DIE WAHRHEIT ÜBER RECHTS UND LINKS

Nr. 341

Für Journalisten und Ratgeberbuchautoren mag die Formel ‚Die Wahrheit über..‘ ein rhetorischer Trick sein, über den sie selbst lachen müssen, indessen gibt es sehr viele Leser, die von der einen, jetzt aber wirklich richtigen Wahrheit nicht nur überzeugt sind, sondern im Sinne des alten CREDO an ein unumstößliches Dogma glauben.

Ein in mittelmäßig prominenter Linker sagte neulich in einem Interview, dass die Kernthese der Linken, des Marxismus die Entfremdung sei. Den Gedanken der Entfremdung hatte der junge Marx von seinem Vorbild, dem alten Ludwig Feuerbach, entlehnt. Er besagt, dass Menschen in Verhältnissen leben, die sie von der Natur und ihrem Ursprung getrennt haben. Ein Landarbeiter, der noch eben verstand, woher die Milch kommt, zieht nur durch die Industrialisierung in die Stadt und baut oder tut etwas, das er nicht mehr versteht, wovon er aber trotzdem lebt. Heute lebt praktisch die gesamte Menschheit in mindestens zwei Welten, wir flüchten nicht mehr in Visionen oder die Utopien, sondern in Fiktionen. Weiter schreibt der linke Autor: Während Kränkung, die neue Grundthese der falschen Linken, subjektiv interpretierbar sei, ‚ist es für jeden erkennbar Ausbeutung…wenn der Fleischzerleger in einer Großschlachterei für einen minimalen Lohn arbeitet“*. Da ist er wieder: der Glaube an die eine Wahrheit. Zehn Millionen Menschen in Deutschland, weit mehr als die Linke Mitglieder oder Wähler hat, essen kein Fleisch mehr, weil sie die Massentierhaltung ablehnen. In dieser Zahl sind nicht diejenigen enthalten, die zu bestimmten Zeiten fasten, was wir, statt es permanent zu diskreditieren, uns alle zum Vorbild nehmen sollten. Es geht nicht um die Kränkung der Tiere, sondern um die Frage, wie weit wir die Würde der Tiere als unsere Schwestern und Brüder anzuerkennen bereit sind. Die Lösung des Problems der Tierwürde, der Billigproduktion überhaupt, liegt wahrscheinlich nicht in herkömmlicher linker Politik, offensichtlich gar nicht in Politik, sondern in einer neuen Ethik des Konsumverhaltens. Zu glauben, dass das Verhalten der Menschen nur durch Gesetze, Schule und Politik zu ändern sei, gehört ebenfalls in den Bereich der Fabel. Vegetarismus, Shell-Boykott, Verzicht auf Plastiktüten, Abschaffung der Sommerzeit – das sind positive Beispiele von Spontanideologie, Zeitgeist und Journalismus. Man kann Marx nicht vorwerfen, dass er das nicht gesehen hat, aber man kann einem heutigen Politiker oder Autor schon daran erinnern, dass die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegt. Die Wähler tun es auch. Vorwerfen müssen wir uns vielmehr, dass wir die frühen Hinweise auf diese neue Ethik beharrlich ignorieren. König Salomo hat ein Gebiet, das er mit seinem Heer durchziehen zu müssen glaubte, vorher von Ameisen bereinigen lassen, damit sie keinen Schaden nähmen. Gandhi stammte mütterlicherseits aus einer jainistischen Familie, die ebenfalls von der Geschwisterlichkeit und dem absoluten Respekt für alle Seelen, auch die der Ameisen, ausgeht.

Man muss übrigens auch erst einmal Marxist sein, um diesen Begriff überhaupt zu kennen. In der Schule wird, auch nicht mehr ganz heutig, die Tarifautonomie als Lösung aller Probleme gelehrt. Heute sitzen die Gewerkschaften in Palästen, in denen man früher, wenn man Marxist war, die Ausbeuter vermutete. Sodann gibt es viele Menschen, die von ihrem Arbeitslohn keine Familie ernähren müssen, wie der klassische Arbeiter des ebenso klassischen Marxismus. Ein Langzeitarbeitsloser oder ein frisch eingetroffener Migrant ist vielleicht dankbar, wenn er eine so denunzierte Arbeit gefunden hat. Er würde, wenn er diese Auslassungen und das Parteiprogramm gelesen hätte, diese Partei auf keinen Fall wählen. Was dort als Ausbeutung denunziert wird, sieht er als Segen. Das können wir furchtbar finden, aber es rettet sein Leben. Und ganz biblisch: er lebt nicht vom Döner allein, auch von seinem Smartphone.

Der Besitzer des von uns gerne und zurecht kritisierten Schlachthofs wird mit ebensolchem Recht darauf verweisen, dass seine Art in unsere Welt einzugreifen mit einem andern Wort wesentlich besser beschrieben ist: Wohlstand. Fleischverzehr, Automobil, Urlaubsreisen und Wohneigentum haben neben ihrer tatsächlichen Existenz auch eine Metafunktion als Status- und Wohlstandssymbole. Das Insektensterben ist die direkte Antwort auf unsere Art wohlhabend zu sein. Das Ignorieren der Folgen unseres Tuns ist infantil. Der Kampf gegen Ausbeutung wäre so ziemlich die lächerlichste Antwort, die man auf die Probleme unserer Zeit geben kann, wenn es nicht eine noch lächerlichere, ebenfalls schon oft gescheiterte Antwort geben würde.

