DAS RIGOROS ABSURDE BLAU

 

 

Nr. 345

 

Im Bosnienkrieg*, in dem wir bekanntlich den Bosniaken, den europäischen Muslimen, gegen den Hegemoniewahn der damaligen serbischen Führung unter dem Nationalbolschewisten Milosevic halfen, nahmen wir auch Kriegsflüchtlinge auf, deren Kinder bei uns Berufsausbildungen oder das Abitur machen konnten, während Vedran Smajlović mit seinem Cello die Nationalbibliothek in Sarajevo verteidigte. In Heidelberg ging der kleine Saša Stanišić zur Schule, und sein Deutschlehrer entdeckte sein Schreibtalent und förderte es in den Pausen im Biologieraum. Sein erstes Buch, WIE DER SOLDAT DAS GRAMMOFON REPARIERTE (2006), fiel schon durch seinen außergewöhnlichen Stil, seine anekdotische Struktur und sein fast antikes Pendeln zwischen Komödie und Tragödie auf. Seine Einordnung als bloß migrantisches Talent konnte er mit seinem zweiten Roman abstreifen, denn VOR DEM FEST (2014) spielt in dem kleinen uckermärkischen Dorf Fürstenwerder und zeigt nicht nur dessen Ostblockvergangenheit und Ossigegenwart, sondern auch die Allgegenwart der Migration. In Fürstenwerder wurde der Roman natürlich gefeiert und mancher hat vielleicht zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass ein Begebnis nicht durch ein Motiv, sondern durch tausende Beweggründe angeschoben oder aufgehalten oder aufgehoben wird.

Sein dritter Roman, HERKUNFT, ist soeben erschienen und löst die ganze Familiengeschichte, die in Bosnien oft an ein einziges Dorf gekoppelt ist, als anekdotisches Material der Weltgeschichte auf. Die Marxzitate seiner liebenswerten, aber auch fragilen Mutter konterkarieren ebendiese Weltgeschichte fast karikaturistisch, während die touristisch-kitschige Verwandlung der Heimat- und/oder Herkunftsstadt Višegrad durch Emir Kusturica gerade mal eine einzige Zeile erhält. Es zeigt sich, warum Stanišić verrückte Geschichten erzählt oder seine Großmutter erzählen lässt: Geschichten sind verrückte Wirklichkeit. Geschichte ist verrückte Wirklichkeit.

Višegrad ist eine ganz kleine Stadt im Tal der Drina, das genauso malerisch-hinreißend ist wie die Täler der Neretva, in dem Yul Brunner einst den Partisanenkampf vorführte, oder der Bosna, Save, Miljacka und des Vrbas, in dessen Höhlensystem sich Partisanengeneral Tito verbarg. Zwei Brücken haben die Weltgeschichte abgebildet oder wegkatapultiert: die Brücke über die Drina in Višegrad, die von dem anderen Dichter aus dieser Stadt** zum Symbol der Kontinuität gemacht wurde, und die Lateinerbrücker in Sarajevo, auf der der erste Weltkrieg begann.

Viele Menschen glauben (wieder), dass sie ihre Herkunft oder Heimat auf einen topografischen Punkt, auf eine (ihre) Familie, auf eine Sprache reduzieren können. Stanišić dagegen zeigt in absurd komischen Szenen, wie unzuverlässig selbst das Autokennzeichen als Abbild einer vielbeschworenen Identität wird. Der Polizist an der Grenze, der auf das Käsesandwich scharf ist, hört den Akzent und sagt: ihr seid doch gar keine Kroaten. Der Akzent macht die Grenze durchlässig oder undurchlässig, nicht die Mauer oder der Zaun.

