber ohne substantielle Fortentwicklung. Natürlich passt sich ein Haus seinen Bewohnern oder Nutzern an, aber sein Fundament sollte es lieber nicht antasten. Selbst Raum und Klang kommen, wie in der Elbphilharmonie, nicht sofort überein, brauchen den Dialog, den Kompromiss, das taktile Feingefühl. Überhaupt sollte man mit voreiliger Kritik vorsichtiger umgehen. Viele Dinge und Gedanken erschließen sich erst spät, manche sogar erst, wenn sie bereits vergangen sind.

Was hatte ich eigentlich im Mathematikgebäude zu suchen? Nichts, ich hatte die vergessene Brotbüchse eines Zahlenmagiers und Visionärs gefunden und sie ihm gebracht. Kinder sind das beste, was man machen kann.

Das Mathematikgebäude der Technischen Universität Berlin wurde von Georg Kohlmaier und Barnabas von Sartory (1927-2000) entworfen, der hier in einem kleinen Dorf begraben liegt und an den ein Kunsthof erinnert.

siehe auch baunetz vom 25.11.2015

RASSENWAHN

 

Nr. 221

Seit Himmler deutscher Innenminister war und die angestrebte Rassenreinheit des deutschen Volkes verkündete und für seine SS auch anstrebte, gibt es schwarze Deutsche. Seit Hitler Oberbefehlshaber der deutschen Armee war und die Erweiterung des angeblich knappen Lebensraumes versprach, sind Breslau und Stettin polnisch. Trotzdem gibt es immer noch Politiker, die davon schwatzen, dass Deutschland Deutschland bleiben muss. Wenn man nach fünfzig Jahren zum ersten Mal die Stätten seiner Kindheit wieder aufsucht, dann kann man gut verstehen, was es heißt, dass eine Sache gleichzeitig sich treu bleibt und sich verändert. Das Haus, das nicht gepflegt wird, verfällt, das Haus aber, das in einem historischen Zustand konserviert wird, steht im krassen Gegensatz zu seiner Umgebung. Wenn wir das Schloss Versailles besuchen, versetzen wir uns ins siebzehnte Jahrhundert. Im Spiegelsaal sehen wir in blinden Spiegeln den ersten deutschen Kaiser und alle deutschen Fürsten. Sie haben sich selber vertrieben, indem sie den ersten Weltkrieg – zum Glück – verloren. Wir wollen uns nicht vorstellen, wie sich ein verführtes Volk, das einen solchen Krieg begeistert zu beginnen sich bestimmen ließ, als Sieger aufgeführt hätte. Noch einmal, diesmal aber schon entgeistert, ließen sich unsere Vorfahren bewegen, nicht nur in den Krieg, sondern auch in den Völkermord zu ziehen, ein Wort, das auszusprechen sich so viele scheuen. Es läuft einem auch kalt den Rücken herunter, wenn man es ausspricht. Wiederholt sagten wir schon: es kommt zum Glück weniger darauf an, wo man herkommt, viel wichtiger ist es, wohin man gehen will und auch tatsächlich geht. Das Europa von 1950 bis 2015 ist die Antwort auf all diese unsinnigen, unmenschlichen und gottlosen Kriege. In diesem Bruch von 2015 zeigte sich, wie unsinnig es ist, wenn man von einem Ende der Geschichte ausgeht, wie es Hegel und Francis Fukuyama wohlmeinend annahmen. Keine Geschichte hat ein Ende, auch die Geschichte nicht. Die Geschichten (stories) gehen weiter, weil sie gelesen werden. Die Leser leben und bringen in dieses Leben ihr Wissen und ihre Gefühle und ihren narrativen Akkumulator ein. Und die Geschichte (history) hat kein Ende, weil die Menschen das Gute und das Böse nicht widerspruchslos annehmen. Zwar gibt es in jeder Diktatur eine Kommodierung, eine Anbequemung sogar an die offensichtlich falschen Regierungsmethoden . Aber es gibt in jeder Demokratie auch einen Widerstand auch gegen die offensichtlich guten Verhaltensweisen. Die Widerständler können schon nicht mehr ertragen, dass sich ihr Land gerade in einer Hochkonjunktur befindet, keine Inflation, kein Außenhandelsdefizit. Trotzdem muss Merkel weg. Die follower des Autokraten nehmen dagegen jede Schmach und jede Unbequemlichkeit hin. In Istanbul fällt der Strom aus, die Inflation steigt und wird bald die Zehnprozentmarke erreicht haben, auch in dem Punkt scheint Russland Vorbild zu sein, der Bürgerkrieg weitet sich jetzt nach den Kurden auch auf den IS aus, mit dem es vorher eine Art Stillhalteabkommen gegeben zu haben scheint. Trotzdem ist Erdoğan der Stolz der Türken.

