SICH WENIGER SCHADEN

…if we understood ourselves better, we would damage ourselves less… james baldwin

Kurz vor Weihnachten 1989 wurde das Diktatoren- und Verbrecherpaar Ceauşescu erschossen. Elena Ceauşescu sagte zu dem Soldaten, der sie vorher – fast biblisch – mit einem Strick fesselte: Ja, weißt du denn nicht, dass ich die Mutter der Nation bin? Das wirft die Frage auf, ob die Diktatoren und Autokraten ihren eigenen Erzählungen glauben.

Fast kein Mensch der östlichen Bundesländer hat 1961 die Mauer gewollt oder gebaut. Entweder sind die Planer und Erbauer tot oder sie verstecken sich. Aber auch kaum ein Bewohner der ehemaligen DDR hat gegen das Narrativ der Mauer als antifaschistischer Schutzwall protestiert. Wir haben dieses monströse Diktum zwar selbst nicht benutzt, sind aber auch während keiner Rede aufgestanden, in der es benutzt wurde. Vielleicht haben wir schon damals überlegt, ob der Redner glaubt, was er sagt. Mancher Redner und heutige Apologet hat das Wortmonster auch abgeschwächt, indem gesagt wurde, dass die Mauer – plötzlich war es doch eine Mauer – den Frieden gerettet oder das Ausbluten der DDR verhindert habe. Die gesamte Militarisierung der Ostrepublik geschah ja unter der vermeintlichen Aggressivität der NATO, die sozusagen auf den Sprung bereitstünde, womöglich den gesamten Ostblock zu schlucken. Es verging kaum eine Honeckerrede, in der er nicht sein Lieblingsbild von der Bundeswehr malte, die mit klingendem Spiel durch das Brandenburger Tor hereinmarschiert käme. Im Gegensatz zur NVA war die Bundeswehr bekanntlich nicht in Berlin anwesend. Diese ständige Drohung diente vor allem auch der Aufwertung der DDR: seht, wir sind wenigstens eine begehrte Beute. Denn viele Menschen waren unzufrieden, manche mit der Versorgungslage, andere mit der Unfreiheit, wieder andere mit der verordneten Provinzialität unseres kleinen Landes. Aber wir alle, die Unzufriedenen und die Zufriedenen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, duldeten, dass die Mauer, die uns hinderte zu verreisen, offiziell einen absurden Namen hatte, der sie rechtfertigen sollte. Es gab im Westen Nazis, aber es gab auch im Osten Nazis. Wie sollte denn, hätten wir uns fragen müssen, die Mauer verhindern, dass Nazis oder deren Propaganda zu uns in den Osten kommen können? Einige besonders schlaue Nazis waren im Osten geblieben, die krassesten Beispiele sind der Auschwitzarzt Fischer, der Rottenführer in Treblinka und Warschau Josef Blösche, der sogar auf einem weltbekannten Foto zu sehen ist, auf dem er martialisch seine Waffe auf einen kleinen Jungen mit kurzen Hosen und Mäntelchen richtet. Selbst in dem kleinen beschaulichen Brüssow konnte ein Mann* LPG-Vorsitzender werden, der im Baltikum zunächst für die SS übersetzte, dann mordete. Er hatte alles gefälscht: seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft, aber er war in diesem winzigen Städtchen erkannt worden. Die Vergangenheit des Chefs der Planungskommission Erich Apel, der sich erschoss oder erschossen wurde, wird für immer im Dunkel des unterirdischen Raketenbaus bleiben, von dem er sich während seiner Zwangsverpflichtung in der Sowjetunion reinwaschen zu können glaubte. Den traurigen Gipfel der kleinen Nazis, die auch in der DDR großwurden, stellt aber Willi Stoph dar, dem es gelang, aus einem die Nazis verherrlichenden kleinen Bautechniker zum Armeegeneral, zum Minister, Ministerpräsidenten, Staatsratsvorsitzenden, zum ewigen zweiten Mann aufzusteigen, der neben den altkommunistischen Kadern Honecker, Axen, Sindermann, Mielke und Neumann, der sogar auch aus Neukölln stammte, bis zum letzten Tag der DDR fortexistierte. Das ist Vergangenheit. Globke, Gehlen und Kammhuber, der es auch bis zum Viersternegeneral brachte, konnten ihre Bedeutung im Nazireich herunter- und ihre Kompetenz heraufspielen, aber sie waren immer bekannt und umstritten.

