MERKELISMUS ODER TEAR DOWN THIS WALL

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Nr. 281

Sollte Merkel die laufende Legislatur nicht überstehen, so werden ihre Kritiker sagen, dass sie an ihren Fehlern scheiterte. Ihre Befürworter aber können triumphieren: ein solch langes Scheitern hat es in der deutschen Politik noch nie gegeben. Möglicherweise erhält sie sogar eine eigene Kategorie (wie Quislinge, Gaullismus, Reagonomics, Thatcherismus): Merkelismus. Darunter würde man eine autokratische Herrschaft verstehen, die die Demokratie nicht beschädigt.

Die meisten Autokraten können und wollen mit Demokratie nichts anfangen, weil sie glauben oder glauben wollen, dass jede Mitsprache zu Mitbestimmung und damit zu Schwächung führt. Oppositionspolitiker, Journalisten, dann Generäle und Richter werden entlassen, eingesperrt oder gleich erschossen. Die nächste Stufe ist ihre Diskreditierung als Agenten eines feindlichen Systems. Und schließlich wird die Demokratie selbst als unfähig und schädlich für das Volk denunziert, welches diesen einen wunderbaren Führer verdient hat, wenn es ihm folgt. Das Volk ist immer, wer folgt. Jeder, der eine Gesellschaft auch nur einigermaßen nüchtern betrachtet, sieht, dass es Volk immer nur als definierte Menge geben kann, zum Beispiel als Staatsvolk, nie aber als ein undefinierter und undifferenzierter Brei von Menschen, die ihre Interessen aufgeben. Wer glaubt, dies träfe nur auf afrikanische oder lateinamerikanische Gesellschaften zu, fahre nach Belgien. Andersherum gesagt: es gibt deshalb verschiedene Politiker und Politikansätze, weil es Menschen mit verschiedenen, aber jeweils legitimen Interessen gibt. Die pluralistische Gesellschaft ist keine Gnade, die von oben gewährt wird, sondern Basisdemokratie, von unten gewachsene Vielfalt. Das Erschrecken über den von den Rechten so genannten Genderwahn ist die Ablehnung des Pluralismus. Sie glauben, Pluralismus sei gemacht, um die alte Ordnung zu stürzen. Unterdrückung ist Chaos, nicht Ordnung.

Jedem, der die Welt betrachtet, könnte klar sein: in den meisten Ländern geht es demokratisch zu, allerdings in verschiedenen Graden, Abstufungen oder sogar Arten. Die USA, eines der ältesten demokratischen Länder, haben die meisten Strafgefangenen und die meisten Opfer von Mord und Totschlag. Deutschland und Japan sind das ziemliche Gegenteil davon, unterscheiden sich aber deutlich im Arbeits- und Sozialsystem. Skandinavien ist die Musterschülergegend. Dass aber auch die Diktaturen und Autokratien divers auftreten, wird wohl erst jetzt richtig deutlich. Solange wir vor allem über Hitler, Stalin und Mao Tse Tung geredet haben, erschien Diktatur eineindeutig. Aber schon Piłsudski und Petain waren eine kategoriale Herausforderung. Putin, Erdoğan und Rodrigo Duterte stellen uns vor interpretative, aber sogar auch wirtschaftliche Schwierigkeiten, von den König Salman, einschließlich Kronprinz Mohammed, und Reformkönig Mohammed VI. ganz zu schweigen.

Am äußersten Rand der Demokratie, da wo sie in die Unbeweglichkeit übergeht, herrscht der Merkelismus.

Alle drei größeren CDU-Kanzler, Adenauer, Kohl und Merkel, hatten Rudimente des Autoritarismus in ihrer Amtszeit. Adenauer, dessen politische Begriffe aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten, in dem er sein Studium und sein Referendariat abschloss, hatte kein Problem mit den Nazis Globke und Gehlen oder der Schließung der SPIEGEL-Redaktion. Zu seiner Entlastung muss man sagen, dass er seiner ersten Wahl 73 und bei seinem Rücktritt bereits 87 Jahre alt war. Kohl, von dem der schöne Brauch und auch das Wort ‚Aussitzen‘ stammt, was auch nicht gerade der Inbegriff demokratischen Handelns ist, erwies sich zum Schluss als Inhaber völlig veralteter und undemokratischer Moralbegriffe. Sein ‚Ehrenwort‘ in der Spendenaffäre galt ihm mehr  als der Rechtsstaat und dessen politische Würde. Er war zur Karikatur seiner selbst geworden.

