BESUCH BEIM KÖNIG

ein credo. mein credo.

rochusthal

Nr. 254

Es gibt Zitate, die kann man nicht mehr hören, so oft präsentiert sie uns jemand, als hätte er sie gerade erfunden. Besonders beliebt ist die Einleitung: Wie Einstein schon sagte, dann kommt, was wir alle schon wussten, dass zwei Dinge unendlich seien. Pfarrer zitieren in diesem Jahr wahrscheinlich so oft Luther, dass er für die nächsten fünfhundert Jahre verbrannt ist. Und auch des großen Friedrichs Satz, des Königs in Potsdam, dass alle nach ihrer Façon selig werden sollten, ist oft gehört worden. Als Kind dachten wir da eher an den Friseur, der uns fragte: Fasson?

Inzwischen ist auch seine Ermutigung hinreichend bekannt, dass ‚wir ihnen Mosquen bauen, wenn sie kommen‘. Friedrich, der sowohl oberster Bischof von Preußen als auch belesener und aufgeklärter Philosoph war, wollte vielleicht den Streit über den Aberglauben beenden, dass ein Mensch wüsste, wo und wie er die Zeit nach dem Tod verbringt. Dieser Streit…

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FRIEDENSPFLICHT

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Haben wir keine Feinde, weil wir keine Flugzeugträger haben, oder haben wir keine Flugzeugträger, weil wir keine Feinde haben?

 

Friedenspflicht ist ein Wort aus dem Streikrecht und bedeutet dort, dass nicht gestreikt werden darf, während die Tarifverhandlungen laufen. Merkwürdigerweise ist noch niemand darauf gekommen, dass das Wort auch eine weitaus allgemeinere Bedeutung haben sollte und könnte. Wir sind im täglichen Leben zum Frieden verpflichtet, weil wir nicht im Streit leben können. Staaten müssen miteinander auskommen, wenn sie nicht ihren Wohlstand gefährden wollen, ja, Wohlstand hat Frieden als eine Vorbedingung. Wer rüstet, findet kein Ende. Rüstung ist immer unersättlich, weil sie auch stündlich veraltet. Die Spuren der Rüstung wirken lange nach, sind sozusagen nachhaltiger als befürchtet. Zwischen Prenzlau und Stettin gibt es im Wald ein Rüstungsdepot der Wehrmacht, das aussieht, als hätte man es gestern verlassen. Im schönen Wald bei Neustrelitz, der den Geist der Königin Luise von Preußen atmet, die dort ihre schönsten, aber auch ihre letzten Stunden verlebte, spürt man die Hangars der Atomraketen mit dem martialischen Namen SS-20. Die Antwort darauf, den amerikanischen Stützpunkt Ramstein, gibt es heute noch. Übrigens entstand er, als die Wehrmacht Teile der Reichsautobahn als Start- und Landebahn nutzte. Rüstung kommt also immer zurück, wie ein mathematisch gesteuertes Schicksalssystem. Ramstein ist die Reinkarnation der V-Raketen aus Peenemünde. Das V stand, man erinnert sich nur mühsam und widerwillig, für Vergeltung. Vergeltung hat nach einer zu langen Karriere bei den rachsüchtigen Menschen endlich ausgedient.

Die Europäische Union befindet sich offensichtlich in einer Sinnkrise, nicht etwa in einer Wirtschaftskrise. Selbst die Jugendarbeitslosigkeit der südlichen Länder ließe sich nach deutschem Vorbild wenn nicht bekämpfen, so doch wesentlich entzerren und lindern. Nur in Berlin werden OSZs geschlossen. Wir sollten diese Sinnkrise nutzen, um der Union einen Entwicklungsschub zu geben, der ihr gleichzeitig den teilweise verloren Sinn wiedergeben kann.