All diesen Antworten ist nicht nur der Hang zum Ewiggestrigen eigen, sondern auch die Segregation, die Unterteilung von Menschen in Qualitäten. Stattdessen zeigt sich durch die Annäherung der Lebensweisen, dass es nur die Lebensweisen waren, die sich unterschieden. Die neue Antwort auf Großschlachthof oder Schächten heißt Vegetarismus oder jedenfalls verträglicheres Zusammenleben von Menschen und Tieren**. Auf Plastik und individuelle Mobilität zu verzichten, dürfte ziemlich leicht sein. Vor allem ist es wichtig auf Parteien zu verzichten, die nur vom Gestern schwatzen, statt Ideen zu entwickeln, wie wir Wohlstand, Nachhaltigkeit und Geist miteinander verbinden können. Man sollte nicht davon ausgehen, dass die Wähler dumm sind. Allerdings sind die wenigsten Wähler auf Parteiprogramme aus. Sie gehen vielmehr nach Verlässlichkeit, Plausibilität, Gewohnheit, Rhetorik.

Gegen gute Bildung ist natürlich nichts einzuwenden.

 

 

*Bernd Stegemann, DIE ZEIT, 18. Februar 2019

**John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen

schon bestellt?

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GEWISSHEIT

Nr. 340

 

Unbemerkt, weil über einen langen Zeitraum gestreckt, ging im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts die Gewissheit verloren. Die Gesamtwerke von Brecht und Kafka, deren Zeitgenossenschaft kaum bemerkt wird, weil sie unterschiedlichen Klassen angehören, befassen sich damit. Brecht allerdings glaubte, eine neue und ultimative Gewissheit gefunden zu haben, den Klassenkampf, der gut ausgeht. Kafka dagegen hatte keine Zeit mehr, seine Perspektive auszuarbeiten. Sein Genie ertrank im Blut seiner kaputten Lunge. Aber sie würde wohl das Ausgeliefertsein des Menschen an den Zufall, an die Willkür der Dinge, an die Relativität anstelle der Absolutheit beschreiben.

Schließlich trafen zwei Gewissheiten in den beiden großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts aufeinander, und es zeigt sich heute, dass auch die Demokratie keine Gewissheit ist. Jedenfalls ist sie weder dichotomisch einem wie auch immer definierten Bösen gegenübergestellt, noch ist sie das von Hegel und später von Fukuyama vorausgesagte Ende der Geschichte. Daraus folgt natürlich nicht, dass ein Zurückrudern Sinn machen würde, im Gegenteil, denn was früher als Gewissheit gefeiert wurde, hat sich als falsch, unhaltbar und zutiefst ungerecht herausgestellt. Wenn wir nicht zurückrudern können, müssen wir glauben, dass vorne kein todbringender Wasserfall ist. Leben ist also Glauben, aber nicht der Glaube an Gewissheiten wie Vergebung und Wiedergeburt, sondern der Glaube daran, dass man mit sich selbst weiterleben kann und dass es einen kumulativen Sinn des Lebens gibt. Das Buch Hiob, des merkwürdigsten aller Propheten, und Goethes Faust beschreiben diesen kumulativen Sinn. Er besteht darin, dass man nicht aus dem Meer der Zweifel auftauchen muss, um weiter zu schwimmen. Er besteht darin, dass man nicht ohne Orientierung, aber ohne Garantie handelt. Dieses Handeln ist kein Aktivismus, sondern ein reflektiertes Tun, das sich immer in Frage stellt und das sich trotzdem nicht zurücknehmen muss. Wir reden nicht einem letztendlich sinnlosen und oft missbrauchten Mut das Wort, einer tödlichen Tollkühnheit, sondern eher einer Unverdrossenheit, einem Verharren auf dem Vorwärtsschreiten.

Die Formel vom ‚guten Menschen in allen Ländern‘*, die sich leider noch nicht durchgesetzt hat, wurde, als ich sie verwendete, von extrem rechter und von extrem linker Seite kritisiert. Man verwies auf die Notwendigkeit der Klassifizierung und fragte, was denn sonst, statt Rasse und Klasse, uns weiterhelfen könnte. Rassismus ist keine Klassifizierung, sondern ein Aufruf zum Mord. ‚Klasse‘ ist immer mit Hass verbunden worden. Das kann nicht richtig sein, in keiner Religion und in keiner Philosophie. Trotzdem scheint uns allen der Aberglaube eingeboren zu sein, dass besonders unsere Herkunft Zukunft verspricht. Das ist unser empirisches Schicksal, dem wir nur schwer entkommen können, dem wir aber entkommen sollten. Denn jede Erfahrung ist asymmetrisch, unscharf und oft interessengebunden. Wir können ohne wissenschaftliche Hilfe nicht unterscheiden, ob eine bestimmte Eigenschaft einem Land zugehört, einer Klasse von Wohnplätzen – zum Beispiel Megastädte oder Dörfer -, einer Religion oder Tradition, einer wissenschaftlichen Erkenntnis, dem Zeitgeist oder der Intuition. Wir berufen uns auf Vorstellungen, die Leitplanken gleichen, denn kein Fakt ist greifbar. Dennoch hat das Berufen auf vermeintliche Fakten, also die Evidenz, große Überzeugungskraft.

