BILDBESCHREIBUNG

Nr. 367

Im Jahre 1721 ließ ein Graf von Schwerin in dem kleinen vorpommerschen Dorfe Putzar seine Kirche neu einrichten. Die Orgelempore stellte er auf Säulen, die vier riesige Mohren darstellten. Sein Vater, Detloff Graf von Schwerin, der in niederländischen Diensten gewesen war, soll sie aus Dankbarkeit, weil sie ihm das Leben gerettet hatten, mitgebracht haben. Aber hat er ihnen auch das Leben gerettet oder auch nur verbessert? Vielleicht hat er die vier, die in seiner kleinen, exorbitant schönen Kirche als Helden, Riesen, gute Goliathe dargestellt sind, vor der Sklaverei bewahrt? Immerhin war es Preußen, wenn auch hundert Jahre später, das als erstes Land überhaupt die Sklaverei verbot. Allerdings gab es in Preußen gar keine Sklaven. Trotzdem darf man, zumal in einer Kirche, nicht den Faktor der Barmherzigkeit unterschätzen.

In einem vorpommerschen Dorf gilt heute noch als Fremdling, wer vor fünfzig Jahren aus dem Nachbardorf herzog oder vor 75 Jahren als Vertriebene oder Vertriebener aus dem ehemals deutschen Osten kam. Die panische Angst vor dem Fremden fand ihren skurill-tragischen Höhepunkt im Jahre 1945 ein paar Dörfer weiter, in Alt-Teterin, als die verschüchterten Dorfbewohner, bestärkt vom Obernazi-Gutsverwalter, die lauten Motorgeräusche, vielleicht von Tieffliegern, vielleicht auch nur von ein paar Artillerieschleppern, für einen Menschenfleischwolf der Russen hielten und sich dutzendweise mit ihren Kindern das Leben nahmen.  Die Russen waren 1944 und 1945 aus leicht erkennbaren Gründen das zum Horror aufgeblähte Feindbild. Sieht man sich die rechtsextreme Propaganda zur Migration seit 2015 an, ähneln sich die Bilder  so erschreckend, dass der Vergleich doch nicht mehr ganz abwegig ist. Das Fremde wird gern verteufelt. Wie mag es also unseren vier Afrikanern gegangen sein? Sie waren vier junge Männer, niemand konnte und wollte sie verstehen oder gar heiraten. Die Angst hat sich vielleicht schnell gelegt, spätestens als sie den riesigen und superschweren Prunksarg des Grafen zu Grabe trugen. Aber auch ohne die Angst hielt sich die Kommunikation sicher in Grenzen. Erst zehn Jahre später wird im benachbarten Dorf Spantekow der Sohn des dortigen Pfarrers geboren, Johann Christoph Adelung, der ein so berühmter Sprachforscher wurde, dass man ihm die kommunikative Brücke  zu den vier damals Mohren genannten Afrikanern hätte zutrauen können. Das Wort ‚Mohr‘ ist übrigens kolonial unbelastet und eher biedermeierlich zu verstehen. Es leitet sich von den Mauren her, die den arabisch-saharischen Baustil in Spanien und auf Sizilien mitbrachten. Heute erinnert nur noch das einzige Land der Welt an sie, Mauretanien, in dem es zwar offiziell keine, aber inoffiziell sehr wohl noch atavistische Sklaverei gibt und die Menschen in die hellhäutigen Araber-Berber (Bidhan) und die dunkelhäutigen, schwarzafrikanischen Sklaven (Soudan) eingeteilt werden. Auch in Libyen gibt es, allerdings wegen seiner herausgehobenen Stellung als erstes Transitland, neu aufgelebte Formen des segregationistischen Sklavenhandels.

Diese Seite der Migration, die das Leid des Zurücklassens, der Unangepasstheit, der Fremdheit und des Heimwehs meint, findet sich meisterlich beschrieben in Joseph Roths Roman ‚Hiob‘. Wie dem biblischen Hiob wird Mendel Singer alles genommen, als er nach Amerika geht, aber er übersieht, dass er Lockungen gefolgt ist und sich über Warnungen und Bindungen hinweggesetzt und insofern selbst den ersten Impuls zu seinem namenlosen Leid gegeben hat. Seine Frau stirbt im Gram über den Tod des Sohns in russischen Diensten, der die Leichtigkeit des Soldatenlebens verkörperte, Alkohol, Prostitution und verlorenes Geld. Die Tochter kann ihre Männertollheit nun ausleben, gibt aber darüber ihren ohnehin schon verkümmerten Geist auf. Und wie beim biblischen Hiob gibt es eine Wendung zum Guten: der kranke und behinderte, in Russland gegen den Rat des Rabbiners zurückgelassene Sohn Menuhin taucht als Musikgenie auf, wie um den sterbenden Vater zu trösten. Der Vater hatte all dieses Leid kausal der Migration zugeordnet, nicht eigentlich seinem Leben. Darin gleicht er, und deshalb hat der große Erzähler diesen Titel gewählt, dem biblischen Hiob und sovielen unserer Zeitgenossen.