Dass aber nun Putin nach so langer Zeit das ‚antifaschistische‘ Bild geradezu aufwärmt, hat sowohl mit seiner Zeit als Geheimdienstoffizier in der DDR zu tun, aber auch mit den überdimensionierten alljährlichen Siegesfeiern auf dem Roten Platz. Siegesparaden gibt es auch in Frankreich, allerdings dienen sie dort wohl mehr der Demonstration einer nach wie vor den Amerikanern und Briten  ebenbürtigen Militär- und Atommacht. Welthistorisch gibt es dagegen nur zwei Punkte, in denen Russland, auch in der Form der Sowjetunion, wirkliche Bedeutung hatte: den mit den Westalliierten zu teilenden Sieg über Hitlerdeutschland und den Sputnik. Inwieweit sich die sowjetische Raketentechnik von der untergegangenen deutschen ableitete, können nur Militärhistoriker entscheiden. Tatsache ist, dass Koroljow, der Konstrukteur, 1945 in Deutschland auf Braindrainsuche und dass er fast zehn Jahre lang in einem Gulag war. Dass er das Schicksal der Verfolgung mit so vielen Generälen und Konstrukteuren teilen musste, zeigt die Zerrissenheit Russlands. Vielleicht ist es zu weit hergeholt, aber der Streit zwischen den ‚echten Russen‘ und den als ‚Westlern‘ denunzierten Reformern tobt in Russland seit dem  Dekabristenaufstand gegen Zar Nikolaus I. Er war nicht der legitime Thronfolger seines am Krimfieber gestorbenen Bruders Alexander I., sondern er kam durch den Verzicht seines älteren Bruders Konstantin überraschend an die Macht. Das wurde als Aufstandssignal der Reformer, die durchweg aus der militärischen Führungsschicht kamen, verstanden: sie verweigerten den Treueeid. Nikolaus reagierte wie später Putin: er ließ die Rädelsführer hängen und 600 von ihnen nach Sibirien deportieren.  Aber das Ergebnis war in jeder Hinsicht fatal: Russland verharrte im ultrareaktionären Modus, einige Ehefrauen der Verbannten – wie die Fürstin Wolkonskaja – wurden weltberühmt, weil sie ihren Männern freiwillig folgten, und die Dekabristen selbst brachten als erste Kultur und Bildung nach Sibirien. Tolstoi hat das Motiv später umgedreht: er lässt den schuldigen Mann, auch er ein Fürst, freiwillig mit nach Sibirien gehen. Die mangelnde Loyalität der Eliten gegenüber ihrem Volk, das sie verachten, die grundsätzlich kolonialistische Haltung der Politik seit Iwan dem Schrecklichen**, die außerdem zeigt, dass eine Terrorherrschaft immer im Chaos endet,  die Rücksichtslosigkeit der Gewaltherrscher, all das steht einem opferbereiten Volk gegenüber, das aber auch immer lange stillhält. Die ‚militärische Spezialoperation‘, die ein Blitzkrieg werden wollte, und die ‚Entnazifizierung der Ukraine‘, die die Übernahme der Regierung in Kiew hätte sein sollen, stammen aus dem demselben Wörterverzeichnis wie der ‚antifaschistische Schutzwall‘, dessen Zaun in die falsche Richtung blickte.