  1. Alle Länder der Union stellen keine Waffen mehr her und beteiligen sich nicht mehr am Waffenhandel. Natürlich sind die Waffen nicht schuld an Krieg und Mord, aber sie tragen zu einem sozusagen effizienten Mordsystem bei. Deutschland beteiligt sich glücklicherweise seit über siebzig Jahren nicht mehr an Kriegen und Kriegshandlungen. Die Zahl der Tötungsdelikte geht drastisch zurück. Dies ist gleichermaßen der humanen Rechtsprechung gedankt. Deutsche Waffen können beträchtlichen Schaden anrichten und sie tun das auch, aber der Schaden in unserer Exportstatistik ist wahrlich gering. Waffenexporte machen weniger als ein Prozent unserer Exporte aus, was ungefähr fünf Prozent Weltmarktanteil Da wir aber nach den USA und Russland und neben Frankreich und China einen der vorderen Plätze im Welthandel mit Waffen belegen, wäre die Signalwirkung eines deutschen Verzichts beträchtlich. Jeder weiß, dass Deutschland einmal hochgerüstet war und den zweiten Weltkrieg begonnen und immerhin fünfeinhalb Jahre lang geführt hat.
  2. Die Union tritt aus der NATO aus, bleibt ihr aber assoziiert und freundschaftlich verbunden und beteiligt sich an Friedenseinsätzen mit UNO-Mandat finanziell und logistisch. Für Katastropheneinsätze und andere humanitäre Aufgaben wird ein gesamteuropäisches Berufsheer geschaffen. Für einen Übergangszeitraum bleibt das Raketenabwehrsystem der NATO mit Zentrum in Ramstein bestehen.
  3. Waffen werden auch im Inneren mittelfristig geächtet. Das Gewaltmonopol des Staates wird einerseits gestärkt und verstärkt durchgesetzt, andererseits langsam entwaffnet. Die Landespolizeien verfügen ab sofort über keine Waffen mehr. Die Bundespolizei konzentriert sich auf Gewaltbekämpfung und unterhält bewaffnete Sondereinsatzkommandos, deren Verwendung jeweils parlamentarisch kontrolliert wird. Das Ziel ist gewaltfreies Assekuranz- und Verantwortlichkeitsdenken.
  4. Die Medien, Kunst, Kultur, Unterhaltung und Schule verpflichten sich, zunehmend und bemerkbar auf militaristische, rassistische und gewaltverherrlichende Inhalte zu verzichten. Da jedes Verbot wie Gewalt wirkt, müssen wir den freiwilligen Verzicht stärken.
  5. Alle Autoren schwächen den Glauben an Hierarchien und Institutionen, Zeichen, Grade, Kreuze, Siege, Feinde, Verschwörungen, Alternativlosigkeiten und Monokausalitäten, Strafen und Technik. Diese Liste kann von jedem und jeder ergänzt, korrigiert, umgestellt werden. Statt dessen sollten wir uns gegenseitig ermutigen, wieder an das Gute, an den Menschen und all die Lehren und Imperative zu glauben, die im Laufe der Menschheitsgeschichte gedacht und gefühlt wurden. Der Glaube an Gott ist immer auch ein Glaube an Menschen, der Glaube an Menschen ist immer auch ein Glaube an Gott, an das Transzendente, das uns verbindet. Warum sollte nicht, nachdem Kunst und Kommunizieren einen solchen Aufschwung genommen haben, auch das Denken und das Vertrauen, wie das Glauben in den verschiedenen, langsam zusammenwachsenden Gemeinschaften, gestärkt werden können?
  6. Die Union nimmt jedes Jahr Flüchtlinge auf und integriert sie in die gesellschaftlichen Systeme der Mitgliedsländer. Dabei sollte man weitgehend individuell vorgehen, den Menschen als Menschen sehen und nicht als Zahl. Dies sorgt für die ständige Korrektur unserer Sichten auf die Welt, die Menschen und die Union selbst. Empathie ist die wichtigste Menschensicht und Menschenpflicht. Als Nebeneffekt dürfen Flüchtlinge auch von den zuständigen Gremien und Experten als Wirtschaftsfaktor einbezogen werden.

Wir bleiben heute ausnahmsweise einmal konkret.