Dagegen wirkt nur das Erleben und das Erlebte in seiner Permanenz und Intransparenz letztlich als angehäufter Lebenssinn. Wir suchen für unser Leben ein Kreuzfahrtschiff, aber wir befinden uns in einem Kanu. Wir träumen von hellerleuchteten Sälen und Seelen und tappen meist im Dunkeln. Wir befürworten die Aufklärung, aber unser Herz ist voller Sklavensinn und Unterwürfigkeit. Für jede unserer Unmündigkeiten haben wir seitenlange Rechtfertigungen und jahrhundertealte Institutionen. Jedes Papier ist uns wichtiger als jeder Mensch. Kaum jemand wird die Freiheit ablehnen, aber kaum einer lebt sie. Freiheit erscheint zu vielen Menschen als Ideal irreal.

Andererseits muss man die Langsamkeit des einzelnen Menschen, der Gruppen und der Gesellschaften als Wirklichkeit anerkennen. Es gibt zwar jähe Wendungen, aber sie erscheinen uns als falsch und unwirklich. Alle Revolutionen haben die Ideale verbrannt, die sie gerade verkündet hatten. Alle Evolutionen scheinen den Ernst der Lage nicht verstanden zu haben. Im Gegensatz zu einer ersichtlichen Einbahnstraße oder Sackgasse können wir nicht erkennen, ob eine Tradition in das Gestern oder das Morgen führt. Mithin ist ein Leben ohne fremde Vorstellungen für uns unmöglich. Aber selbst in unserer nächsten Umgebung prallen die gegensätzlichen, sich widersprechenden Vorstellungen aufeinander. Der Papst, den wir nur aus der Fernsicht kennen, lehnt selbst in der Fastenzeit Veganismus ab, der geringste koptische Flüchtling dagegen führt uns den Verzicht in aller Vorbildlichkeit vor. Fasten erfüllt nicht sinnentleerte Gebote, sondern rettet Tiere und Menschen. Freiheit ist kein leerer Wahn, sondern voller Sinn. Allerdings ergibt sich deren Sinn nicht aus einer Ideologie, sondern aus dem Erleben: ‚there are words like liberty / that almost make me cry / if you had known what I knew / you would know why‘, schrieb Langston Hughes und konnte nicht ahnen, dass seine Worte verkehrt herum gelesen würden: er schrieb von Freiheit, nicht vom Leid.

Viele Menschen sagen, halb scherzhaft, gewiss sei nur der Tod. Aber genau das glaubt die andere Hälfte der Menschheit nicht.

 

 

 

* Das ist der schlichte Mensch in allen Ländern / In Arbeit und in Frieden liegt sein Hoffen / An Güte ist er wie das Meer unendlich / In seinem Glauben wie der Himmel offen. [Binem Heller, Poems, 1932-1939]

ERBITTERTER STAATSGLAUBE

Nr. 339

Macht ist ein Attribut des Denkens. Der Staat ist ein Instrument, kein Ziel. Trotzdem erleben wir soeben eine Wiedergeburt extremer Staatsgläubigkeit, die aber immer ihren eigenen Untergang mit einschließt. Egalitäre Gesellschaften werden von außen usurpiert, elitäre Gesellschaften zerfressen sich selbst. Daraus ist der falsche Gedanke der wehrhaften Demokratie entstanden, ein Konstrukt, das sich selber ausschließt. Wenn leben Risiko heißt, dann gilt das auch für Gesellschaften. Wer etwas beginnt, muss mit seinem Ende rechnen. Zu mehr Frieden würde also eine nicht wehrhafte Demokratie weitaus mehr beitragen.

Wenn eine ungeheure Straftat begangen wird, ein Terroranschlag zum Beispiel, dann rufen auch die weichsten, linkesten und alternativsten Politiker ganz laut, dass jetzt die ganze Härte des Rechtsstaats die Täter treffen möge. Das sagen sie aber nur, um mit den härtesten, rechtesten und gewöhnlichsten Politikern gelichzuziehen. Denn jedes Kind lernt in der Schule, dass der Rechtsstaat gerade die Abschaffung der Härte und die Einführung des Zweitechancesystems ist. Dadurch sinkt die Kriminalität. Trotzdem kann niemand, weder das friedfertige Schweden noch das streitsüchtige Pakistan, Terroranschläge ausschließen.

Vielmehr haben Terroranschläge und Staatsgläubigkeit etwas gemeinsam: sie glauben, dass sie Recht haben das Alte mit Gewalt zurückholen zu sollen. Terroristen und Staatsgläubige berufen sich ausdrückliche auf die angeblich bösartige Natur des Menschen, nur um ihre Bösartigkeit zu begründen. Einerseits wollen sie eine ahistorische, segregationistische Ordnung, andererseits berufen sie sich darauf, dass das, was sie wollen, schon immer so war. Da wir immer noch Gesellschaften von Jägern und Sammlerinnen beobachten können, sehen wir, dass es nicht schon immer so war. Wenn immer nur die stärksten überlebt hätten, würde die Menschheit nicht wachsen, sondern schrumpfen.