Es geht hier nicht um Glauben. Weder ist es wichtig, was die Diktatoren glaubten und glauben, noch was die getäuschten Völker tatsächlich glauben. Wichtig ist nur, dass die Menschen in einer Art Ruhestellung gehalten werden und sich halten lassen, die noch nicht einmal Loyalität sein muss. Den Russen geht es heute besser als in der als Chaos empfundenen Jelzin-Ära und weit besser als in der Sowjetzeit. Den DDR-Bürgern ging es vergleichsweise im Ostblock besser als allen anderen Völkern, eingeschlossen die Sowjetunion, die angeblich auf einem weit höheren gesellschaftlichen Niveau sich befunden haben soll.  Der 9. Mai, der Tag des Sieges, und der Erdumlauf des ersten Sputniks am 4. Oktober 1957 und die bis 1969 andauernde Führungsrolle der sowjetischen Weltraumforschung haben die Großmachtwünsche der Russen bis heute getäuscht. Denn trotz dieser unbestreitbaren Leistungen ist Russland sowohl von der Größe seiner Wirtschaft als auch vor allem vom technologischen Stand her nur eine Regionalmacht. Russland hat doppelt so viele Einwohner wie Deutschland, aber ein Bruttoinlandsprodukt, das nur halb so groß ist und sich im wesentlichen aus der Ausfuhr von unbearbeiteten Rohstoffen speist. Bisher hatten wir angenommen, dass es über eine riesige Militärmacht verfügt. Nun zeigt sich aber, und das ist ein vielkolportierter ukrainischer Witz, dass aus der zweitstärksten Armee der Welt die zweitstärkste in der Ukraine geworden ist. Und wieder, diese Woche, ist die russische Antwort Extensivierung. Nun will der größenwahnsinnige Präsident die kämpfende Truppe auf anderthalb Millionen Mann vergrößern.

Hinter der verlogenen Erzählung von der ‚antinazistischen Spezialoperation‘ lugt die nächste geopolitische Katastrophe für Russland hervor. Es bleibt zu hoffen, dass sich diesmal Führer finden lassen, die die Herausforderung und die Chance, die sich in solchen Zusammenbrüchen auch zeigen können, begreifen und ergreifen. Die geopolitische Katastrophe wird aber, auf der anderen Seite, vielleicht ein Dutzend instabiler Zwergstaaten mit solchen Gestalten wie Kadyrow hervorbringen, die sich dann die nächsten zwanzig Jahre um die Grenzen und die Pipelines streiten werden.

Wir können nur hoffen, dass der Westen, wir, inzwischen lernen wird, ohne fossile Brennstoffe und ohne Verbrechersysteme auszukommen.

Lasst uns also 100 Milliarden in die Bildung investieren, damit es neue Liebigs, neue Röntgens***, neue Siemens und neue Şahins  geben wird.

*Kurt Goercke, hingerichtet 1961

**1530-1584

***Conrad Röntgen haben wir nicht nur wegen seiner überragenden technologischen Leistung, sondern auch wegen seiner bemerkenswerten Moral aufgenommen

SCHWEDTER PERSPEKTIVE

Es ist bitter kalt an diesem vorweihnachtlichen Tag in der Kleinstadt Schwedt. Nebelschwaden und ein aufkommender Schneesturm verbreiten eine Stimmung wie auf der Bühne von Macbeth. Im Dunst der kriegszerstörten Katharinenkirche – sei sie nun koptisch, orthodox, katholisch, anglikanisch, lutherisch, protestantisch, evangelisch, calvinistisch-hugenottisch, reformiert, altlutherisch, pietistisch, neuapostolisch, adventistisch, baptistisch, bibelforscherisch, scientologisch oder evangelikal – erwartet man eher die Hexen, die Macbeth eine üble Zukunft voraussagen. Das Damoklesschwert möglicherweise bitterer Entscheidungen hängt auch über der kleinen Stadt mit ihrer kaleidoskopischen Vergangenheit: Germanen, Slawen – daher der Name: swet heißt Licht -, deutsche Besiedlung und Christianisierung, dreißigjähriger Krieg, Gustav II. Adolf, der Kriegsgott, der nirgendwo fehlen darf, die brandenburgisch-preußische Nebenlinie als Markgrafen von Brandenburg-Schwedt, für die Bach seine Brandenburgischen Konzerte schrieb, die Garnison, die Juden, die Hugenotten und schließlich die Pipeline, die über 5327 Kilometer Öl aus Sibirien nach Deutschland bringt. Die Pipeline brauchte ein Stadt, die von Selman Selmanagić im Widerstreit mit Walter Ulbricht geplant und erbaut wurde. Alle Diktatoren halten sich kraft ihres Scheinerfolgs und kraft ihrer Pseudoideologie für allwissend und allvermögend, wie auch Ulbricht. So kam es, dass in Schwedt eine Stadt ohne Schulen, ohne Einkaufszentren, ohne Läden und Arztpraxen entstand. Die angeworbenen Menschen waren trotzdem zufrieden, weil sich ihr Leben, sie kamen aus zerfallenden Altstädten mit Kriegsruinen, deutlich verbessert hat. Später wurde die Infrastruktur nachgebessert, die Stadt verlor aber nie ihre steppenartige Weite. Fast nebenbei entwickelte sich eine neue Bourgeoisie, die stolz ihr Kulturhaus (1978), das heutige Theater, und ihr Klinikum (1973) verwaltete.