Merkel stammt aus der DDR, was mit ihrem Demokratieverständnis insofern nichts zu tun hat, als sie erst 1989 und eher zufällig in eine politische Laufbahn geriet. Darüber hinaus ist es völlig albern, ihr ihre Tätigkeit, wenn es überhaupt eine war, in der FDJ vorzuwerfen. Das waren formale Funktionen, die fast jeder Mensch in der DDR einmal kurz innehatte. Ihre Gegner wollen ihr etwas vorwerfen, wissen aber nicht, was. Denn eigentlich verkörpert Merkel den Typ Politiker, den auch sie bewundern, dessen Autorität nicht aus dem Charisma, sondern aus dem Autoritarismus stammt.

Seit wann wurde Merkel als bedeutende Politikerin wahrgenommen? Seit der Finanzkrise mit der Bankenrettung und der Griechenlandkrise mit den Bürgschaften und der schleichenden Übernahme der griechischen Wirtschaft. Viele Menschen haben aber nicht das autoritäre an diesem neuen Agieren bemerkt, sondern das angeblich oder tatsächlich geflossene Geld. Die meisten Menschen haben keine Ahnung von Geld. Das ist auch nicht schlimm, weil sich niemand (niemand!) eine oder gar dreikommaneunacht Billionen Euro vorstellen können. Mit der Zahl Tausend hört unser Vorstellungsvermögen normalerweise auf. Das Wort Bankenrettung ist heute noch ein Pejorativ. Noch plastischer war ihr neuer Regierungsstil bei der Abschaffung (offiziell: Aussetzung) der Wehrpflicht zu beobachten. Während die CDU jahrelang die Wehrpflicht zu einer heiligen und nationalen Mission erklärt hatte, erschien es so, als ob der steinreiche und hochadlige Verteidigungsminister Reichsfreiherr von und zu Guttenberg im Alleingang diese dringend notwendige Modernisierung vorgenommen hätte. Dass er dann über seine wahrscheinlich gekaufte Dissertation, die er nicht nur nicht geschrieben, sondern auch nicht gelesen hatte, stolperte, bestätigt nur, dass Merkel damals schon bereit war, für den neuen Politikertyp (Macron, Kurz, Lindner, Kühnert, Trudeau) Platz zu machen, gleichgültig ob mit oder ohne Doktortitel. Fast noch deutlicher war die Wende in der Kernkaftwerkspolitik. Auch hier verharrte die CDU Jahrzehnte auf einem völlig überholten und schädlichen Standpunkt, da wir weder die Risiken der Atomkraft einschätzen noch die Brennstäbe entsorgen können. Der Tsunami, der das japanische Kraftwerk Fukushima hinwegfegte und unermessliches Leid brachte, drehte auch die Kanzlerin um hundertundachtzig Grad, ohne jemanden oder gar ein Gremium zu befragen.

Europa und Deutschland wurden schließlich gespalten durch ihren zum soundbite* verkommenen Satz aus der Bundespressekonferenz vom 31.August 2015:  Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das! Statt dessen wird der stark verkürzte Satz heute eher als ein Befehl einer überdrehten Kanzlerin zitiert: Wir schaffen das, wir haben das zu schaffen, wenn ich das will. Gerade ihre erbitterten Gegner im rechten Lager, denen die Art gefallen müsste, hören sozusagen das Gegenteil. Wenn Gauland als Bundeskanzler rufen würde: Wir schaffen das nicht, schließt die Grenzen!, würden sie jubeln. Aber was wäre das für ein Land? Dann wäre Deutschland ein schwaches Land, das in einer Krise paranoid reagiert, dessen Autoritarismus dann tatsächlich Befehlscharakter hätte.  Denn, erinnern wir uns an den Spätsommer 2015, als die Kanzlerin uns ermutigen wollte und als Millionen Menschen zu den Bahnhöfen und in die provisorischen Flüchtlingsheime strömten um zu helfen. Das war gemeint mit: Wir schaffen das!

Die Demokratie ist hingegen durch Merkel nicht angetastet worden. Fast könnte man sogar sagen, das Merkel-Paradoxon besteht darin, durch ihren autoritären, personalen Leitungsstil die Demokratie länger erhalten zu haben als das im Moment möglich ist. Allerdings erleben wir nicht das Ende der Demokratie, sondern eine Krise.