Einer der Denkfehler der Staatsgläubigen liegt darin anzunehmen, dass jede neue Ordnung die Fortsetzung der alten mit anderen Mitteln ist. Da die Weltordnung der letzten vierhundert Jahre immer durch Hegemone durchgesetzt wurde, sucht man sich einfach einen neuen Hegemon, um neue Angst vor der Zukunft schüren zu können. Solange wir, die Europäer, oder sie, die US-Amerikaner, die Welt beherrschten, war alles gut, aber jetzt kommt China ohne Rücksicht. Rücksichtslosigkeit ist in der Weltpolitik nicht mehr zu toppen. Vor vierhundert Jahren wurde aber auch der Westfälische Frieden geschlossen, in Münster und Osnabrück fand die erste große und erfolgreiche Friedenskonferenz statt. Der Versailler Vertrag und das Potsdamer Abkommen samt Marshall-Plan, Völkerbund und UNO sind seine Abkömmlinge. Der Versailler Vertrag von 1919 ist von den Siegern wie von den Verlierern allerdings als Mittel der Demütigung angesehen worden: altes Denken schadet immer. Dagegen ist der Marshall-Plan die verbesserte Schlussfolgerung aus diesem Fehler.

Allerdings kann man Demokratie im Gegensatz zur Autokratie nicht exportieren. An der falschen Vorstellung von einem Weltpolizisten kann man leicht einsehen, dass eine Gesellschaft nicht als erstes eine Ordnung und deren Polizei, sondern das Ideal der Freiheit braucht. Erst wenn jede Segregation geächtet ist – ganz eliminieren lässt sie sich leider wohl nicht – kann ich eine Ordnung und eine Polizei installieren, sowohl in einer begrenzten Gesellschaft als auch in der Weltgemeinschaft.

Es gibt kaum eine schönere Metapher für diese Staatsordnung als die Tafeln mit den zehn Geboten. Für die Masse der Menschen kommen die Gebote von außen. Jeweils eine Minderheit setzt sich darüber hinweg. Man darf jedoch nicht übersehen, dass im Dienste der Segregation das zentrale Tötungsverbot von Religionsgemeinschaften und Staatsgebilden außer Kraft gesetzt wurde. Daraus folgt im Umkehrschluss: keine Religionsgemeinschaft ist ‚richtig‘, keine Nation ewig oder besser und kein Staat seht über den Menschen, denen er helfen soll.

Jeder kennt die Antwort* Friedrichs II. auf den dummen Satz Ludwigs XIV. Aber da antwortete nicht ein Deutscher einem Franzosen, sondern ein Demokrat einem Autokraten. Natürlich konnte Friedrich, als Sohn eines jähzornigen Autokraten, kein lupenreiner Demokrat sein, Adenauer konnte es nicht, weil er als alter Mann erst zur Demokratie kam, Brandt konnte es nicht, weil er, wie sein Sohn sagt, von Pappnasen umgeben war, und Merkel kann es nicht, weil der Wind der Autokratie gerade eben über die europäische Steppe bläst. Niemand ist ein reiner Demokrat. Aber daraus folgt nicht, dass es keine Demokratie gibt oder geben kann. Daraus folgt nicht, dass Härte siegt oder Militär irgendeinen Nutzen außerhalb der Geldverbrennung hat. Daraus folgt nicht, dass Güte oder Barmherzigkeit Attribute der Schwäche sind. Und daraus folgt vor allem nicht, dass die Welt an den Bösen, die immer die anderen sind, untergehen wird.

Merkwürdig ist, dass die Staatsgläubigen nicht ganz ohne Demokratie auskommen können. Sie glauben sich von vornherein in der Mehrheit. Sie seien, sollen wir ihnen glauben, das Volk, das Rache üben und ebenjenen Staat für die Dauer ihrer Gewaltaktionen außer Kraft setzen kann, den sie danach wieder anbeten. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Freiheit das Skelett jeder Ordnung ist. Der freie Mensch ist das Ziel jeder Ordnung. Dagegen ist die Ordnung nie das Ziel freier Menschen. Ordnung ist ein Attribut, keine Substanz. Die Substanz ist der Mensch jeder Herkunft, jeder Religion, jeder Ansicht, überall, immer. Wir können eben nicht die ‚Feinde‘ der Demokratie ausschließen, weil wir dann den ersten Schritt in Segregation und Autoritarismus wanken, wanken, denn von aufrecht gehen kann in diese Richtung keine Rede sein.

Weil irren menschlich ist, braucht jeder von uns immer wieder eine Chance, aus dem Meer des Zweifels aufzutauchen. Das Organ des Irrtums ist der Staatssekretär, weil er etwas durchsetzen kann, was er nicht verantworten muss, weil er glaubt, es durchsetzen zu müssen, obwohl er weiß, dass er es nicht verantworten kann. Erbitterung schlägt oft in Verbitterung um, deshalb ist es besser freudig von Freiheit und Demokratie zu träumen, als sich ständig vom Untergang und von Feinden verfolgt zu sehen. Der Staat ist dafür da, die Verwerfungen zu betreuen. Noch kürzer gesagt: die Energie, die man für ein NEIN verschwendet, sollte man lieber in JA investieren, denn in der Gesellschaft passiert nichts, was wir nicht machen.

 

*Le prince était le premier serviteur de son état. F II.

L‘Etat c’est moi. L XIV.

