Diese radikale Sicht ermöglicht ein moralisches Maximum, vergisst aber, dass der so verteufelte Kapitalismus nicht nur die Produktions- und Kapital-, sondern auch die Konsumentenseite hat. Ohne Konsumenten gibt es keinen Profit. Man kann den Kapitalismus eben nicht durch die Revolution des Kapitals, sondern nur durch die Evolution der Konsumenten verändern.
Auf dem Land – im Osten – gibt es viele alte, zum Teil historische Gebäude. Wenn sie in der alten DDR auch genutzt wurden, dann fällt auf, dass sie sehr unstilish erhalten, gepflegt und umgebaut wurden. Verschiedene Plastikfenster, Vordächer aus Wellplastik, Dächer gar aus Asbest, zugenagelte oder zugemauerte Türen. Das ist wohl nicht darauf zurückzuführen, dass es im Osten keine Ästheten gab, sondern darauf, dass die Buchhalter herrschten. Und sie verwalteten die leeren Kassen. Deshalb verfielen nicht nur so viele Gebäude auf dem Land, sondern ganze Altstädte. Bis dann Günter Mittag auf die Idee kam, alles Alte einfach wegzubulldozern und dafür überall die schönen suburbs aus Plattenbauten hinzustellen. Kulturbolschewismus.
Ein Fünftel unserer Bevölkerung jammert über den Zustand der Bevölkerung: sie erscheint ihnen nicht mehr homogen genug, sie kommt ihnen vor wie eine Patchwork-Familie, nur eben viel größer. In der DDR, die sich ja immerhin doch noch ein paar Leute zurückwünschen oder jedenfalls verklären, war es umgekehrt. Es gab eine fast homogene Bevölkerung, aber ein Patchwork-Staatswesen. Allerdings war die Gleichartigkeit etwas vorgetäuscht, denn unter uns lebten eine halbe Million sowjetische Besatzungssoldaten und eine unbestimmte Menge gut versteckter Gastarbeiter aus Vietnam, Kuba, Mozambique und Angola, Studenten aus Algerien und dem Irak, Flüchtlinge aus Chile und Palästina. Aber man sah sie kaum: hidden folks.
Der Staat indessen war eine krude Mischung aus Nazistaat, Sowjetsystem, österreich-ungarischer Korruption auf Tauschbasis, Scheindemokratie und Alkoholismus. Zwar gab es nicht solche hohen Nazis wie im Westen in neuen Funktionen, aber auf der unteren Ebene waren sie unvermeidbar. Das Sowjetsystem hat sich vor allem in der Kollektivierung der Landwirtschaft, aber auch in der Staatssicherheit und in den endlosen Titeln gezeigt. Die Titel konnten aber auch Kopien aus der KuK Monarchie sein. Das merkwürdigste Patchwork-Element war aber die Tauschwirtschaft. Mangelwirtschaft und Geldüberfluss, eine wertvollere Zweitwährung und auch ein gewisser Kult der gegenseitigen Bauern- und Nichtbauernhilfe* führten zu einer Schattenwirtschaft, die selbst vor Funktionären des System nicht halt machte. Soundsoviel blaue Fliesen aus Boizenburg wurden gegen soundsoviele Rollen Raufasertapete aus Erfurt getauscht. Blaue Fliesen waren aber gleichzeitig der Geheimcode für die blauen Hundert-DM-Scheine, ungeachtet, dass 100 Ostmark auch mit einem blauen Schein zu haben waren. Autoersatzteile und auch ganze Autos waren vielleicht neben Fliesen die größten Posten auf dem Tauschmarkt. Bei Autos wurde nicht nur der Preis in Zahlung genommen, sondern auch die Wartezeit geldwert umgerechnet.
Ein Maximum an Patchwork oder Eklektizismus steht einem Maximum an Staatshomogenität und Perfektionismus entgegen. Dafür ist ein wunderbares Beispiel die Bürokratie des neuen Deutschlands. Wer zum Beispiel ein Haus bauen will, geht nicht zum Amt und wird beraten, sondern er kommt ratlos wieder und muss sich einen oder mehrere Berater nehmen. Das Berater- und Nachhilfewesen muss in der perfektionistisch-staatshomogenen Gesellschaft zwangsläufig durch Berater gestützt werden, weil ein System aus Normen, Gesetzen und Verordnungen zum unnavigierbaren Jungle wird. Das Gegenteil war die Bauordnung des zur Megastadt wachsenden Istanbul: wer in einer Nacht eine Haus erbaute, brauchte dafür keine Genehmigung. Die Häuser heißen heute noch: gecekondu.