* ein anderer soundbite, nur wenige Meter von Merkels Satz entfernt gesprochen, war ‚tear down this wall‘. Reagan meinte am 12. Juni 1987 natürlich Mr. Gorbatchev, aber wenn wir heute die Welt meinen, wird der Satz nur noch richtiger.

HEIMAT II

 

Nr. 280

Ich bin in eine Gruppe hineingeboren worden, die weder eine Familie war, noch eine Heimat hatte. Wie gehetzt zog sie von einer brandenburgischen Kleinstadt in die nächste. Als ich fünf Jahre alt war, stand ich auf dem Turmbahnhof der Kleinstadt Doberlug-Kirchhain, deren sorbischen Namen die Nazis in einen deutschen gewandelt hatten, auf dem Weg zu meinen französisch benannten Verwandten. Dort glaubte ich zum ersten Mal, die Welt verstanden zu haben: es kreuzten sich zwei Bahnlinien der Nordsüd- und der Ostwestrichtung. Um die Welt zu verstehen, benötigst du n! Fakten und Synapsen – und schon hast du es. Wem die Zahl zu hoch erscheint, der lege erst einmal immer die doppelte Anzahl Fakten und Synapsen auf die Felder seines Schachbrettes. Damit kannst du jeden Großmufti in dir überwinden.

In diesen Kleinstädten gab es Vertriebene, die bei uns im Osten aber Umsiedler hießen, und bei denen es Mittagessen aus Schlesien, Ostpreußen, Hinterpommern und dem Warthe- und dem Sudetengau gab, ja, sie sagten Sudetengau, obwohl in der Zeitung Bruderland stand. Wie eine Antizipation des in der gegenwärtigen Jugendsprache wieder üblichen und fast inflationären Wortes Bruder, das der Bibel, Schiller und dem gesamtdeutschen Vokabular genauso vertraut war wie der sozialistischen Propaganda, kommt mir heute das merkwürdige Wort Bruderstaat vor. Denn der Staat ist niemandes Bruder. Nur der Bruder kann dem Bruder Bruder sein. Da ich keinen Bruder hatte, musste ich mir welche suchen.

Wir wohnten dann in einer Kleinstadt mit einer Russenkaserne. Die Soldaten waren eingesperrt. Wenn sie flohen, flohen sie nicht immer vor dem Sozialismus und der Mangelwirtschaft ihrer Blechnäpfe, sondern oft auch, was ich damals noch nicht wusste, vor der Dedowtschina genannten grausamen Herrschaft der dienstälteren über die blutjungen, wie Kinder wirkenden Soldaten. Tödlichen Ausgang der Dedowtschina gibt es auch heute noch.

Die Offiziere konnten sich zwar frei bewegen, aber sie waren geächtet und sie verachteten die Deutschen. Meine ersten Worte in einer fremden Sprache habe ich dort im gemeinsamen Spiel mit den Kindern der Offiziere erlernt und auch am Abendbrottisch. Sie waren sehr freundlich, aber die Väter wollten immer wissen, was mein Vater im Krieg gemacht hat. Zum Glück hatte ich keinen Vater, jedenfalls kannte ich keinen. Noch schlimmer ging es meinen Cousins: sie hatten keine Mutter, denn die war in Russland im Gulag. Aber das sagte man hinter vorgehaltener Hand.

Der erste Afrikaner, mit dem ich lange Gespräche führte und der viele Wochenenden bei mir verbrachte, war ein Partisan aus Südrhodesien, der in der DDR geschult wurde. Er zeigte mir an der Havel, wie er am Sambesi den Krokodilen entkommen war. Auf dem zugefrorenen Ruppiner See lief er und rief er: I am Jesus! Sein Pech war, dass er dem falschen Volk angehörte. Die Anhänger des bis vor kurzem dienstältesten und neben Isaias Afewerki und Kim Jong Un absurdesten Diktators der Welt erschossen ihn, als er in seine Heimat Zimbabwe zurückkehrte, um sie zu befreien.