VIRALE VIRENGEGNER

 

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Jetzt kann ich mir besser vorstellen, wie die Naturapostel barfuß durch die europäischen Städte zwischen den Weltkriegen liefen und von den Erwachsenen belächelt, von den Kindern verspottet wurden. Aber sie wollten vor dem warnen, das wirklich eintraf: der sinnlos wachsende Konsum und die Entfernung von der Natur, aus der wir stammen und ohne die wir nichts sein können, außer nichts. Gestern keifte eine Virengegnerin einen ganzen Wagen eines Regionalexpresses zusammen, weil, wie sie meinte, wir alle Lakaien der Merkel- und Gatesdiktatur seien. Dabei verdanken wir alle Gates die – zugegebenermaßen monopolisierte – Kommunikationstechnik. Als ich dann durch die Chausseestraße lief, hörte ich die Menge blöken, nicht aufgebracht, eher heiter, mit der Heiterkeit der Sieger der Geschichte, das hat hier in dieser Gegend schon einmal eine Partei von sich geglaubt. Vom Erscheinungsbild, viele Regenbogenfahnen und alternativ gekleidete Mittelaltermenschen, war die Menge zunächst nicht eindeutig zuordenbar. Das hätten auch vegane Radfahrer sein können. Aber als die ersten Reichskriegsflaggen auftauchten, die ersten Antimerkelcartoons, die ersten deutsch-amerikanischen Fahnen, die Antiviren- und Antiimpfsprüche, war es klar, wer da marschiert. Trotzdem ist und bleibt es bemerkenswert, dass man sich, wie einst die Nazis, die kommunistische Lieder umdichteten, die Insignien des Gegners aneignet, um dessen gedankenlose Mitläufer zu den eigenen Mitläufern – gestern sogar wörtlich – zu machen. Eine alte Frau, die mir vergeblich einen Antiimpfaufkleber aufkleben wollte, lachte laut und verächtlich auf wie eine Hexe im bösen Märchen. Und dieses Siegerbewusstsein kommt wahrscheinlich allein durch die falschen Zahlen. Da eine halbe Million zunächst angekündigt war, die dann durch die Veranstalter selbst auf 10.000 herabgezoomt wurden, das ist schon ein kühner Sprung ins Nichts, fantasierten eben viele Teilnehmer von 800.000 Menschen und der unmittelbar bevorstehenden Machtübernahme, möglicherweise durch Attila Hildmann als Reichskanzler mit sofortiger Wiedereinführung der Todesstrafe.

In einem ganz leeren italienischen Restaurant konnte ich darüber nachdenken, dass so viele Menschen, etwa 17.000, so viel Geld und Kraft für eine so sinnlose Sache auszugeben bereit waren. Ist es der Überfluss an Freizeit oder der Mangel an Kreativität, der sie in die Sprechchöre einstimmen lässt. Sie beklagen, dass ihnen die Freiheit genommen wurde, die sie doch aber anscheinend nur dazu benutzt haben, bis zum Überdruss Massenmedien zu konsumieren.

Die vielen Neuigkeiten in der Welt führten zu neuen Massenmedien. Die neuen Massenmedien dagegen führten zu immer mehr als Neuigkeit und Sensation aufgebauschten Ereignissen. Jede Inflation, auch die von unsinnigen Nachrichten, führt letztlich zur Insuffizienz des Systems. Obwohl wir alle in der Schule den sparsamen Gebrauch von Massenmedien auf der einen Seite, von der Verlässlichkeit der Demokratie und der Bürokratie auf der anderen Seite gelehrt bekommen, hat der Glaube daran inzwischen tiefe Risse bekommen. Die Streitfrage ist nur noch: wie viele Menschen sitzen in dem Riss?

Ich glaube auch nicht an eine bloße Wiederherstellung einer als vollständig gedachten Demokratie. Denn nichts ist vollständig, wie sollte es da gerade eine so bewegliche und zerbrechliche Sache wie die Demokratie sein? Genauso wenig war und ist es wünschenswert, dass nach der Corona-Krise alles wieder so wird, wie es vorher war. Nein, wünschenswert ist, dass wir die Chance der Krise zu einem Aufbruch nutzen: es ist also möglich, weniger zu fliegen, es gibt die Solidarität zugunsten einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe, es gibt nach wie vor ein großes und berechtigtes Vertrauen in staatliches Handeln.