Andererseits gab es in Heidelberg, wo eine viel jüngere, aber nicht unähnliche Brücke den Neckar überschreitet, das Ghetto der Zugezogenen, dominiert von Russlanddeutschen, Polendeutschen, Jugos, wie man damals sagte, Deutschtürken und deutschen Levantinern. Heimat ist, wie wir am Beispiel des alten Zahnarztes Dr. Heimat lernen können, Freundlichkeit. Und auch das Ghetto hat einen Weg nach innen und einen anderen nach außen. Einerseits entsteht ein neuer, manchmal lebenslanger Zusammenhalt, andererseits ist es ein Sprungbrett, in dem es im inneren den Blick auf das wesentliche äußere lenkt. Berühmte Ghettoflüchter waren Rothschild und Mendelssohn, aber auch Armstrong und Baldwin. Stanišić studiert Slavistik und wird Deutschdozent am MIT. Indessen werden seine Eltern abgeschoben und gehen erst nach Amerika, dann nach Kroatien. Die Familie, die so vielen als ein heimatlicher Monolith erscheint, ist ein Schnipselhaufen. Die meisten Menschen können über ihre Großeltern nicht hinausdenken, davor ist der Monolith zum Chaos zerwürfelt. Aus Familie und Nation lässt sich meist keine Kontinuität gewinnen. Wer nun etwa das gebeutelte Bosnien mit dem angeblich stabilen Deutschland aufrechnen will, hat von Geschichte keine Ahnung. Auch wer andere beutelt, findet keinen Frieden. Außerdem ist das Leben der so genannten einfachen, also nicht besonderen Menschen immer kontinuierlicher als die National- oder Weltgeschichte. Am Kriegsmorgen und am ersten Tag im Frieden muss es ein Frühstück geben oder wenigstens ein Stück Brot am Mittag. Erst wenn man nicht mehr über das Essen nachdenken muss, kann man sich mit Demokratie und Bildung beschäftigen.

Indessen ist, im Buch HERKUNFT, der Pessimismus auch bis in die Berge vorgedrungen: Als die Familie, nun besuchsweise im Tal der Drina, hoch oben einen Friedhof besuchen will, trifft sie auf einen allein gebliebenen und insofern etwas verwahrlosten Verwandten, der den allgemeinen Irrglauben teilt und mitteilt: ‚Auf einen guten Menschen kommen hierzulande drei Verbrecher.‘*** Die Zahl der guten Menschen ist eine Dunkelziffer, obwohl die Taten transparent sind. Wir wissen die Zahl nicht, weil niemand von uns nur gut oder nur schlecht ist. Heute helfen wir, morgen brauchen wir Hilfe, übermorgen sind wir frustriert von der Hilflosigkeit. Aber die Zahl ist immerhin und konstant so groß, dass die Berufspessimisten und Staatsgläubigen das Wort Gutmenschen zum Pejorativ zu machen versuchten. Das ist im Gelächter der guten Menschen untergegangen.

Und hier, genau an dieser Stelle, liegt der Wert dieses so heiteren und gleichzeitig tiefgründigen Werks des deutschen Dichters Stanišić: dass er die von Fanatismus und Gleichgültigkeit zerwürfelten Werte in Figuren seiner Fantasie neu konstruiert. Der Wert ist die Freundlichkeit des Menschen. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, aber es begegnen uns genügend Menschen, um daraus ein ICH zu formen und ihm Leben einzuhauchen. Das ICH ist das Konzentrat der ANDEREN. Deshalb ist Dankbarkeit eine gute Reaktion, immer und überall.

Beim Lesen ahnt man es immer mehr: die eigentliche Bedrohung des Menschen ist nicht, dass er das Gute vergisst, sondern, dass er überhaupt vergisst. Die Großmutter in Višegrad, die man nun wieder besucht, aber zu selten besucht, die Mutter kann in Višegrad das Trauma nicht vergessen, die Großmutter vergisst wer wer ist, wer sie ist, wer die anderen sind. Man verlegt sie in ein als Hotel umgedeutetes Altenheim, von denen es in Bosnien bei weitem nicht so viele gibt, aber dann durchschaut ihr schwindendes Gedächtnis das Spiel. Vielleicht ist Demenz das Schicksal des Wohlstands, das Unglück oder auch das Glück.

Nach dem Epilog kommt, anders als im Leben, noch ein Spiel. Die Möglichkeiten menschlichen Seins und ganz konkreter Biografien, werden, ganz wie im Leben, als Nur-Möglichkeiten ausgelotet: lesen Sie weiter auf Seite sowieso, wenn Sie das oder das wollen. Das ist kürzer, aber amüsanter als bei Paul Auster****, wo man sich nacheinander durch die vier Varianten lesen muss.