Es hat mir sehr geholfen, dass meine ersten wirklich schönen und vertrauten Städte im Ausland zwei deutsche Städte waren: Danzig und Hermannstadt. In Danzig verschwanden damals gerade die Kaschuben, deren Verwandte ich aus Lübbenau kannte, und immer wieder geben sich Menschen zu erkennen, die auf der Gustloff oder auf der Kap Arkona Königsberg, Danzig oder Stettin entkommen konnten. Viele Jahre bereiste ich Siebenbürgen, sah noch die Geschlechtertrennung in den Dorfkirchen und die Äpfel an den Weihnachtsbäumen. Jetzt, ein Viertel Jahrhundert nach dem Exodus der Siebenbürger Sachsen zurück in die Heimat, wie sie sagen, obwohl sie heute noch von der süßen Heimat Siebenbürgen singen,  stürzen auch die Türme ihrer schönen, schönen Kirchenburgen ein.

Was ich also seit dem Turmbahnhof, der Russenkaserne, dem schlesischen Himmelreich und der Lügenbrücke in Sibiu  verstanden zu haben glaubte, war die Bikulturalität, wenn nicht sogar die Multikulturalität, obwohl es das Wort noch gar nicht gab. Ich bleibe im Konjunktiv, weil es einen Indikativ der Zukunft nicht geben kann.

Das Gegenargument wäre der uralte Pejorativ vom vaterlandslosen Gesellen. Ich dagegen glaube, dass es viel schwerer ist, Heimat als einen unverwechselbaren, monokulturellen Ort zu bestimmen, als anzuerkennen, dass wir jedes Fleckchen Erde mit anderen teilen.

Hört man sich Nationalhymnen oder Regionallieder an, so wird in jedem Song das Gleiche besungen und beschworen: das Vaterland, die Muttersprache, die Kindheit, die Wälder, Wüsten, Täler, Höhen, die süßer nie klingen als an eben dieser einen einzigen Stelle, von denen es unzählige gibt. Gläubige glauben zudem, dass ihre wahre Heimat im Jenseits ist. Kein Ort ist so schön, dass man nicht einen zweiten kennen würde. Also ist Heimat auch Gewohnheit, Erinnerung, Prägung. Man könnte von einem topical imprinting sprechen: wir sind von dem Ort geprägt, den wir zuerst gesehen haben. Später sagen wir: das ist unsere Heimat. Die meisten Menschen sagen: das war meine Heimat. Immer mehr Menschen sagen: das wird meine Heimat, weil Migration keine Ausnahme ist.

Man muss noch einen Gesichtspunkt bedenken. Die meisten Menschen früherer Zeiten waren an einen Ort gebunden. Für sie war Heimat immer auch Gefängnis. Ihre weiteste Reise war in die Kreisstadt. Urlaub gab es für die allermeisten nicht. Eine wichtige Quelle der Fernerkundung waren der Militärdienst und der Krieg. Er speiste Fremdenangst und Völkerhass, aber auch Neugier und Sprachkenntnis. Trotzdem kennt jeder die Geschichten, wie im ersten Weltkrieg die Waffen schwiegen und stattdessen plötzlich Weihnachtslieder erklangen. Das bekannteste Weihnachtslied seit zweihundert Jahren ist: Silent Night. Wenn man es von Mahalia Jackson gesungen hört, kann man ihre und seine Heimat vergessen.

Von dem großen Weltreisenden und Welterforscher Alexander von Humboldt stammen zwei schöne Erkenntnisse: dass es nämlich keine Weltanschauung ohne Weltanschauung geben könne und dass alle Menschen, die er getroffen habe, und das waren solche in allen Weltgegenden, gleich intelligent und emotional gewesen wären. An diesem Beispiel kann man auch lernen, dass eine Gegend, in diesem Falle Berlin, sowohl Heimat des größtmöglichen Kosmopolitismus, heute würden wir eher sagen größter Multikulturalität sein kann, wie auch Herd und Heimat maximaler Menschenverachtung.

Man kann also auf der einen Seite beklagen, dass Menschen an einem zufälligen Örtchen kleben. Man kann genauso beklagen, dass andere Menschen keinen solchen Ort haben. Nie war es aber richtig oder gut, Menschen für den Ort, die Hautfarbe, den Zufall ihrer Geburt zu verurteilen oder sogar zu bekämpfen. Im Falle des Mordes sollte man allerdings neu bedenken: ein Mord ist immer eine infame Tötung aus Berechnung, aus niederen Beweggründen, dazu zählen auch Mordlust und Sexualität, mit Häme und nach Plan. Warum muss man also die falschen und widerwärtigen Motive der Mörder sprachlich konservieren? Es gibt keine ‘rassische’ oder ‘rassistische’ Verfolgung. Es gibt keine Rassen. Es gibt keine Heimat. Niemandem gehört ein Land.