HAUS IM FLUSS. Geschichten aus dem Jahr 1968

Eine Rezension als Gastbeitrag von Dr. Egon Jahn

Die rührende Geschichte vom Verfall eines Hauses, dessen letzte Bewohner mit Kopierstift BITTE KEINE LANGFINGER an die Tür schrieben, aus Angst um den einen schönen Schrank, diese Geschichte hat mit dem Jahr 1968 nichts zu tun. Häuser verfallen immer. Alle Häuser verfallen. Statik ist der Versuch, die Natur auszuhebeln, und die Natur kennt nicht nur den Frühling, sondern auch den Herbst. Herbst wird mit Verfall gleichgesetzt, obwohl er oft so schön ist. Das schönste Gedicht in diesem Bändchen, Nr. 39, sagt uns aber, dass wir alle unseren Herbst erst noch vor uns haben und dann, dann erst wird Winter sein. Im tatsächlichen Winter des Jahres 1968 (Nr. 12) mussten die Soldaten der kleinen Garnison das Städtchen freischaufeln, aber der Autor lässt einen Soldaten rote Phrasen erbrechen und die anderen den Schnee gelb färben. Ganz offensichtlich litt die idyllisch-leere Landschaft unter den Soldaten, die wenige Jahre nach dem letzten Krieg kamen und mit ihren Panzerstraßen (Nr. 11) und Truppenübungsplätzen die Idylle entweihten. Aber die Bewohner bekamen Arbeit und Strom und verdrängten alle negativen Erscheinungen, auch noch nach 1990. 1968 hatte nicht nur einen bitterkalten Winter, sondern auch einen harten Sommer. Der Bundespräsident wurde in Westberlin gewählt, weshalb der Warschauer Pakt ausgedehnte Manöver rund um die geschundene Stadt veranstaltete. Westeuropa war erschüttert von den Studentenunruhen, besonders in Paris, Frankfurt/Main und wieder Westberlin. Und schließlich marschierten die Armeen des Ostblocks in Prag ein, um das demokratische Experiment der tschechischen Kommunisten zu beenden. Und kurz davor ermordete ein Soldat hier in dieser, durch die Fotos des kleinen Büchleins skizzierten Landschaft, in einem Haus direkt an dem kleinen Fluss, eine Frau, die er vorher vergewaltigt hatte, und ihr Kind, das Zeuge des Verbrechens geworden war. Das andere Kind entkam, aber kam nie in seinem Leben wieder auf die Beine, genauso wenig wie sein Vater die Tragödie verarbeiten oder verkraften konnte. Solche Ereignisse wurden in der DDR unter den Teppich gekehrt und die SED-Kreisleitung Ueckermünde wird froh gewesen sein, dass die Bevölkerung wenige Tage später geglaubt hat, an einem Krieg vorbeigeschlittert zu sein. Und der Soldat war auch kein gewöhnlicher Soldat, sondern er hatte sich während seines Grundwehrdienstes zu weiteren fünfundzwanzig Jahren verpflichtet, was ihm den Hohn und Spott der übrigen vielleicht zweitausend Soldaten dieses Kasernenkomplexes eintrug. Vielleicht hat er sich auch nur verpflichtet, um Zugang zu der Waffe zu erhalten, mit der er seine abscheuliche Untat beging? Vielleicht kam ihm die Idee, als er aus den offenen Fenstern heraus bepfiffen und verlacht wurde? Er stolzierte mit seiner nagelneuen Uniform und dem dazu unpassenden niedrigen Dienstgrad jeden Nachmittag über das Oval des Appellplatzes (Nr. 28).

Die Stieleichen, die auch Caspar David Friedrichs Lieblingsmotiv waren – sein Bruder hat in der Gegend des Büchleins Kirchen ausgemalt – stehen zweihundert oder dreihundert Jahre, gerne auch länger. Sie zeigen, dass in all der Vergänglichkeit Ungerechtigkeit herrscht: die Waldameisen über Tage, die Waldarbeiter unten auf dem kleinen Friedhof (Nr. 8), die Frau und das Kind vorzeitig tot, und zu allem Unglück, auf so einem winzigen Stück Erde, später noch einmal ein Unfall während eine kleinen Musikfestivals, die Krüppelkiefern zerbrochen, aber die Stieleichen stehen.

Die Landschaft heißt hier fast modern: Kuhlmorgen, gemeint ist wohl das Feuchtgebiet, das in einer Schleife der Uecker liegt, danach geht der Fluss fast gerade in die kleine Garnisonsstadt. Über dieser Landschaft liegt ein Nebel der Verlassenheit. Der Autor zeigt mit seinen oft tagebuchartigen Texten, dass eben nichts verlassen ist, weder das Verfallende, noch das immer wieder Auferstehende. Es gibt den Specht mit seiner Percussion. Es gibt den jedes Jahr neu den Kranich und den Graureiher (‚in Gegenwart und Gegenlicht‘), Nr.40), übrigens als eines der besten Fotos. Daneben ragt die Schraubzwinge, der jeder Zwang genommen wurde, zerbröselnd in den Raum. Die Sprache und die sprachlichen Bilder sind von spröde-alltäglich bis hin zur Trauer und Hymne alles auslotend, was in solch einen kleinen Raum passt. Es lohnt sich – landschaftlich – nicht, dorthin einen Tagesausflug zu machen. Aber man kann in diesen Texten und Fotos gut erkennen, dass in jeder noch so unscheinbaren Ecke des Kulturlandes Geschichten, oft leider auch als Blutspur, eingegraben sind. Trotzdem strahlt letztlich ein schlichter Optimismus durch die Zeilen: ‚es wandern durch die Wälder / du und das fließende Haus‘ (Nr. 39).