Im Schwedter Blickwinkel erschießt Woyzeck seine Peiniger. Es ist die ultralinke Schielweise, die sich nicht mehr von der ultrarechten Blindheit unterscheiden lässt. Woyzeck war Soldat, ist traumatisiert, arbeitet für einen Hauptmann, den der Krieg entstellte, und für einen Arzt, der angesichts all des Elends dieser Welt sein Heil in der Wissenschaft sucht. Er testet an Woyzeck neue Ernährungen, die alle mehr als satt machen sollen. Sie erzeugen aber nicht nur schizophrene Schübe, sondern auch Muskelatrophie. Weder dem Arzt noch dem Hauptmann ist das Dilemma der Eliten bewusst: sie verachten, die sie führen sollten. Aber auch Woyzeck versteht nicht, dass er ohne die Eliten, so zynisch sie auch sein mögen, nicht leben kann. Und er will besser leben: er spart für die geplante und dann so gründlich gescheiterte Idylle, sein Leben mit Marie und dem Kind. Marie aber sieht in einer Gesellschaft ohne soziale Durchlässigkeit nur einen Weg nach oben: sich mit dem Tambourmajor einzulassen, der ein Mann wie eine fleischgewordene Idealskulptur und aus einer weit höheren Hemisphäre zu sein scheint.

Das Beseitigen der Peiniger erscheint gerecht, wenn man im genialen Büchner nur den Verfasser von ‚FRIEDE DEN HÜTTEN! KRIEG DEN PALÄSTEN!‘, des Hessischen Landboten also, sieht. Aber Büchner kannte auch die Alternativen. In Gießen hatte er Justus Liebig kennenglernt, vielleicht mit ihm über dessen Ansatz des ESSEN FÜR ALLE HEISST FRIEDEN FÜR ALLE geredet. Der gutartig revolutionäre Brühwürfel löst die Probleme der bösen Welt.  Das tödliche Erbsenexperiment des bornierten Arztes, der nicht Liebig ist, spricht dafür. Büchner wusste aber auch: ‚Jeder Mensch ist ein Abgrund‘ [Woyzeck] und er fragte ‚was ist es, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet‘ [Dantons Tod]. Kurzum, Büchner erkannte: aus allein einem Grund ist die Welt nicht zu verstehen und zu verändern. Wenn man das berücksichtigt, erscheint das Beseitigen der Peiniger als bloße Rache, als erneutes Recht des Stärkeren, des nun erstarkten Schwächeren, als bloße Umkehr. Die Welt wird sich nicht bessern, wenn wir uns verschlechtern. 

Indessen taucht im Nebel der Katharinenkirche eine Glühweinbude auf, vor der ein einziger Mensch steht, und in der eine einzige Menschin Glühwein und Tee anbietet. Der Platz und die Straße sind ansonsten menschenleer. Wie vom Erdboden verschluckt ist das Volk, das doch Weihnachten feiern und die Regierung hinwegfegen will. Wir nähern uns beinahe ängstlich, so einsam und gespenstisch ist die Szene. Wir hätten uns nicht gewundert, wenn eine der drei Macbeth-Hexen uns zugerufen hätte: fair is foul and foul is fair, auch durchaus passend zur Fußballweltmeisterschaft im Land der himmelschreienden Gerechtigkeit. 