Mein Fazit lautet: Am Ende kommt es auf die Brücken an, die Brücken über die Drina und den Neckar, die Brücken über der Drina in die Welt. Dahinter ist nur das rigorose, aber auch absurde Blau.

herkunft

*1992-1995, 100.000 Tote

**Ivo Andrić

***S. 272

****Paul Auster, 4321, 2017

DER DIESELZIGEUNER

Nr. 344

Für die unterschiedliche und sogar gegensätzliche Bewertung des gleichen Verhaltens durch unterschiedliche Menschen hatten schon die alten Römer einen schönen Spruch, natürlich in Latein*, dass nämlich, was Jupiter, längst nicht jedem Ochsen erlaubt sei. Die Spreizung der Komponenten wurde extra weit gewählt, um den Sachverhalt überdeutlich darzustellen.  Viele Menschen kritisieren die Privilegien der selbst ernannten Halbgötter, treten aber auch gerne nach unten. Als Norm erscheint uns immer gern der eigene Standpunkt.

Jeder von uns hat schon mindestens einmal den Weg der Moral verlassen, den kurzfristigen Vorteil dem bewährten oder anerzogenen Verhalten vorgezogen. Jeder kennt und nutzt Notlügen, aber wie beurteilen wir den erschwindelten Vorteil, die Vorspiegelung falscher Tatsachen zum Vorteil des Täters? Wir beurteilen sie nicht nach der Tatsache, sondern nach dem Täter.

Die großen deutschen Automobilkonzerne, die nicht nur tatsächlich gute Autos bauen können, sondern auch weltweit einen sehr guten Ruf haben, bauten bekanntlich in ihre Maschinen Software ein, die die Abgaswerte manipulierte. Es wurde ein geringerer Ausstoß an schädlichen Abgasen angezeigt, wenn das Auto auf dem Prüfstand stand. Die tatsächliche Emission war weitaus höher.  Damit wurden nicht nur die Kunden, also wir, getäuscht, sondern auch die Umwelt signifikant geschädigt, also wir.

Das ist alles bekannt und wird seit vielen Monaten zwar diskutiert, aber das Verhalten der Käufer weltweit ändert sich deswegen nicht. Selbst wenn Winterkorn ins Gefängnis muss, werden Volkswagen weiter rollen.

Die gleiche Tat, ausgeführt durch Romaclans zum Beispiel auf der Berliner Museumsinsel und auf dem Trierer Domplatz, lässt nicht nur die Empörung, sondern auch die Vorurteile wie Wellen des pazifischen Meers im Tsunami hochpeitschen.

Statt ihre Kinder und Jugendlichen in die Schule zu schicken und den längeren Weg über Bildung und Beruf zu wählen, um zu Geld und höherer Lebensqualität zu kommen, wählen sie den Betrug. Sie schädigen ganz offensichtlich ihre Kinder und uns, uns um bestenfalls zehn Euro. Der Betrug besteht darin, durch Sammellisten vorzutäuschen, dass man die Lage von ‚taubstummen‘ Kindern in Rumänien verbessern will. Der Begriff ‚taubstumm‘ ist bei uns nicht mehr üblich, genauso wie die Thermofaxdrucker, auf denen die Listen gedruckt sind. Das Spiel ist durchschaubar und funktioniert trotzdem, weil, wie Schopenhauer schreibt, das Mitleid die Grundlage aller Liebe ist. Das Bettelparadigma wurde geändert. Statt alte, hässliche und deformierte Typen in die Ecken vor Ruinen zu setzen, werden jetzt altruistisch wirkende schöne junge Menschen mit europäischen Sammellisten auf die Straßen und Plätze vor den Tourismusschwerpunkten geschickt.

Beide illegalen Einkommensquellen werden in Europa heftig diskutiert. Der normale Steuerzahler fragt sich, warum hier zwei Minderheiten erlaubt wird, ihn derart zu betrügen. Es ist natürlich nach wie vor niemandem erlaubt, seine Mitbürger zu betrügen oder auch nur zu betrüben. Aber angesichts der Anstrengung, die es kostet zu Wohlstand zu gelangen, überlegen sich eben viele Menschen einen möglichen kurzen und anstrengungslosen Weg.