Ein Teil des an sich natürlich berechtigten Widerstands, hier unterscheiden sich Demokratie und Diktatur fundamental, kommt aus der Vergangenheit, die selbst dann verklärt wird, wenn sie, statt einfach zu verschwinden, unter brachialem Lärm zusammenbrach. Die Widerständler halten überlang an Prinzipien oder Erscheinungen fest, die offensichtlich in der Gegenwart nicht mehr gebraucht werden. Oder wozu brauchen wir das Gefühl, dass Breslau, das im vorigen Jahr mit großem Erfolg Kulturhauptstadt Europas war, eigentlich eine deutsche Stadt ist?

Heute endet eine Ausstellung der ‚Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen‘  im Kronprinzenpalais, die gefördert wurde vom Bundesinnenministerium, das aber ausdrücklich auf einen Beschluss des Bundestages verweist. Und das ist auch notwendig, denn die Ausstellung ist sowohl technisch absolut gestrig. Wie in den fünziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden Fotos auf Stellwände gezogen, Stellwand nach Stellwand, immer ein altes Foto und ein neues Foto. Aber schlimmer noch ist der Inhalt. Der Titel ist irreführend du führte mich fälschlich in diese Ausstellung, denn er lautet: ‚Verschwunden. Orte, die es nicht mehr gibt‘. Ich hatte also an Orte gedacht, die zum Beispiel durch den Braunkohleabbau verschwunden sind. Aber auch sie sind nicht eigentlich verschwunden, denn sie leben in den Erinnerungen ihrer einstigen Bewohner fort, manchmal wurde die Kirche umgesetzt, der Friedhof. Gemeint sind aber Orte, die heute zu anderen Ländern gehören. Inwiefern zum Beispiel Stettin verschwunden ist, konnte die Ausstellung nicht erklären. Ich kaufe hin und wieder in Stettin ein, habe im vorigen Sommer eine sehr schöne Weiterbildung über den Vergleich der beiden wiederaufgeblühten Städte Greifswald und Stettin gemacht. Meine Kollegen waren begeistert und überrascht. Da ist nichts verschwunden.

Ich vermute, dass so ziemlich jeder Mensch weiß, warum diese Städte, Dörfer und Landschaften heute nicht mehr zu Deutschland gehören. Nicht aber die Ausstellung. Sie gibt folgende ‚Ursachen des Verschwindens‘ an: ‚Entvölkerung, Kriegszerstörungen, Grenzziehungen, Entfernen von Symbolen, Kirchenfeindlichkeit und Atheismus, Preussenhass [originale Falschschreibung] und Klassenkampf, Enteignung und Planwirtschaft, städtebauliche Neuordnungen, selektiver Wiederaufbau‘.  Nicht der Krieg war schuld, den Deutschland begonnen hatte, sondern der falsch geschriebene ‚Preussenhass‘? Nicht der Rassenwahn unserer Vorfahren war schuld, sondern der Atheismus der Feinde? Es gibt keine Rassen und was Himmler und Hitler da anstifteten und unsere Vorfahren ausführten, war kein Wahn, sondern leider Wirklichkeit.

Wenn wir aber diese Wörter nicht aus unserem Wortschatz entfernen, wird der unselige Geist weiter, wenn auch nur heimlich und marginal, über uns herrschen. Allerdings darf man den Wortschatz nicht administrativ ändern, dann erscheint den potentiellen Widerständlern die Demokratie als Diktatur und der Autokrat als Problemlöser.

Diese Stiftung, so jedenfalls legt es die Ausstellung nahe, ist immer noch freiwillig und sogar mutwillig und wider besseren Wissens im Gefängnis veralteter Vorstellungen. Der einzige Lichtblick in diesem muffigen Gestern war ein Film über einen in Polen verbliebenen deutschen Bauunternehmer, der in  Raciborz  das Eichendorffdenkmal ausgegraben hat, in der Ruine des Eichendorffschlosses in Łubowice eine Gedenkstätte betreibt und Eichendorff als Dichter der europäischen Romantik sieht.