TRIVIA:

Alle Menschen waren/sind/werden Brüder/Schwestern. Du sollst deines Bruders Hüter sein. Die Grenze zwischen Nomaden und Sesshaften verläuft in den Menschen, nicht zwischen ihnen. Ich bin, weil wir sind: Ubuntu. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Es gibt nur eine Erde. Geld kann man nicht essen. Man ist als Mensch vergessen, wenn man nichts hinterlässt, was überall gilt. Wetteifert um gute Taten. The more I give the more I have.  Getan ist, was du tust, nicht, was man dir tut.

[Randbemerkung der Randbemerkung: Jugendliche erfanden das Rad, eine Frau war der erste Autofahrer, ein Linkshänder relativierte das All, ein Schwarzer kreierte die moderne Musik und ein Schwuler den Computer. Hört auf, euch zu feiern.] 

HEIMAT

 

Nr. 279

Heimat ist ein typisch deutsches, unübersetzbares Wort, so wie Sehnsucht oder Heimweh. Aber haymatlos ist ein türkisches Wort. Das heißt, dass andere Sprachen dieses unübersetzbare, diese mystische gerne übernommen haben. Heimat meint eine Idylle, die aber, wenn sie zerbricht, Splitter von Hass hinterlässt. Solche Idyllen sind immer ahistorisch und tautologisch wie Regelwerke, also weder wahr noch evident.

War es nicht vielmehr so, dass die Menschen, als sie noch mehrheitlich und aus Existenzangst an Orte gebunden waren, den Begriff Heimat als einen Trost gegen die Angst des Existenzverlustes verstanden? Hieß Heimat damals nicht: nicht in den Krieg müssen, nicht vor dem Krieg, vor dem Hunger und vor der Pest fliehen müssen? Hieß es nicht bleiben müssen, aber leben können. Das gleiche Dilemma, aber umgekehrt, durchlebt der moderne flexible und mobile Mensch: er kann besser existieren, wenn er sein Haus verkauft und die besser bezahlte Stelle tausend Kilometer entfernt übernimmt. Tausend Kilometer waren früher die ferne, die unerreichbare Weite, wochenlanges Reisen. Heute ist man nicht nur in ein paar Stunden da, sondern findet dort die gleichen Lebensbedingungen vor wie zuhause. Ist es das, was die Heimatschützer bedauern?

War es nicht vielmehr so, dass die Allmacht des Krieges in Europa zwar vor siebzig Jahren endete, aber die Flucht und Vertreibung den Heimatbegriff mehr besetzten als die neu gewonnene Mobilität? Leider hat diese Flucht und Vertreibung, deren Ausmaß so groß war, dass man von einem Jahrhundert nicht nur des Völkermords, sondern auch der Völkerflucht sprechen muss, gezeigt, dass nicht etwa nur das tatsächlich fremde und exotische Leben abgelehnt wird, sondern auch seinesgleichen, wenn es von fernher kommt. Genauso stellte sich heraus, dass man unter ‚Zigeunern‘ nicht Juden, Sinti, Roma und Jenische meinte, sondern vermeintlich heimatlose Nomaden. Andererseits war Heimatlosigkeit gleichzeitig ein Opferbegriff.