Der Weg der Roma beharrt nur scheinbar auf dem Nomadentum. Aber inzwischen ist es unvergleichlich schwerer geworden, sesshaft zu werden. Traditionelle Wandergewerbetreibende wie Scherenschleifer und Kesselflicker sind durch die Industrialisierung genauso verschwunden wie die sesshaften Handwerker Seiler, Wagner und Küfer. Selbst vom Stellmacher hat sich nur der Name erhalten. Wenn Thomas Mann in seine Beschreibung des Bürgertums noch die schöne Formel aufnehmen konnte: Wir sind keine Zigeuner im grünen Wagen, so ist heute nicht nur dieser verschwunden, sondern auch das Bürgertum. Die Welt hat sich in den hundert Jahren seit Thomas Mann, den grünen Wagen und dem ersten Weltkrieg gewandelt. Das heißt nicht, dass alle Leerstellen ausgefüllt werden konnten. Dass jegliches nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen Preis oder seine Würde hat, vergessen wir nicht nur seit alters her gern, sondern zunehmend. Das Fiktive, mit dem wir uns umgeben, hat eine große rationale Kraft. Durch tausend und abertausend Filme und Filmschnipsel, Bücher und endlose Erzählungen sehen wir uns getäuscht. Zudem wissen wir nicht mehr, was wir glauben sollen. Am getäuschtesten sind wohl die, die von sich voller Stolz sagen, dass sie gar nicht glauben, dass glauben nicht zu ihrem Repertoire gehöre. Alberner und infantiler kann man nicht die Zeichen der Zeit übersehen.

So wie die Christen auf dem Konzil von Nicäa und der Volkswagenkonzern in bezug auf die Umweltempfindlichkeit seiner Käufer, hat ein Clanrat großer Romaverbände die Änderung eines Paradigmas beschlossen. Dahinter steckt auch eine Botschaft: der Clanrat will uns vielleicht mitteilen, dass auch er sein Volk gern in einer neuen Zeit ankommen ließe, wenn wir nur bereit dafür wären. Wir brauchen keine neuen Tiraden von abgestandenen Ressentiments, sondern wir brauchen einfache und klare Lösungen. Wir können nicht gerade den ärmsten und instabilsten Teil des neuen Europas mit einem Problem alleine lassen, das er nicht lösen kann, wirtschaftlich nicht und vor allem nicht mental. Zu tief sitzen nationalistische Vorurteile, wenn Wohlstand und Demokratie auf sich warten lassen. Die rumänische Sozialdemokratie ändert Gesetze und Verfassung, um ungestraft korrupt sein zu dürfen, aber wir verlangen vom einfachen Rumänen, dass er seine Tür für jemanden öffnet, den zu achten er nie gelernt hat.

In der Zeit, die wir für die Empörung über freche Roma verbrauchen, sollten wir die Programme der Parteien zur Europawahl lesen. Die Emission von CO2 lässt sich nicht durch Software verringern, die Bettelei auf unseren Straßen wird sich nur durch Bildung verhindern lassen.

Mein SATZ DES FLÜCHTLINGs gilt auch für unsere Schwestern und Brüder vom Volk der Roma: Wenn sich jeder Alteingesessene um einen Flüchtling und/oder einen Bettler kümmert, gibt es keine mehr.

In der Brückenstraße in Trier, vor der Nummer 10, verteilen zwei sehr kleine Romajungen Zettel mit einem Bild von Winterkorn und der folgenden Aufschrift und halten die Hand auf:

Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit, wie mein Bauch vor der Leere. Für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß, für 300 Prozent existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf die Gefahr des Galgens.

Karl Marx, MEW, Band 23, Seite 788 [Dieses Blatt kostet einen Euro.]