Rochus Stordeur,   HAUS IM FLUSS. Ein Requiem, GRILLE VERLAG Nechlin 2018, 8,50 €

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DER WERT EINES APFELS

Nr.  338

Im Fernsehen beißt ein Mann oder eine Frau in einen Apfel und als Text hört man, dass man sich krankenversichern oder prophylaktisch behandeln lassen soll, damit man später auch noch so kraftvoll in Äpfel beißen kann. Unsere liebsten Äpfel kommen aus Neuseeland und Israel. Dagegen ist nichts einzuwenden. Das sind die neuen Eckdaten für ein einstiges fundamentales Lebenssymbol.

Durch den Überfluss der Dinge haben sich sowohl das Ranking als auch der Fokus verschoben. Der Mensch entfremdete sich erneut von seinen Lebensgrundlagen. Die erste Entfremdung war bekanntlich die Industrialisierung, die Arbeiten wurden – aus handwerklichen oder bäuerlichen Produzenten – zum Teil des Arbeitsprozesses oder sanken sogar zum Maschinenteil herab. Ein Arbeiter bei VW, der die Setzung von 400 Schweißstellen pro Minute sowohl am Monitor als auch analog verfolgt, erhält einen Teil seiner Selbstständigkeit zurück: er kann die ganze Arbeit verwerfen und verschrotten. Die zweite Entfremdung lässt uns genetisch manipulierte, aus Massentierhaltung stammende oder über eine Entfernung von mehr als 18.000 Kilometern herbeigeholte Lebensmittel verzehren, zu denen wir kein Verhältnis entwickeln können. Gleichzeitig erklärt sich der Bauer im Nachbardorf, der mit computergesteuerten Systemen 2000 Hektar bearbeitet, zum wichtigsten Beruf. Als Gipfel dieser unheilvollen Phase sieht man immer wieder eine geschälte Mandarine, die in Plastik eingeschweißt ist. Eins unserer Hauptprobleme heißt Verpackung, die auch ein Teil der Entfremdung ist. Eine einfache Influenza-Diagnostik beschäftigt heute eine ganze Phalanx von Maschinen, die den Ärzten jedes empirische Denken und Handeln buchstäblich aus der Hand nimmt.

Immer wieder gibt es Versuche, unser Leben zu reformieren, auf den Boden der Natur zurückzuführen. Vor hundert Jahren blühte eine vielschichtige Reformbewegung, die auf Obsternährung, Sport und Genossenschaften gründete. Nackte, langhaarige Prediger zogen durch Europa und ermahnten die Menschen zur natürlichen Lebensweise. Fünfzig Jahre davor warb der viel gelesene Graf Tolstoi für Bildung und Einfachheit, allerdings in extrem christlicher Ausprägung. Wieder hundert Jahre zurück glaubte Rousseau, dessen Einfluss man nicht überschätzen kann, dass die damals so genannten Wilden das eigentliche Leben repräsentierten, während jede Zivilisation notwendig rückwärts geht.

Wie zwei Lavaströme aus dem Eyjafjallajökull laufen also die Rationalisierung genannte Entfremdung und die Reformierung genannte Rückkehr zur Natur nebeneinander. Eine Maschine nach der anderen wurde erfunden, heute redet man fast ausschließlich von Künstlicher Intelligenz, also von Maschinen, die Maschinen und Technologien ohne weiteres Zutun des Menschen herstellen. Der Alptraum dieser Entwicklung sind Milliarden von Menschen, die weder verhungern noch etwas tun.

Der Apfel muss als Tatsache und als Symbol wieder in unser Bewusstsein und in unsere Jackentasche zurückkehren. Nicht nur vor dem Weltuntergang und nicht nur jeder Mann sollte einen Apfelbaum selbst pflanzen und nutzen. Schon allein die dann entstehenden Gespräche wären eine ungeheure Bereicherung. Dabei wäre die autarke Ernährung auf dem Land nur ein abstraktes und ideales, der Vitamin und Sauerstoffreichtum das konkrete Ziel.

Bildung sollte weniger als staatliche, oft widerwillige wahrgenommene Aufgabe gesehen werden, sondern als kollektive und vor allem aktive Aneignung der äußeren, der maschinellen und der inneren Welt. Als Fächer genügen Fußball, Theater und Scouting. Alle notwendigen Abstraktionsprozesse würden sich unterwegs ergeben. Vorbild ist nicht nur der katechetische und maschinengestützte europäische Bildungstyp, sondern auch der afrikanische Ubuntukreis mit fünfzig Schülern als Gegenmittel zu allzu ausgeprägtem Individualismus.

Arbeit muss wieder als Wertschöpfung wahrgenommen werden können, das heißt, sie muss es auch sein. Die beiden größten Errungenschaften, das Handwerk und die Landwirtschaft, müssen von jedem Menschen auf der Erde verstanden und praktiziert werden. Wir können nicht mit dem Wahn weitermachen, immer nur die letzte Erfindung als größte und einzige Möglichkeit zu verstehen. Der gegenwärtige Preisunterschied zwischen industriellen und handwerklichen Produkten würde sich durch eine Verschiebung der Anzahl der Produzenten ausgleichen. Wie die Lebensreformbewegung vor hundert Jahren setzen wir auf Genossenschaften als Organisationsform. Aber auch die vor zwanzig Jahren eher ironische gemeinte ICH-AG sollte ernsthaft gedacht werden.