Menschen unterscheiden sich also mehr nach den Staatssystemen, aus denen sie kommen. Aber die Wirkung ist die gleiche wie bei verschiedenen Hautfarben: alles mischt sich immer wieder neu.
Die Suche nach der verlorenen Homogenität ist vergleichbar mit dem Weihnachtsparadox: je weiter Weihnachten in der Erinnerung zurückliegt, desto perfekter wird es. Auch die Homogenität gab es nur in der frühen Kindheit: weil wir da noch keine Unterschiede sehen konnten. Perfektes Weihnachten gab es nur, als wir klein waren: da waren die Geschenke am größten.
Die alles überschattende Frage ist immer wieder: wie lange halten sich die Reiche? Das Nazireich, auf 1000 Jahre konzipiert, dauerte schließlich zwölf viel zu lange Jahre. Der Ostblock, als Ende der Geschichte gedacht, brachte um die 70 Jahre auf die Waage, davon die DDR 40, Äthiopien nur 16 harte Jahre einer 3000jährigen Geschichte. Das Römische Reich brauchte immerhin 500 Jahre, um untergehen zu können, verschwunden ist es bis heute nicht. Das lässt doch hoffen.
Warum haben sich eigentlich die Afrikaner früher nicht über das bösartige Verhalten ihnen gegenüber beschwert? Die Frage zeigt nicht nur, wie dumm sie ist, sondern auch unser heutiges Dilemma: wir müssen entweder zunehmend auf unser oft gedankenloses, oft aber auch bösartiges Verhalten verzichten oder aber wir werden dümmer als unsere Vorfahren dastehen. Beides scheint uns nicht wünschenswert.
Die Frage, ob unsere Vorfahren hätten wissen können, wie falsch und schädlich ihr Verhalten ist, scheint müßig, denn es kann nicht darum gehen, sie nachträglich zu verurteilen. Es geht überhaupt nicht um verurteilen oder anordnen, sondern um einsehen. Unsere Vorfahren wussten, was sie taten oder hätten es wissen können. Sie sind nicht entschuldigt, aber gerechtfertigt durch ihre Eliten, die Mord, Totschlag, Krieg und Rassismus als Herrschaftsinstrument benutzten und damit legitimierten. Rassismus in diesem Zusammenhang ist allerdings ein anachronistischer Begriff, denn er wurde erst nach 1444 erfunden, um seinerseits die Sklaverei zu legitimieren. Das Gebot der Nächstenliebe musste durch die vermeintliche Minderwertigkeit der zu Versklavenden umgangen werden. Der Unterschied zwischen der antiken und der mittelalterlichen Sklaverei ist übrigens die Zahl der Flüchtlinge und der Aufstände. Es gab sie praktisch auf jedem Schiff, weshalb außerdem noch der Mord als demonstrative Strafe gerechtfertigt werden musste. Bis 1444 konnte man auf jedem Altarbild, das die Geburt von Yesus zeigte, einen afrikanischen König sehen, der dem kleinen Propheten Gold, Weihrauch und Myrrhe darbrachte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass der dritte König minderwertig sein könnte. Trotzdem wurden zweitausend Jahre nach ihm Afroamerikaner ohne Grund von Euroamerikanern erschossen. Übrigens: auch mit Grund darf ein Polizist keinen Menschen erschießen.
Die Hautfarbenbezeichnungen und die dazugehörigen Qualifizierungen wurden im Laufe der auf den Beginn des Sklavenhandels (1444) folgenden Jahrhunderte entwickelt. Und da sie sich bis heute gehalten haben, wenn auch Morde seltener wurden, da überhaupt mit steigendem Wohlstand und deutlich verbesserter Bildung die Kriminalität sinkt, müssen wir versuchen die täterbegleitende Sprache zu beenden.
Eine Umbenennung der Berliner Mohrenstraße scheint daher dringend geboten, zumal es – außer Gewohnheit – keinen plausiblen Grund zur Beibehaltung dieses Namens gibt. Wir wissen noch nicht einmal den Grund der Benennung. Es ist möglich, dass der Schwedter ‚Kammermohr‘ tatsächlich ein Haus in dieser Straße bezog, genauso wahrscheinlich ist es aber, dass Mitglieder der damals fälschlich Janitscharenmusik genannten Militärkapelle diesen Weg zum Schloss nahmen. Janitscharen waren Eliteeinheiten des osmanischen Heeres, dessen Militärmusik Mehterhane hieß. Damals nahm man auch an, dass der Kaffee türkischen Ursprungs sei (C-A-F-F-E-E trink nicht so viel Kaffee, nicht für Kinder ist der Türkentrank…). Man hatte wohl nicht bemerkt, dass das Osmanische Reich ein Vielvölkerstaat war, wie auch Russland und Österreich.