*quod licet iovi, non licet bovi

ALLE BESCHRÄNKUNG BEGLÜCKT*

 

Nr. 343

Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die Übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen… SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Kapitel 31, Großherzog Wilhelm Ernst Ausgabe, Leipzig 1917, S. 1157

Man kann jeden Satz zur Rechtfertigung seiner eigenen Beschränktheit missbrauchen, aber dadurch heben sich die Schranken nicht auf. Vielmehr sehen wir das ganze neunzehnte Jahrhundert  damit beschäftigt, die Schranken der dichotomischen Betrachtungsweisen zu überwinden. Schranken und Hürden werden so mobil wie der Mensch selbst. Mit dem Pferd verschwindet auch das Joch als realer Gegenstand und als Metapher. Allerdings darf man sich den Fortschritt nicht linear vorstellen, als einen sanften Hügel, auf dessen Spitze der Olymp wartet und das Ende der Geschichte. Hegel, dem wir das so ausgearbeitete Fortschrittsmodell verdanken, wohnte am Kupfergraben, während Schopenhauer um die Ecke in der Dorotheenstädtischen Straße versuchte, der hegelschen Dominanz dadurch zu entgehen, dass er seine Vorlesungen auf den gleichen Zeitpunkt legte. Da konnte man nun hören, dass der Mensch nicht zu seinem Glück geboren ist. Nur wer von einer solchen Glücksvorstellung ausgeht, und sei sie auch nur am Ende des Berges erreichbar, wird die Welt voller unüberwindbarer Widersprüche finden. Und was ist dann leichter, als zu einfachen Gegensatzpaaren zurückzufinden.

Schopenhauer und später auch Nietzsche sind als Zeitgenossen missverstanden worden. Nietzsche verdankte diesem Missverständnis seinen Ruhm und seinen Wohlstand als Bestsellerautor. Beide fanden sich in den Tornistern der Leichen von Langemarck und Verdun. Aber beide meinten nicht, dass es zwischen den Eigentlichen und den Übrigen eine Entscheidung oder gar eine Entscheidungsschlacht geben würde oder auch nur geben könnte. Unter den Eigentlichen, von Schopenhauer Genie im Sinne des Sturms und Drangs seiner Lehrer genannt, von Nietzsche gar Übermensch, sein Vater, der schwächliche Pfarrer schwärmte vom preußischen Leutnant als gewissermaßen gezüchteter Idealfigur, verstanden die beiden wohl eher den fitten Leser.

Sowohl Fitness als auch Bildung durch Lesen sind unendliche, universale und multiple Tätigkeiten. Man ist zwar Leser, aber jeder Leser weiß von der unendlichen und jeden Tag wachsenden Menge Lesestoff. Mit jedem neuen gelesenen Buch erschließen sich tausend ungelesene. In jedem Buch steckt eine ganze Welt. So wie der Leser vor einem Berg Wissen, Deutung und Erzählung steht, so muss der Sportler jeden Morgen neu anfangen, seinen einerseits perfekten, andererseits nie fertigen Körper zu trainieren und zu formen. Jeder Dorfschullehrer weiß, wie schwer die beiden zu vereinen sind. Schopenhauer und Nietzsche haben sozusagen die letzte Elite beschrieben, um sie zu überwinden.

Der neue Mensch ist nicht zu konstruieren, schon gar nicht im Rückgriff auf die Vergangenheit. Die Beschränkungen sind zu durchbrechen oder wenigstens mobil zu gestalten, wie eine Bahnschranke, auch sie ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Allerdings müssen wir mit dem Unglück leben, das wir uns selbst geschaffen haben, indem wir als Ideal das Unendliche sehen, nicht das beschränkte Endliche.

Es ist völlig unverständlich, wie die Partei der Staatsgläubigen und Zeitungszitierer sich ausgerechnet auf Schopenhauer und Nietzsche berufen will, die das Gegenteil dessen waren, was jene anstreben. Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen, schreibt Schopenhauer in den Aphorismen zur Lebensweisheit, ist der Nationalstolz. Er ist das Substitut einer gewesenen oder nie gewordenen Persönlichkeit, das Glück der Beschränkten. ‚Jede Nation spottet über die andere, und alle haben Recht.‘ Das schlimmste Unglück ist es aber, nicht weiter zu lesen. Die meisten berühmten Zitate haben eine Fortsetzung: Ein Deutscher, schreibt Nietzsche, ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie tut. Doch dann fährt er fort: denn er gehorcht, wo er kann.** Er gehorcht den Regeln und Führern, den Traditionen und Gesetzen, den Vätern und den Müttern; und wenn der Schutzmann sagt: gibs auf!***, dann trollt er sich in sein selbst verschuldetes Gefängnis. Und diesen hässlichen Deutschen gibt es überall auf der Welt. Aber es gibt, zum Glück, wenn schon nicht glücklichmachend, auch Schopenhauer .