Der Lebenssinn ergibt sich aus den neuen und überdimensionierten Möglichkeiten der Kunst als Antikonsum. Durch die milliardenfache Reproduktion ist Kunst einerseits zum Konsumartikel herabgesunken, andererseits aber durch die Inflation von Zeit und Geld für jeden machbar. Es fehlen – als Bindeglied – oft nur die Fertigkeiten. Fiktion ist längst Teil der Wirklichkeit geworden, aber viele glauben noch und nur an die Kraft der immer wackliger werdenden Fakten. Die Menschen sehnen sich sowohl nach Sinn, der sich aus Kunst, als auch nach einem Übervater oder einer Übermutter, die sich aus entzerrter Religion ergeben. Jede Institution trägt den Keim der Spaltung und des Wahns in sich. Vielleicht und hoffentlich eröffnen die online-Vernetzungen neue Möglichkeiten.

Zwei Irrwege der Industrialisierung sind die großen Städte und das Automobil. Die Konzentration von Menschen als Arbeitskräfte war nur eine historische Etappe, ist heute überflüssig. In den nichtindustriellen Ländern ist dieser Irrweg ohne Industrie, aufgrund der bloßen Hoffnung auf ein besseres Leben nachgeahmt worden. Allein die Slums von Lagos, der 22-Millionen-Stadt in Nigeria, mit ihrer eigenen Lebens- und Produktionsweise, teilweise auf dem Wasser, ihrer Kunst und ihrem Leid und hunderttausendfachem Tod auf Megatonnen Müll, sollte ein schnelles Umdenken von den Städten aufs Land bewirken. Fragt man alte Menschen in dünnbesiedelten Gegenden, warum sie ein Auto – in Australien und Island auch gerne ein Flugzeug – benutzen, dann zeigt sich die Grundversorgung als Hauptgrund. Aber jede Ware ist heute online bestellbar und mit Elektroautos am nächsten Tag lieferbar. Die medizinische Versorgung muss ebenfalls einfach neu organisiert werden.

Es geht also nicht um einen neuen Maschinensturm – silesian weaver’s like -, sondern um den Unterschied von Renaissance und Konservatismus. Während der Konservatismus zwangläufig auch schädliche Traditionen – wie zum Beispiel die Wehrpflicht oder das Robbentöten – bewahrt, kann die Renaissance diejenigen Elemente der Vergangenheit wiedergebären, die jetzt einen völlig neuen Sinn oder einen Zweck für alle – omnibus, ubuntu -, eine neue Dimension oder eine ungeahnte Vernetzung haben.

Globalisierung – seit 1444! – ist auch angstbesetzt, die einen fürchten eine Islamisierung, die andern eine Anglisierung. Diese Ängste mögen verständlich sein, nachvollziehbar sind sie zum Glück nicht. Mit dem Wohlstand sinkt nicht nur die Kinderzahl, sondern auch die Notwendigkeit institutionellen Glaubens. Statt also Angst zu kultivieren, sollten wir lieber – freiwillig – einen Weltramadan einführen und uns freuen, dass wir mit jedem Menschen, welcher Muttersprache auch immer, in Englisch online – und natürlich auch analog – reden können.

Lasst uns lieber Gedanken importieren als Äpfel.

HEGEMONIE

Nr. 336

 

Hegemonie scheint vielen Menschen ein genauso natürliches Verhältnis zu sein wie Hierarchie. Nur allzugern wurde die falsche Theorie von den natürlichen Alphatieren aufgenommen, obwohl ihr Autor selbst ihr widersprach. Wir verstehen, was wir gern so sehen wollen, deshalb haben wir diese Reihe auch mit dem semantischen Gefängnis begonnen, in dem wir uns alle befinden.

Neben der Sprache unserer Großeltern ist aber auch der Glaube an überlieferte Strukturen in uns als unerschütterliches Fundament eingegraben. Diese Strukturen überleben, weil sie sich auch bewährt haben. Wie immer wird der Misserfolg einfach ausgeblendet. Seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde in beiden deutschen Teilländern die Abschaffung der Prügelstrafe, im Osten eher als im Westen, diskutiert. Als ein Argument für die Prügelstrafe wurde immer wieder gesagt, dass es ihnen, den vorhergehenden Generationen, auch nicht geschadet hätte. Zwei Weltkriege, sichtbare Trümmer der autoritären Gesellschaft wurden verdrängt, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass Autorität anders als mit Strafe oder gar Prügel entstehen kann. Ähnlich wurde bei der Abschaffung der Todesstrafe, diesmal umgekehrt, erst im Westen und erst spät im Osten, argumentiert. Wir können uns die neue Ordnung, selbst wenn sie die bessere, menschlichere, moralischere ist, nicht vorstellen. Wir glauben lieber, manchmal noch jahrzehntelang, dass es eigentlich nur mit der alten Ordnung geht.

