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Jetzt kann ich mir besser vorstellen, wie die Naturapostel barfuß durch die europäischen Städte zwischen den Weltkriegen liefen und von den Erwachsenen belächelt, von den Kindern verspottet wurden. Aber sie wollten vor dem warnen, das wirklich eintraf: der sinnlos wachsende Konsum und die Entfernung von der Natur, aus der wir stammen und ohne die wir nichts sein können, außer nichts. Gestern keifte eine Virengegnerin einen ganzen Wagen eines Regionalexpresses zusammen, weil, wie sie meinte, wir alle Lakaien der Merkel- und Gatesdiktatur seien. Dabei verdanken wir alle Gates die – zugegebenermaßen monopolisierte – Kommunikationstechnik. Als ich dann durch die Chausseestraße lief, hörte ich die Menge blöken, nicht aufgebracht, eher heiter, mit der Heiterkeit der Sieger der Geschichte, das hat hier in dieser Gegend schon einmal eine Partei von sich geglaubt. Vom Erscheinungsbild, viele Regenbogenfahnen und alternativ gekleidete Mittelaltermenschen, war die Menge zunächst nicht eindeutig zuordenbar. Das hätten auch vegane Radfahrer sein können. Aber als die ersten Reichskriegsflaggen auftauchten, die ersten Antimerkelcartoons, die ersten deutsch-amerikanischen Fahnen, die Antiviren- und Antiimpfsprüche, war es klar, wer da marschiert. Trotzdem ist und bleibt es bemerkenswert, dass man sich, wie einst die Nazis, die kommunistische Lieder umdichteten, die Insignien des Gegners aneignet, um dessen gedankenlose Mitläufer zu den eigenen Mitläufern – gestern sogar wörtlich – zu machen. Eine alte Frau, die mir vergeblich einen Antiimpfaufkleber aufkleben wollte, lachte laut und verächtlich auf wie eine Hexe im bösen Märchen. Und dieses Siegerbewusstsein kommt wahrscheinlich allein durch die falschen Zahlen. Da eine halbe Million zunächst angekündigt war, die dann durch die Veranstalter selbst auf 10.000 herabgezoomt wurden, das ist schon ein kühner Sprung ins Nichts, fantasierten eben viele Teilnehmer von 800.000 Menschen und der unmittelbar bevorstehenden Machtübernahme, möglicherweise durch Attila Hildmann als Reichskanzler mit sofortiger Wiedereinführung der Todesstrafe.
In einem ganz leeren italienischen Restaurant konnte ich darüber nachdenken, dass so viele Menschen, etwa 17.000, so viel Geld und Kraft für eine so sinnlose Sache auszugeben bereit waren. Ist es der Überfluss an Freizeit oder der Mangel an Kreativität, der sie in die Sprechchöre einstimmen lässt. Sie beklagen, dass ihnen die Freiheit genommen wurde, die sie doch aber anscheinend nur dazu benutzt haben, bis zum Überdruss Massenmedien zu konsumieren.
Die vielen Neuigkeiten in der Welt führten zu neuen Massenmedien. Die neuen Massenmedien dagegen führten zu immer mehr als Neuigkeit und Sensation aufgebauschten Ereignissen. Jede Inflation, auch die von unsinnigen Nachrichten, führt letztlich zur Insuffizienz des Systems. Obwohl wir alle in der Schule den sparsamen Gebrauch von Massenmedien auf der einen Seite, von der Verlässlichkeit der Demokratie und der Bürokratie auf der anderen Seite gelehrt bekommen, hat der Glaube daran inzwischen tiefe Risse bekommen. Die Streitfrage ist nur noch: wie viele Menschen sitzen in dem Riss?
Ich glaube auch nicht an eine bloße Wiederherstellung einer als vollständig gedachten Demokratie. Denn nichts ist vollständig, wie sollte es da gerade eine so bewegliche und zerbrechliche Sache wie die Demokratie sein? Genauso wenig war und ist es wünschenswert, dass nach der Corona-Krise alles wieder so wird, wie es vorher war. Nein, wünschenswert ist, dass wir die Chance der Krise zu einem Aufbruch nutzen: es ist also möglich, weniger zu fliegen, es gibt die Solidarität zugunsten einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe, es gibt nach wie vor ein großes und berechtigtes Vertrauen in staatliches Handeln.