 

*Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Leipzig 1918,  V, 6

** Nietzsche, Morgenröte, § 207

*** Kafka

DAS TRIER SYNDROM

Nr. 342

Wenn unter der Porta Nigra, der durch Ruß und Dreck geschwärzten einst römischen Pforte Schulklassen oder Rentnergruppen stehen, dann gibt es mindestens vier Arten von Geschichten, die entstehen. Zuerst ist natürlich die faktenbasierte Geschichte, so wie es wirklich war, nur dass das niemand weiß. Auch unsere Fakten sind zum größten teil Annahmen, für die viel spricht. Evidenz und Wahrheit halten sich die Waage, und angesichts dieses Stadttors und des kommenden Karfreitags drängt sich die berühmte Frage des römischen Gouverneurs Pontius Pilatus auf: Was ist Wahrheit. Er war schon ein typischer Bürokrat, so wie es sie heute millionenfach gibt, und deren Existenz uns, bei aller Notwendigkeit, auch den Hauch der Verzweiflung eingibt. Ein Bürokrat kennt die Lösung, aber tut nichts dafür oder er kennt die Lösung nicht und tut alles dafür. Zu seiner Verteidigung kann er nicht nur seine Notwendigkeit hervorbringen, sondern auch die Vorliebe der Menschen ihn zum Prügelknaben zu machen, gerade auch am Karfreitag. Dieses Schicksal teilt er mit den Lehren und den Polizisten, neuerdings sogar auch mit Rettungssanitätern und Notärzten.

Die faktenbasierte Geschichte steht im Lexikon, im Reiseführer oder wird von Reiseführern vorgetragen, aber nicht jeder hört zu. Deshalb gibt es daneben die empirische Geschichte, das was jeder empfindet oder denkt – eben erfährt -, ohne dass dabei irgendein Fakt stimmen muss. Zum Beispiel haben wir als Kinder den Weihnachtsmarkt als einen mythischen Ort erfahren, um später festzustellen, dass es ein Ort des billigsten Merkantilismus, aber der überteuerten Preise ist. Überhaupt, wenn wir später an Orte unserer Kindheit zurückkehren, zeigt sich, dass wir ein starkes empirisch gewonnenes Bild haben, das dann mit der Wirklichkeit kollidiert und von ihr überlagert wird oder sie überlagert.

Und drittens schließlich gibt es ein projiziertes Bild, eine Erwartungshaltung, welche schon vorher da ist und nun mit der Wirklichkeit oder mit dem, was wir für die Wirklichkeit halten, abgeglichen wird. Verschiedene Instrumente, zum Beispiel die Idealisierung oder die Verdammung, stehen uns nun zur Verfügung, um die beiden Bilder in Beziehung zu setzen. Schon der preußische Dichter Chamisso spielte mit dem Widerspruch zwischen dem Schatten eines Menschen und dem Menschen selbst.

Das vierte etwas schmuddelige Bild, das wir uns machen, ist das ideologisch geformte, ein Haus sei heilig, ein Volk auserwählt, eine Geschichte wahr und so und nicht anders. Denjenigen Zeitgenossen, die vorrangig diesem letzten Bild folgen, antworten wir mit König Salomo: JEGLICHES HAT SEINE ZEIT.

Nach der Legende wurde Trier 1300 Jahre vor Rom von dem Assyrerkönig Ninus gegründet, tatsächlich (=was wir wissen) kamen nach den Bandkeramikern die Kelten, die eine für sie neue Bildersprache durch die Berührung mit den Etruskern lernten. Die römische Gründung von Trier, 16 vor Christus, ist gut belegt, besonders auch durch erhaltene Bauwerke, deren äußeres uns innere Geschichten eingibt. Dann kamen die Franken, und bis heute sieht man die – durch alle Kriege und Missverständnisse ungetrübte – enge Verwandtschaft zum benachbarten Frankreich oder frankophonen Luxembourg.