Wir können nur hoffen, dass sich jemand fand, die sterbenden afrikanischen Helden im Dorfe Putzar in Vorpommern zu trösten. Ich vermute beinahe, dass es niemand war, dass man stattdessen aufatmete, die sinistren Fremden endlich los zu sein, die nichts als eine Marotte des großen Herrn waren. Wegen dieser zu Absonderlichkeiten und auch zu Grausamkeiten neigenden Art der Feudalherren verstehe ich bis heute nicht, warum die Menschen, die an einen personalen oder zumindest anthropomorphen Gott glauben, diesen ‚Herr‘ nennen, König, Lord of Lords, Herrscher gar der himmlischen HEERscharen und dergleichen. Ich verstehe es nicht.  Eine Marotte des wahrlich großen, ebenso skurrilen wie genialen Herrn war auch die afrikanische Geliebte, Machbuba, des weltberühmten Fürsten zu Pückler-Muskau, die seine Liebe nur drei Jahre ertragen konnte und dann an dem Gram darüber starb. Das sind die Kehrseiten. Vielleicht reagieren wir demnächst wenigstens der Verzweiflung gegenüber milder.

Der fünfte Afrikaner, der je nach Putzar kam, hörte sich diese Geschichten alle an. Die heutigen Afrikaner staunen über das Alter der europäischen Gebäude. Wenn sie wüssten, wie harsch der große, aber blasse Philosoph Hegel, der den Weltgeist und den Fortschritt erfand, über diese Gebäudelosigkeit in Afrika urteilte, ‚Afrika hat keine Geschichte‘, dann würden noch weniger ihre eigene große Geschichte verstehen. Der fünfte Afrikaner von Putzar kommt aus einer Kultur mit mindestens zweieinhalbtausendjähriger Geschichte, die ersten Christen seines Landes stehen in der Bibel*. Aber an diesem vielleicht letzten Spätsommertag des Jahres genoss er einfach seine Berufung als Model und ließ sich gerne fotografieren. Die Herkulesse nahm er gelassen hin, staunte nur über ihr Alter.

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Zwischen den beiden, durch 300 Jahre geschiedenen Afrikanern hängt ein Zettel, der den ganzen Jammer unserer heutigen Kultur zeigt**. Auf dem Zettel, der an eine historische Holzsäule gepinnt ist, steht, dass der Besucher bitte eine Spende für den Erhalt der Kirche geben soll. Die Kirche wurde mehrmals von den Patronen, den adligen und steinreichen Besitzern des Dorfes und des Landes ringsum gebaut, renoviert und mit teils kostbaren Ausstattungsstücken versehen, darunter die exotischen Mohren, aber auch die Trägerfiguren des Sarkophags, Epithaphien, die Kassettendecke, Gemälde, Gold, Silber, Edelstein, alles vom Feinsten. Die heutige Kirchenorganisation verfügt über Milliarden und Abermilliarden. Allein von den deutschen Bischofsgehältern eines Monats könnte man zwanzig nubische Dörfer ein ganzes Jahr lang ernähren. Zum Erhalt besonders wertvoller Kunstdenkmale gibt es die Deutsche Stiftung Denkmalpflege, die Millionen ausschüttet. Aus Steuermitteln und Sparkassengewinnen, von privaten Großspendern und nicht zuletzt von den adligen Ehemalspatronen fließen ebenfalls beträchtliche Summen. Aber die deutsche Konsumseele, nie zu faul, den Kapitalismus als böse Geißel der Menschheit zu beklagen, entblödet sich nicht, überall, ungeachtet des kunsthistorischen Wertes, Zettel anzupinnen, auf denen steht, dass es auf deinen Groschen ankommt. War es nicht Yesus, der die Händler aus dem Tempel vertrieb***? Ich meine das nicht als Kirchenkritik. Die Kirche muss man nicht kritisieren, die zerlegt sich von selbst, indem sie einerseits das Rollenspiel der Staatskirche ad absurdum führt, andererseits weiter und immer weiter die ehemaligen Groschen der einstmals Armen einsammelt.

Ich meine das als Kritik an uns allen, an einer Gesellschaft, die ihre Talente nicht als Leuchttürme versteht, sondern überall daraus tiefe Tränenteiche und Jammertäler macht. Das Jammern wird zur Nationalhymne auf angepinnten Zetteln. Dieses Land schwimmt in Geld und Zeit, