WEGWEISER

Dadurch dass man manchmal einen veralteten und verstörenden Wegweiser findet, der auf eine Straße weist, die schon lange nicht mehr benutzt wird, die von einer Bahnlinie durchschnitten wird, die es seit hundert Jahren schon gibt und an der ohnehin nur ein einziges verlassenes Haus steht, dadurch glaubt man, dass die Wegweiser das Orientierungsproblem sind. Es ist aber eher umgekehrt. Die Wegweiser werden rechtzeitig gewechselt, aber die Wege bleiben noch lange Zeit bestehen. Dieselbe Sucht nach Gewohnheit und Vertrautheit lässt aber auch Wege ohne Wegweiser, gar ohne Erlaubnis oder im Widerstand gegen Weisungen entstehen.

Immer wieder kann man lesen oder hören, die DDR hätte den Menschen die Religion genommen. In der Tat war die DDR nicht religionsfreundlich. Aber der verordnete Atheismus der DDR traf ja doch wohl auf Menschen, die gerade massiv gegen das Tötungsverbot verstoßen hatten. Oder haben sie in Stalingrad gebetet? (Es ist noch schlimmer, sie hatten sogar Pfarrer dabei, die den Sieg der Mörder gewünscht haben.) Von dem gottlosen Attentäter in Paris oder Istanbul wird behauptet, er  sei ein radikaler Muslim. War dann der Eroberer von Stalingrad nicht ein radikaler Christ? Und ist unsere Empörung gegen diese Erkenntnis nicht nur aus unserer Vertrautheit mit dem Christentum, unsere Annahme, dass der Islam aggressiv sei, nicht nur unserer Unkenntnis geschuldet? Eine Milliarde Muslime sind jedenfalls offensichtlich keine Attentäter. Und natürlich sind die Deutschen, die in Stalingrad Massaker verübten, nicht als Christen dorthin gezogen. Aber dann ist auch der DDR-Atheismus nicht schuld an der Entchristianisierung. Die DDR hat weder wirtschaftlich noch kulturell wirkliche Spuren hinterlassen, aber sie, ein schwächelndes, von Moskau gehaltenes inkompetentes Regime soll eine Weltreligion gestürzt haben? Eine Religion, die verspricht, Menschen aus der Not zu befreien, muss sich nicht wundern, wenn niemand kommt. Es gibt gar keine Not mehr, aus der nur ein Gott erlösen könnte. Die Vorstellung, dass bitten und beten identisch seien, war schon immer falsch. Und Weihnachten, das vielbeschworene Wunder der Liebe, kommt nicht von allein, sondern nur, indem man auf Menschen zugeht. Wer Angst vor Menschen in Not hat, kann sich nicht als Christ oder Muslim oder Jude bezeichnen. Die höchsten Ziele, die wir anstreben können, Mensch zu sein und Liebe zu geben, sind ohnehin unabhängig davon, ob wir Christ, Muslim, Jude, Buddhist, Hindu, Zeuge Jehovas oder Hutterer, Marxist oder Anthroposoph sind oder waren oder werden.

Der Vorsitzende der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit, der gerade Recht und Gerechtigkeit zugunsten von zurückgekehrtem Nationalismus aufgeben will, hat seine Doktorarbeit bei einem Professor geschrieben, der die Vorstellung von Politik als Direktorat hatte. Genau diese Vorstellung versucht Kaczynski zu verwirklichen, obwohl er nicht nur kein Marxist, sondern natürlich Antikommunist ist. Außerdem hasst er aber Deutschland und Russland und alle Menschen, die sich ihm in den Weg stellen. Wenn er und seine Partei nicht regieren, dann, will er seine Landsleute glauben machen, wird Polen von einem deutsch-russischen geheimen Direktorium regiert. Liebt er Polen oder liebt er die Macht oder liebt er gar nur sich? Gewählt wurde er wegen der von ihm versprochenen Einführung des Kindergelds von 125 €, wir müssen vor unseren polnischen Nachbarn also keine Angst haben. Wegweiser, ob falsch oder richtig, kommen und verschwinden immer schneller als die Wege.

Auch bei uns in Deutschland tobt gerade ein Streit, nicht weil jemand den Weg weiß, sondern weil niemand den Weg weiß. Über Nacht scheinen alle Wegweiser umgedreht zu sein. In solch einer Situation werden immer die alten Fahnen und Wegweiser aus den Verstecken geholt. Die ganze Kraft wird in den Blick zurück gesteckt. Da bleibt kein Mut für den Weg ohne Wegweiser und ohne Wegweise. Wegweise gibt es nur alle hundert Jahre. Als Willy Brandt vor dem Denkmal des Warschauer Ghettos kniete, haben viele Polen das als Demutsgeste Polen gegenüber verstanden, viele Juden haben es als Schuldbekenntnis aller Deutschen genommen und die Deutschen waren erleichtert. Diese eine schlicht-emotionale Attitüde hat ein Tor in eine ganz neue Politik aufgestoßen, hat letztlich den gesamten Ostblock destabilisiert. Und wieviel Millionen Katholiken wird es geben, die gedanken- und gefühllos auf den Knien auswendig gelernte Gebete herunterleiern? Die millionenfach missbrauchte Attitüde kann zum einsamen Symbol, zum Wegweiser für ganze Generationen werden. Der selbstgewollten Demütigung des einzelnen, wenn sie Wegweise sind, kann die Ermutigung ganzer Völker folgen.

Ein Weg ist oft eine Chance und ein Wegweiser eine Hoffnung. Aber genauso oft gehen wir Irrwege, weil wir aberwitzigen Wegweisern folgen, die von früher hier stehen oder die der böse Wille aufgerichtet hat. Seit wir die rationalen Jahrhunderte erreicht haben, trauen wir uns selbst nicht mehr über den Weg. Wir misstrauen unseren Träumen und Emotionen. Wir haben nicht nur Angst vor dem Weg, wie unsere Vorfahren, sondern vor uns selbst. Wer Angst vor neuen Wegen oder neuen Weggefährten hat, lese das Schiffstagebuch des goldgierigen Kolumbus. Sein Ziel war nicht Amerika, sondern Vizekönig zu werden. Für wenige von uns gibt es keinen richtigen Weg, weil es gar keinen Weg für sie gibt.

Für die andern gilt die Weisheit des großen Gelehrten aus Basra, al Hariri (1054-1122), übersetzt von Friedrich Rückert (1788-1866):

WAS MAN NICHT ERFLIEGEN KANN, MUSS MAN ERHINKEN.

ALS GUT

1.1.2022

viele menschen leiden – behauptet oder tatsächlich – unter der als flut bezeichneten menge der informationen. nur wenige kommen scheinbar auf die idee, ihren fernseher einfach abzuschalten, früher riet ich sogar: aus dem fenster zu werfen, und soweit ich weiß, hat es einer meiner follower auch wirklich getan. stattdessen wird die sortierung, die sich schon bei den menschen nicht bewährt hat, auf die diversifizierten medien übertragen: man bekämpft den zeitgeist, weil man einen eigenen installieren will. alles andere wird zur meinungsdiktatur deklariert. als angela merkel mit einem großen zapfenstreich – der seinen ursprung in den trompetensignalen zur schließung der soldatenlokale hat – verabschiedet wurde, hat die ard zwei reporter und einen weiteren journalisten im sender damit beauftragt, ständig dazwischen zu quatschen, bis einem der eloquenten fernsehtypen auffiel, dass man wenigstens während der nationalhymne – als nationalistischem substitut der einstigen liturgie – nicht sprechen darf. daraus folgt: die so genannte flut besteht zu einem gutteil aus vorgestrigen ritualen.

nach der wahrscheinlich wirklich überflüssigen rechtschreibreform regen sich jetzt viele menschen über das gendern auf und merken nicht, dass sprache sich eben verändert, wenn die abzubildende welt sich verändert. ebenfalls kaum bemerkt wird dagegen, dass seit ungefähr 2016 – und ich weiß nicht ob durch oder einfach mit den flüchtlingen – alle menschen in deutschland ständig ‚alles gut‘ sagen. das ist einerseits sehr schön und beruhigend, man bittet um verzeihung und das gegenüber betont, dass nicht nur dieser lapsus verziehen, sondern gleich alles, alles gut ist. andererseits ist es eine floskel, hinter der mensch sich verbergen kann. die neubürger, deren sprachliche fähigkeiten erstaunenswert und erfreulich gewachsen sind, haben sich dieser formel bemächtigt oder sie gar geschaffen, indem sie ‚alles wird gut‘ und ‚alles gute‘ zu ALS GUT zusammengeführt haben. merkwürdig ist nur, dass gleichzeitig zwischen zehn und zwanzig prozent der menschen an dem land zu zweifeln begannen, das unter führung einer einst grauen maus aus templin-waldhof sturm um sturm umschiffte. aber auch die achtzig bis neunzig prozent litten, nämlich unter dem verlust oder dem wahrscheinlich vermeintlichen verlust der zehn bis zwanzig prozent.

ich wünsche uns allen ein jahr, in dem wir wieder an uns und das gute in uns glauben können. ich habe es nie besser gesagt, als in meiner rio reiser parodie: mach was dich kaputt macht ganz, ohne komma, weil es aus meinem einzigen gelungenen geburtstagsgedicht stammt. trotz der flut hat man ständig das gefühl, etwas sagen zu müssen oder etwas nicht gesagt zu haben oder etwas nicht gesagtes verpassen zu können. das wird man ja noch sagen dürfen. ich will es nur gesagt haben. die gedanken sind frei. als floskeln. als gut.

herzlichst euer/ihr

rst