Auf der anderen Seite des späteren Reiches fand viel später als in Trier eine Assimilation der verbliebenen Slawen statt, deren Spuren heute noch in jedem zweiten Ortsnamen zu sehen sind. Auch die über lange Zeit stattgehabte Zweiteilung ist mancherorts noch deutlich zu spüren, manche Dörfer haben vor dem Namen den Zusatz Groß- oder Klein-, Neu- oder Alt-, das ist: deutsch oder slawisch, manche Dörfer tragen sogar den Zusatz Wendisch-. Ein krasser Fall von Mehrfachbelegung ist Märkisch Buchholz, das ehemals Wendisch Buchholz hieß und das viel spätere Französisch Buchholz, das jetzt wieder ein beliebter Wohnplatz für wohlhabendere Neubürger geworden ist. Auf beiden Seiten des ehemaligen Reiches des Deutschen sind die Übergänge fließend, und niemand wünscht sich eine Grenze oder gar Kriege zurück.

Auch Häuser – und nicht nur etwa Bücher – haben ihr Schicksal. Die Konstantinsbasilika in Trier, davon abgesehen, dass sie keine Basilika nach der Definition ist, ist eben so wenig eine Kirche wie die Hagia Sophia in Istanbul eine Moschee. Eine Definition besteht nicht vor der Tatsache, sondern sie beschreibt mehr oder weniger Tatsachen oder was wir – nach unserem Kenntnisstand – dafür halten. Obwohl also dieser riesige und höchst bewundernswerte Bau einst eine Aula zum Ruhm der Kaiser und Unterkaiser war, wird sie heute als ältester Kirchenbau Deutschlands gefeiert. Beide Orgeln dieses nachhallreichen Baus stammen von Firmen der Ostgrenze des ehemaligen Reiches, Schuke in Berlin und Eule gar in Bautzen. Staunende Schulklassen aus dem nahen Luxembourg hören Gipfel französisch romantischer Musik und wachsen in ein Welt abnehmender Differenzen hinein.

Ebenso polyphon und ambivalent sind der romanische Dom und die angebaute gotische Liebfrauenkirche, die ungeschlossensten Räume, die man sich nicht denken kann. Häuser entstehen nur scheinbar nach einem Plan. Es gibt zwar einen Plan, auf dem steht siebenunddreißig  mal achtundzwanzig Meter, aber die Geschichten, die Wirkungen, den Nachhall des Nachhalls kann sich niemand ausdenken oder gar planen.

So wandert man durch scheinbar fremde Städte, aber in Wirklichkeit wird einem die Stadt, jede Stadt, immer vertrauter. Jede Stadt wird zur Heimat unserer Gedanken und Gefühle, so dass umgekehrt die tatsächliche Heimatstadt dagegen sich verwinzigt oder gar verschwindet.

Sieben dicke Mädchen aus Oldenburg fragten mich nach dem berühmtesten Trierer, der aber nach dem Abitur für Trier und möglicherweise auch seine Eltern und Geschwister  nichts mehr übrig hatte, weil er die Welt verändern wollte, indem er die Werke seiner Lehrer abschrieb und variierte. Seine späteren weltweiten Anhänger zeichneten sich gerade durch ökonomischen Unverstand bei philosophischer Rechthaberei aus. Jene sieben Mädchen aber liefen voller Zuversicht und mit großer Freundlichkeit durch diese schöne Stadt, die älteste Deutschlands.

Warum die Stadtverwaltung aber den unglücklichen Ökonomen zum bedeutendsten Sohn ihrer Stadt erklärt und nicht den Kaiser Constantin, der dem Christentum einen Bärendienst erwies, indem er es an Macht und Staat koppelte, das wissen die Götter. Constantin wäre eine der uneindeutigsten Persönlichkeiten der Geschichte, wenn wir nicht wüssten, dass es Eindeutigkeit nicht geben kann. Wie alle Politiker und auch manche Künstler war er ein Meister der Selbstinszenierung, des Bauens allzumal. Schon allein die Erkenntnis der strategischen Lage des späteren Istanbuls ist eine Großtat. Auch die Lösung von Streitigkeiten durch ein Konzil kann sich historisch sehen lassen.

Das sind die Geschichten Triers und aller Städte.