Der Mensch verändert sich, man mag das bedauern, unser Haus verändert sich, die Stadt, in der wir leben, ist morgen eine andere als sie heute war. Ein Land verändert sich auch, wenn es keinen Krieg gibt. Veränderungen sind die Ergebnisse des Generationskonflikts, von Einwanderungen und Auswanderungen, von Leben und Tod. Das Dorf Wallmow, hier gleich um die Ecke, ist zweimal komplett nach Amerika ausgewandert und dreimal komplett durch Einwanderer ausgetauscht worden, aber nicht durch Politiker, die das wollten und anordneten, sondern durch Wanderung, durch Migration, durch freie Menschen.

Jeder verteidigt seine Idylle. Es gibt keine Idylle.

HILFSSCHULE DER DIKTATOREN

 

Nr. 220

Die Schule der Diktatoren ist eine bitterböse Komödie von Erich Kästner, die 1957 in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. Sie handelt davon, dass verschwörerische Drahtzieher, so die höchst aktuelle Wortwahl, austauschbare Ersatzdiktatoren bereitstellen. Auch die Verschwörer sind austauschbar. So ist nichts real außer den Hintermännern. So kommt vielen heute die Welt vor und Kästner, der kettenrauchende Spötter, hätte wieder einmal recht gehabt. Dass man halbwegs begabte Schauspieler dazu bringen kann, die ziemlich dürftigen Stilmittel eines Diktators nachzuahmen, ist einleuchtend, aber warum lernen eigentlich Diktatoren nicht? Wie sind sie denn nach oben gekommen? In einer Demokratie wirkt es immer wieder verstörend, wenn ein völlig inkompetenter Mensch eine zeitlang eine Position einnimmt, die Fachkenntnisse voraussetzt. Man kann Kompetenz auch spielen, sagen Felix Krull und Tom Henks. Es gibt in der Politik also noch eine andere Dimension als die Kompetenz, und das ist die Loyalität. Auch der demokratische Politiker braucht Stimmen und Claqueure.  Der Diktator lebt allein von ihnen. DER SPIEGEL, der soeben seine siebzigsten Gründungsausgabe feierte, hatte zum Beispiel einen grinsenden Stoph mit martialischer Armeegeneralsuniform als Titel (29/1959) und fragt scheinheilig oder naiv: Was will der DDR-Verteidigungsminister. Wir wissen heute, dass er gar nichts wollte, nur nach oben. Er hatte einen schlechten Ruf, aber alles geschafft, nach dem Verteidigungsminister wurde er Ministerpräsident, dann Staatsratsvorsitzender, dann wieder Vorsitzender des Ministerrats. Er war für nichts verantwortlich und seine letzte Rede ging so: Fragen Sie Herrn Honecker. Dann trat er ab und starb. Allerdings bleibt er ein Muster für den ergebenen Parteisoldaten, der außer zustimmen nichts kann und muss. Man wird nicht umhinkönnen anzunehmen, dass auch heute Parteien, die zu lange regieren, dies nicht nur mit kompetenten Leuten tun.

Der Diktator kann nur überhaupt keine Gegenstimmen mehr ertragen, das mag in seiner Regierungspartei, die schon längst zu einem Abstimmungs- und Jubelverein verkommen ist, Sinn machen. Aber warum müssen alle Journalisten, Dichter, Lehrer, Staatsanwälte, überhaupt Regierungsbeamte verfolgt oder sogar erschossen werden? Vielleicht, erstens, sind die Diktatoren genau jene Politiker, die von einem bestimmten Teil ihres Volkes dazu auserkoren sind, den gewünschten Polizeistaat zu errichten. Es sind das die Menschen, die tatsächlich glauben, dass, als die Köpfe noch abgeschlagen wurden, weniger gemordet wurde. Faktisch ist es nicht so. Der Staat, der sich anmaßt, das eherne Gesetz zu brechen, erzeugt Gesetzesbrecher. Die Kriminalität sinkt, wenn das Gesetz und der Staat das Leben und die Würde des Menschen achten. Gerade die Gewaltverbrechen gehen, wie bei uns in Deutschland, krass zurück. Man kann ziemlich sicher sein, dass auch die Neubürger sehr schnell diesen Zusammenhang lernen werden. Verbrechen insgesamt sind allerdings weder durch den Polizeistaat noch durch sein Gegenteil zu verhindern. Die zweite Möglichkeit wäre, dass die Diktatoren intelligenter und gebildeter sind als gemeinhin angenommen. Dann könnte es sein, dass sie die Menschen nur glauben machen wollen, dass jetzt der Staat gekommen sei, in dem endlich alles rechtens und richtig sei. Mit Recht wird immer auch Gerechtigkeit verbunden, wobei übersehen wird, dass zum Beispiel die soziale Durchlässigkeit der Wohlfahrt und Bildung viel wichtiger ist als Gerichtsurteile. Der potentielle Delinquent ist immer in der Schule besser aufgehoben als im Gefängnis. Selbst bei Hitler, wenn man seine allerdings umstrittenen Gespräche mit Herrmann Rauschning zur Grundlage nimmt, könnte dieser zweite Fall vorliegen, wenn man nicht auch wüsste, wie er 1934 und 1945 gegen seine getreuesten Mittäter wütete. Stalin aber, der seine zweite Frau am Abendbrottisch erschoss und aus dem Fenster warf, scheint an die Allmacht der Strafe und Abschreckung tatsächlich und immer geglaubt zu haben.