Indessen ruft der alte Mann in brutalem Sächsisch, das er sich über sechzig Jahre Schwedt erhalten konnte,  dass die Grünlinge gerade dabei wären, die Erdölraffinerie zu zerstören und zu verramschen. Ich will zu einem heftigen Schlagabtausch ausholen, als um die Ecke, aus der Vierradener Straße ein kleines Häuflein kommt, angeführt von einem Trommler, so wie früher. Sie halten Schilder und Fahnen hoch, darunter die russische und die des deutschen Kaiserreichs. Und sie skandieren, von ihrer Trommel und ihrem Gleichschritt geführt: WIR SIND DAS VOLK UND WIR WOLLEN, DASS KEIN GESETZ SEI!* Ein Fenster öffnet sich und eine dicke Frau ruft wutentbrannt:  Puppen seid ihr, von ungewollten Gewalten am Draht gezogen.* Das Volk, sagt die Frau in der Glühweinbude, das Volk amüsiert sich im Konsumtempel, in der Kaufrauschkathedrale, im Odercenter und genießt dort die Sonderangebote und Rabattverseuchungen. Das Gespenst, das hier umgeht, ist die Dummheit in ihrer Giervariante. Man folgt dem einfachsten Argument: wem nützt es. Aber man kommt nur weiter, wenn man die Antwort manipuliert und fantasiert und beliebig die Amerikaner, die Russen oder gar die Juden einsetzt, hier, wo es sogar eine Jüdenstraße und eine Veit-Harlan-Straße, benannt nach einem Kaufmannsgeschlecht, gibt. Die Schließung der Raffinerie und Beseitigung der Peiniger nützt wahrscheinlich niemandem, vielleicht der Natur noch am meisten. Vielmehr schadet sich der Verursacher wahrscheinlich selbst am meisten. Wir sollten das besser wissen, waren doch unsere Vorfahren auch solche Verursacher von Leid und Pein: ‚Was ist es, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?‘ Ich frage die Frau in der Glühweinbude, wie sie in die Glühweinbude geraten ist. Sie lacht und sagt, dass sie in einer Bürgerkulturinitiative wirkt, eigentlich Ärztin sei und nun in einer Mischung aus Langeweile und Gutestunwollen hier stehe und nicht anders könne. Wir reden, sagt sie, mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit. Wir glauben: MACH, WAS DICH KAPUTT MACHT, GANZ. Das ist die einfache Umkehrung einer allzu einfachen ultralinksrechten Losung von Woyzeck und Rio Reiser, die sich beim Rasieren trafen und dabei zur Trommel sangen: Mach kaputt, was dich kaputt macht. Sie merkten nicht, dass das nur die Kehrseite von bis alles in Scherben fällt** ist  

Im Theater hingegen ist die letzte Szene, das Finale, herangereift. Marie ist wieder auferstanden. Sie meuchelt nun ihrerseits Woyzeck, um es eine Sekunde später zu bereuen. Zu sehr ist der moderne Mensch, sind wir, daran gewöhnt, canceln zu können, zurückzuspulen, zu resetten. Alle träumen vom großen Reset. Wer hat nicht alles den neuen Menschen erfunden oder erfinden wollen, statt die Welt wenigstens ein My zu verbessern. Der ‚neue Mensch‘ war immer nur Rechtfertigung für die Beseitigung des alten Menschen. Man kann sich Menschen und Welten nicht aussuchen. Aber die Stolpersteine zeigen, dass man Menschen, unsere Schwestern und Brüder, auch nicht beseitigen kann. Die Namen haben sich eingebrannt. Ihr Erbe steht zwischen ihnen und uns: die gestohlenen Möbel, das Zahngold und die Asche.   

 *Dantons Tod von Georg Büchner

**Nazi-Lied von Hans Baumann ‚Es zittern die  morschen Knochen

17. Dezember 2022