War es nicht vielmehr so, dass Heimat einfach ein volkstümliches Synonym für Konservatismus war, für eine geschichtsvergessene Vergangenheitssucht? In einer ahistorischen Heimat lebte nach dieser Vorstellung ein homogenes, sich immer gleich (‚treu‘) bleibendes Volk. Es wurde, teils mit Absicht, vergessen, dass wir nicht nur in einer Wirklichkeit leben, sondern auch immer in dem Narrativ derselben. Das Narrativ nennen wir dann Ideologie, wenn wir es strikt ablehnen oder aber wenn es uns als das einzig richtige erscheint oder erscheinen soll. Aber wer will das zum Schluss noch unterscheiden können? Lebt man in einer Autokratie, so scheint einem deren Feindbild plausibel, weil wir schon als Individuen lieber an die Schuld der anderen glauben. Lebt man dagegen in einer pluralistischen Gesellschaft, so flüchtet sich der von ihr überforderte oder vernachlässigte Teil gerne in Verschwörungstheorien, die keineswegs neu sind. Geblieben sind uns die Worte und Bilder Sündenbock, Brunnenvergifter und Drahtzieher, die Befürchtung von der Entführung der Kinder und der sexuellen Übergriffe durch fremde hochpotente junge Männer. Mit dem Drahtzieher ist keineswegs der Beruf gemeint, der lange Zeit Spezialwissen und große Geschicklichkeit erforderte und in Altena im Sauerland sein Zentrum hatte. Wir meinen damit den ebenfalls fast ausgestorbenen Marionettenspieler. So viele Menschen können sich nicht in einem System systemloser Zufälle vorstellen. Sie blenden Schicksalsschläge und jahrzehntelange Erfolglosigkeit aus und glauben sich ihres Glückes Schmied.  Ganz sicher kommt diese Vorstellung aus der Kindheit, wo wir wirklich so weitgehend von unseren Eltern abhängen, dass wir unser ganzes Leben von ihnen, die längst tot sind, geführt werden wie Marionetten.

Wer an solch eine Heimat glaubt, der stellt sich eine ahistorische, tautologische Leere vor, die genauso wenig zurückkommt wie das Weihnachten unserer Kinderzeit. Besser ist es, sich das Heimatdorf oder den Herkunftsstadtteil als soziales Biotop vorzustellen, in dem, wie von Darwin beschrieben, alles miteinander vernetzt ist, nicht als Zweck-, sondern als Verhaltensgemeinschaft. Teleologische  Modelle des achtzehnten und utilitaristische des neunzehnten Jahrhunderts mag man als Vorboten der Freiheit begrüßen. Nur in solch einem sozialen Biotop lässt sich das Paradox lösen, dass wir nach Freiheit streben, aber Ordnung brauchen, dass Ordnung aber, je weiter sie Raum und Herrschaft gewinnt, Freiheit geradezu erstickt. Nur in solch einem vernetzten Raum kann sich das Individuum und mit ihm die Kreativität entwickeln, ohne an sozialer Beziehungs- oder gar Hilflosigkeit zugrunde zu gehen. Damit einher geht allerdings ein schleichender Prozess der Atomisierung sowohl der sozialen Beziehungen als auch der Kommunikation. Auf der einen Seite sitzen vereinsamte alte Menschen in Pflegeheimen, auf der anderen Seite gehen junge Menschen unter dem Schirm ihrer Kopfhörermusik durch überfüllte Städte. Während aber die allermeisten jungen Menschen ihre Kopfhörer sofort abnehmen, wenn sie angesprochen werden, können die meisten alten Menschen nicht mehr aus ihrem Pflegeheim entspringen, sie sind zudem Gefangene ihrer Geschichten. Sie leben in einer gedachten Heimat, in der immer Weihnachten ist.

Heimat ist also schwerlich das, was hinter uns liegt. Wir sollten, statt ständig in den verzerrenden seitenverkehrten Rückspiegel zu blicken,  lieber versuchen, unsere Ideale und Träume nicht zu gering anzusetzen und Schritt für Schritt zu verwirklichen. Heimat liegt vorne. Heimat ist das, wo wir hinwollen. Das kann das Dorf unserer Kindheit sein, in dem ein einziger Landwirt zehnmal so viel produziert, wie früher das ganze Dorf mitsamt den städtischen Erntehelfern. Das kann der Jungle der Großstädte sein, in denen immer mehr Menschen Ersatz für einen individuellen Lebenssinn finden. Auch in den armen Ländern finden die Menschen mehr Ersatz als Existenzgrundlage. Allerdings leben wir im Zeitalter der Megastädte. Das lässt sich planmäßig nicht verhindern oder auch nur verändern, genauso wenig wie man homogene Völker schaffen kann, seit achtzig Jahren wissen wir zudem, dass es keine Rassen gibt. Die Zukunft lässt sich nicht voraussehen, deshalb auch nicht planen und gestalten; die Vergangenheit kann man ebenfalls nicht verändern oder verhindern.  Wir müssen mit der Gegenwart leben. Wir müssen den Zufall akzeptieren. Wir müssen das Narrativ als der Wirklichkeit gleichgeartet anerkennen. Wir müssen mit dem Raum auskommen, in den uns das Leben oder sogar unser Wille gestellt hat. Das ist keinesfalls Fatalismus, sondern im Gegenteil eine Freiheit, die ihre Bedingungen mitbedenkt, eine Ordnung, die niemanden einsperrt oder wegschickt, ein Kanon mit unendlich vielen freien Stimmen, die sich alle auf ‚tun‘ reimen.