Die dritte Möglichkeit ist, dass sie einfach und tatsächlich panische Angst hatten. Die hatten und haben sie tatsächlich, denn sie glauben, dass die Gegenseite, heute oft Gutmenschen genannt, zu ebenderselben Rache greifen wird, wenn sie die Möglichkeit dazu hat. Das passiert auch, wenn die Gegenseite gar nicht die Gegenseite ist, wie zum Beispiel bei Ceauşescu Weihnachten 1989. Viertens schließlich, dafür sprechen alle diese unsäglichen Biografien, kann es sein, dass die Diktatoren einfach keine andere Idee hatten und haben, als die ihnen zu Hause eingebläut wurde. Damit schließt sich der Kreis zur ersten Möglichkeit.

Wie kommt man ausgerechnet Weihnachten auf diese Gedanken?

E.T.A. Hoffmann hat eine der schönsten Weihnachtsgeschichten geschrieben, Nussknacker und Mausekönig. In dieser Geschichte versetzt sich der große Dichter und mit ihm seit genau zweihundert Jahren seine Leser in die Kinder, die zugleich die Protagonisten der Geschichte und der Geschichte in der Geschichte sind. Realität, falls es sie überhaupt gibt, geht mit der märchenhaften Fiktion ein perfektes Bündnis ein. Immer tiefer gelingt es der Erzählung, die möglichen Gefühle wirklich zu machen. Die Hässlichkeit wird zur Schönheit. Das sogar von Gneisenau und Scharnhorst gelobte Militärische der Erzählung wird zum Kinderspiel. Der Nussknacker gewinnt nicht nur den Krieg, sondern auch das Herz. Vielleicht ist es das, was die Diktatoren fürchten.

An Hoffmann ist es so faszinierend, dass er, während wir kaum unsere eindimensionalen Pflichten erfüllen können, neben seiner Tätigkeit als Kammergerichtsrat Kapellmeister in Bamberg war, Komponist, Bühnenbildner, Dichter und Karikaturist. Nur der erste und die letzten beiden Berufe kollidierten miteinander. Er bekritzelte in Preußen hochgeachtete und weit überschätze Akten, er machte sich über nichtswürdige Kollegen lustig. Schließlich wurde er, obwohl hochgeachtet, polizeilich verfolgt, sogar durch den Innenminister Kaspar Freiherr von Schuckmann persönlich. Hoffmann hatte in seiner Erzählung Meister Floh ein Wort (‚mordfaul‘) aus den Akten der Untersuchungskommission benutzt, das der Innenminister als Beweis für den geplanten Umsturz durch einen Studenten angesehen hatte und Hoffmann dadurch kannte, dass er widerwilliges Mitglied dieser Kommission war. Er hatte zum Beispiel in einem Gutachten den so genannten Turnvater Jahn, der später auch der Großvater der Nationalisten wurde, von rechtlicher Verantwortlichkeit freigesprochen, Gesinnung, meinte Hoffmann sehr heutig, sei keine Straftat. Aber Hoffmann wurde nicht nur vom Innenminister verfolgt, sondern auch von seiner Syphilis. Es war ein schrecklicher Wettlauf. Die Syphilis gewann, der Innenminister beschimpfte Hoffmann noch lange nach dessen Tod. Er, der Freiherr von Schuckmann, der Weihnachten 1755 geboren worden war, liegt heute in einer sehr schönen Gruft in Battinsthal in Vorpommern, die im Schinkelstil für ihn errichtet wurde. Man findet sie kaum. Hoffmann dagegen ruht in den Herzen der Kinder aller Altersstufen und aller Erdteile, wenn sie die wunderbare Geschichte von Nussknacker hören oder sehen, denn Tschaikowski, noch so ein gefährlicher Träumer, hat sie mit genauso wunderbarer Musik für ein Ballett versehen.