Auch ein solcher ‚Kammermohr‘, ein Hofbelustiger, war Anton Wilhelm Amo. Solange er unter dem Schutz seines Braunschweiger Herzogs stand, konnte er sich bilden und dozieren. Aber als die Gunst verschwand, konnten ihn auch seine Magister- und Doktortitel nicht vor Spott und unverhohlenem Rassismus retten. Er hatte gewagt, eine Europäerin heiraten zu wollen.
Auf diese Isolation der gekauften oder gefangenen Afrikaner hatten wir schon [in Nr. 367] angesichts der vier Afrikaner in der Kirche der Grafen von Schwerin zu Putzar hingewiesen. Exotik erschauerte die Menschen, so wie damals auch Behinderte auf den Jahrmärkten zur Belustigung ausgestellt waren, von Gleichheit, nach der das Jahrhundert schrie, war keine Spur zu sehen.
Das Unrecht vergangener Zeit kann man nicht tilgen, aber man kann seine Fortführung verhindern. Der hochintelligente und hochgebildete Anton Wilhelm Amo hätte diese späte Rehabilitierung mehr als verdient. Die bösen Worte ‚Mohr‘ (abgeleitet von den Mauren, Mauretanien ist der letzte offen rassistische und sklavenhaltende Staat der Welt) und ‚Neger‘ (abgeleitet von lateinisch niger = schwarz, aber im Sklavenhandel und noch mehr im Kolonialismus übelst beleumdet) müssen wir endlich aus unseren Worten und Gedanken bannen.
Diese sprachlichen und begrifflichen Umbrüche sind ein Kind des demokratischen Fortschritts. Manchmal scheint es, als würde die Demokratie gar nicht merken, was sie anrichtet: mehr Demokratie.
Die ständige Verwechslung von Behörden (und ihren Anordnungen) und der Politik (meist meinen wir dann die Bundesregierung) könnte auch ein unseliges Erbe aus der DDR sein gekoppelt mit dem ‚BILD‘-Jargon: ‚Schocknachricht‘, ‚Ausweisung‘ ergibt es dann die Verwirrung, die wir bei einer winzigen Minderheit erleben. Nur so ist es zu erklären, dass immer wieder einzelne Menschen an ihrem Land und seiner Regierung verzweifeln, eigentlich aber örtliche Anordnungen und Gepflogenheiten meinen. Überall, wo der Bürokratie (oder überhaupt jemandem) Entscheidungsbefugnisse übertragen werden, wird es auch Fehlentscheidungen geben, so wie es überall Fehler gibt, wo etwas getan wird. Bildung, Demokratie und Medien haben gemeinsam dafür gesorgt, dass viel mehr Menschen eine Meinung haben und äußern können. Aber diese neue Freiheit trifft auf den alten Führerwahn: man glaubt, wenn etwas geschieht, sei ein Führer verantwortlich, und man sucht sich, damit etwas geschehe, neue Führer. Alle Autoritätsbefürworter glauben an den Staat und an Hierarchien. Alle Staatsgläubigen sehnen sich nach Autorität und Hierarchie. Alle, die an Hierarchien glauben, glauben auch an den Staat und an die Allmacht der Autorität. ‚Merkel muss weg‘ zeugt also nicht nur von einem archaischen Demokratieverständnis, sondern paradoxerweise auch von einer überdimensionierten Sehnsucht nach der Staatsautorität. Autorität verwechselt sich selbst aber immer mit Kompetenz. Es wird, um die Unfähigkeit der Bundesregierung zu zeigen, ein Chefarzt aus Neubrandenburg zitiert, gegen den wir hier nichts sagen wollen, denn er wird selber wissen, ob er aus Kompetenz oder aus Eitelkeit sprach. Es gibt in Deutschland aber 2000 Krankenhäuser und demzufolge zwischen zehn- und zwanzigtausend Chefärzte. Würden wir also all ihren Vorschlägen folgen wollen, müssten wir die Coronakrise auf zehntausend Jahre ausdehnen. Dann wüssten wir, was zu tun ist. Jede Krise erfordert Handeln, aber nicht jedes Tun ist auch erfolgreich. Manche Leute scheinen das zum ersten mal zu hören.