Das ist alles nicht neu, muss aber immer wieder, in jeder Generation, an jedem Ort, neu gedacht werden. Wiederholung ist zwar die Schwester der Langeweile, aber auch die Mutter der Weisheit.

ENTFESSELTER DEMOKRATISMUS

 

Nr. 278

Vor fünfzig Jahren haben sich so viele Menschen, in der Tschechoslowakei, in West- und Ostdeutschland, vielleicht in ganz Europa, mehr Demokratie gewünscht. Als Willy Brandt Bundeskanzler wurde, verkündete er folgerichtig, dass er ‚mehr Demokratie wagen‘ wolle. Für die nächste Bundestagswahl wurde das Wahlalter auf 18 gesenkt. Eine ganze Generation der Bundesrepublik wurde nach dem Jahr 1968 benannt und steht für das Streben nach und die Ermöglichung der Demokratie.

Seitdem sind fünfzig Jahre vergangen. Demokratie ist in weiten Teilen der Welt selbstverständlich und unverzichtbar geworden. Die Tage der Diktatoren sind gezählt, die Diktatoren selbst kann man an den Fingern von vier Händen abzählen. Trotzdem gibt es eine neue Wendung. Vielen erscheint die Demokratie langsam und sogar schwerfällig. Viele sehnen sich in einer kleiner werdenden Welt, man kann es auch Globalisierung nennen, nach Heimat. Selbst die Emanzipation winziger sexueller Minderheiten erzeugt Verunsicherung. Das Tempo der Innovationen nimmt zu. Diese scheinbaren Verschlechterungen lassen für viele die offensichtlichen Verbesserungen in den Hintergrund treten: Krieg, Hunger und Pest, die so langen Begleiter der Menschheit, sind fast völlig verschwunden. An der Pest im starben im 14. Jahrhundert fünfundzwanzig Millionen Menschen, das war mehr als ein Drittel Europas. Im ersten und zweiten Weltkrieg starben 100 Millionen Menschen. Hunger gibt es in Europa nur noch bei wenigen Obdachlosen. Weil sie diese offensichtlichen Verbesserungen nicht sehen, sehnen sich viele Menschen nach einer rückwärtsgewandten Sicherheit und nach Autoritäten, die es in der Tat nicht mehr gibt. Statt dessen gibt es Gremien, die jede Frage, zum Beispiel im Moment die Regierungsbildung, in winzige Häppchen, um nicht zu sagen Elemente, aufteilen und ewig diskutieren.

Das stört so viele Menschen, weil sie  erstmalig in der Geschichte der Menschheit sehen und hören können, wie sie regiert werden und was sonst noch auf der Erde passiert. Zum einen haben sie heute viel mehr Zeit als alle Generationen vor ihnen. Man darf sich nicht täuschen lassen, dass das subjektive Empfinden der Zeit (‚bloody tyrant time‘) nicht mit dem tatsächlichen Zeitvolumen übereinstimmt. Das liegt wieder daran, dass sich in die Lücke ganze Industrien der Unterhaltung und des Zeitvertreibs geschoben haben. Seit der Erfindung der Schellack-Schallplatte, seit 1948 aus Vinyl, heute auch so genannt, durch Emil Berliner nur zehn Jahre nach Edisons Phonographen, ist Kunst und jede andere Information beliebig reproduzierbar. Aus Samuel Morses Telegraph, dessen Ver- und Entschlüsselung noch beim Nutzer lag, wurde schließlich ein weltweites Netz von Informationsflüssen zunächst im Radio, dann im Fernsehen, dann im Internet. Wie ein umgekehrtes Kollateral können und werden Einzelinformationen zusammengefasst und bilden so Stämme vermeintlicher Wahrheiten. Dem Konsumenten dieser großen Datenflüsse kann nicht mehr deutlich werden, wie subjektiviert jedes einzelne Bild und  jeder einzelne Ton ist. Den größten Anschein von Authentizität ergibt dabei das Fernsehen, das heute auch beliebig wiederholbar im Internet residiert, assistiert von Millionen und Abermillionen Videoclips bei Youtube. Rund um die Uhr können also unzählig viele Informationsschnipsel konsumiert werden. Das ist auch kein Problem, wenn die Konsumenten über eine gute Bildung, also über das Vermögen verfügen, die Informationen einordnen und werten zu können. Das Verhältnis zwischen Informationsmöglichkeit und Wertung kann man sich etwa so vorstellen wie das Verhältnis zwischen einem Taschenrechner und Mathematik.