Völkerbund und UNO waren und sind die beiden Versuche, die Lösung internationaler Konflikte ohne Hegemonie, ohne Androhung militärischer Gewalt anzugehen. Nach wie vor gibt es Gebiete, die schwer befriedbar sind, deren Konfliktpotential sich rationaler Bewertung eher zu entziehen scheint, wie etwa der Nahe Osten oder Kongo. Dass es auch ausgerechnet die Führungsnationen der westlichen Demokratien waren, die den Grundsatz nichthegemonialer Lösungsversuche immer wieder durchbrachen, ist tragisch, spricht aber nicht gegen den nichthegemonialen Grundsatz. Der britische Indienkonflikt, so heftig und falsch er auch war, endete letztlich friedlich. Indien ist das mit Abstand größte englischsprachige Land geworden. Der Algerienkrieg war grausam und unsinnig, aber heute sind alle Algerier geborene Franzosen, wenn sie es wollen. Der Vietnamkrieg zerriss die eine Nation und vereinte die andere. Die Amerikaner verdanken den Frieden und den auch finanziellen Ausgleich mit Vietnam einem Präsidenten, den die meisten noch nicht einmal mit seinem berühmten Namen kennen, weil er nach Nixons erzwungenem Rücktritt nur zwei Jahre als amtierender Präsident arbeitete, Gerald P. Ford. Der gute Frieden rechtfertigt nicht den bösen Krieg, trotzdem ist die Geschichte in diesen Punkten gut ausgegangen. Trotzdem aber wird auf der anderen Seite immer wieder und immer weiter von den USA als Weltgendarm gesprochen, als jene Macht, die versucht, Demokratie mit den Mitteln von gestern, also mit Hegemonie, durchzusetzen.

Früher wurde immer gern Deutschland als positives Beispiel dafür angeführt. Jedoch war die blutige Autokratie in Deutschland so sehr am Boden zerstört, zusammengebrochen und jede autokratische Ordnung diskreditiert, so dass die auch nur sehr zögerliche Annahme der Demokratie erst ab 1968 wirklich gelang. Im Osten dagegen wurde die neue, nicht so blutige Autokratie extra mit dem Etikett der Demokratie versehen, auf das sich dann immerhin 1989 die Demonstranten berufen konnten. Bekanntlich waren sie erfolgreich. Im Irak oder in Libyen dagegen wurde die Autokratie erst mit dem Sturz der beiden skurrilen und blut- und geldrünstigen Diktatoren beendet, Saddam Hussein und Muammar al Gaddafi. Leider ist in diese beiden Länder weder Frieden noch Demokratie eingekehrt. Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit befindet sich aber ein weiteres, ebenfalls durch Bürgerkriege und Hungersnöte zerrüttetes Land, das zweitgrößte Afrikas, Äthiopien, auf dem Weg des Wirtschaftsaufschwungs, es hat die größte Wachstumsquote der Welt, und auf dem Weg in die Demokratie. Die inneren, oft nationalen Konflikte wurde ohne Anwendung von Hegemonie gelöst. Die Herrschaft der alten Männer wurde sanft gebrochen. Der neue Ministerpräsident setzt nicht auf militärische Stärke, setzt stattdessen auf Bildung und auf die jungen Frauen. Denn Äthiopien hat, wie auch sein kleines Nachbarland Eritrea, mit dem es jetzt sogar einen Friedensvertrag und Grenzübergänge gibt, eine immer noch hohe Geburtenquote.

Die Ablösung eines Paradigmas braucht viel mehr Zeit, als man glaubt und hofft. Hegemonie, die Oberherrschaft über Länder, Völker und Einzelmenschen, sitzt tief als Muster in uns allen. Hierarchie wird sogar von vielen als natürliche Ordnung angesehen. Obwohl jede und jeder das Kindchenschema, das von Konrad Lorenz entdeckt und benannt wurde, kennt und bestätigt findet, wenn er oder vor allem sie in einen beliebigen Kinderwagen schaut, glaubt man an Aggression und Alphatiere mehr als an Liebe, Solidarität, Aufzucht, Erziehung, Gleichberechtigung. Diese Begriffe erscheinen vielen Menschen als zu weich. Aber ungeachtet dessen gibt es auch die Persistenz, das Verharren in Zuständen, nicht weil sie gut, sondern weil sie da sind. Fatal ist weiterhin, dass Hegemonie nicht nur für den Hegemon angenehm ist. Es gibt immer Unterjochte, die das Joch aus Bequemlichkeit lieben. Unmündigkeit ist immer selbst verschuldet.

Einer meiner rechtskonservativen Kontrahenten schrieb neulich zu diesem Satz: ‚Von wem er auch ist, er ist schlicht falsch.‘ Dieser Satz ist von Kant, aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass er seit der Antike zum Grundbestand menschlichen Denkens und vor allem Strebens gehört und von Kant nur gültig formuliert wurde. Jeder Sklave, der seinem Herrn entlief, ist – egal wie es ausging – ein lebendes Exemplar dieses Satzes, der auch von Rousseau, sogar von Seneca sein könnte. Rosa Parks hatte Helfer, es hätte trotzdem auch gut sein können, dass sie ihre berühmte Omnibusfahrt nicht überlebt. Aber sie wusste: Unmündigkeit ist immer selbst verschuldet. Und der beste Omnibus ist die Demokratie: für alle.

Der Paradigmenwechsel ist kein Traum oder keine Illusion, sondern die Wirklichkeit, die sich schon lange vollzieht. Manche starren aber – wie das Kaninchen auf die Schlange – auf die Rückschläge, Verzögerungen und Krisen. Über allen Entwicklungen steht die Sinuskurve als allgemeine Beschreibung und allgegenwärtige Warnung. Die Persistenz eines linearen Fortschrittsbegriffs sollte uns andererseits nicht hindern, an die Wirklichkeit zu glauben, statt an Hirngespinste wie ‚göttlicher Führer‘, ‚heilige Kirche‘, Hierarchie und Hegemonie. Die Wirklichkeit ist der gute Mensch in allen Ländern, der sich nach Freiheit sehnt und sie step by step herbeiredet und herbeischafft.