Die bisher größte Revolution ist allerdings bisher unbemerkt geblieben. Sie besteht darin, dass heute fast jeder Mensch auf der Welt Informationen nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren kann. Wir befinden uns in der Phase, wo die Produktion der bisherigen Medien, also vor allem der Printmedien und des Fernsehens, nachgeahmt werden. Es gibt praktisch keinen Menschen mehr auf der Welt, der, wenn er etwas ironisch meint, nicht mit den Zeige- und Mittelfingern An- und Ausführungszeichen nach der Art US-amerikanischer Fernsehmoderatoren andeutet. Es ist ungefähr so, als hätten alle Ureinwohner Amerikas, nachdem Kolumbus sie heimgesucht hatte, nach Gold ausgeschaut. Dieser Vergleich zeigt, was sich seit dem späten Mittelalter geändert hat. Würde heute ein Kolumbus, mit welchen Motiven auch immer, einen neuen Erdteil entdecken, dann wüssten wir das nicht nur wenige Minuten später, sondern wir würden von dieser Minute an unsere Meinungen dazu wild in der Welt herumposten. Das wieder wäre nicht so schlimm, wenn es wirklich unterschiedliche und vor allem begründete Meinungen wären. Tatsächlich aber ist es immer nachgeahmtes Fernsehen, nachgeahmter Zeitungskommentar. Auch das wäre nicht so schlimm, wenn nicht ganz viele Menschen, das, was sie Nachgeahmtes wiedergeben, für Wahrheit, wenn nicht sogar für Fakt hielten.

Es interessiert fast niemanden mehr, dass schon seit dem 19. Jahrhundert die Existenz von Tatsachen angezweifelt wird. Seit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wissen wir, dass das meiste auf der Welt Prozesse sind, dynamische, bewegliche oft auch paradoxe Erscheinungen. Jeder Fakt hat tausend Gründe, jeder Grund hat tausend Folgen, und tausend ist immer Metapher, weil wir n nicht fassen können. Tausend ist die letzte fass- und vorstellbare Zahl.

Daraus folgt, dass Demokratie nicht nur ein Ideal der Mitbestimmung ist, nach der sich die so lange versklavte Menschheit gesehnt hat, sondern auch das getreue Abbild einer naturwissenschaftlichen und technischen Weltsicht, die in der langsamen Abschaffung einmaliger und vor allem monokausaler Fakten besteht. ‚Der Mensch kann nicht fliegen‘, musste sich noch der Schneider von Ulm anhören, bevor er starb und verdammt wurde. ‚Ich werde einer Frau in Hosen keine Rederecht geben‘, musste sich die sozialdemokratische Abgeordnete Lenelotte von Bothmer, SPD, noch 1970 sagen lassen. Ihr Kontrahent war, wen wundert es, der CSU-Mann Jäger, der auch für die Todesstrafe eintrat. ‚Familie ist Mann und Frau‘ – aber was macht, wer nicht Mann oder Frau ist? Wer das für linksgrünsversifften Genderwahn hält, gehe ins Berliner Alte Museum und sehe sich den mehr als zweitausend Jahre alten Berliner Hermaphroditen an.

Demokratie ist also auch die Antwort auf die Auflösung der ewigen Wahrheiten. Wenn es keine ewigen Wahrheiten mehr gibt, dann muss das Programm für jeden einzelnen Tag immer neu verhandelt werden. Den Auftakt dazu gab Rousseau, als er schrieb, dass Gesellschaft Vereinbarung ist und nicht, wie man bis dahin annahm, Naturgesetz.

Der Zweifel war früher individuell und schweigend. Heute tritt er immer in Massen,  lautstark und millionenfach reproduziert auf. Die Reproduktionen wirken nicht nur verstärkend, sondern bilden eine eigene Wirklichkeit. Bildlichkeit und Wirklichkeit verschmelzen zu jeweils neuen Wirklichkeiten. Zum Schluss ist alles wahr und nichts mehr.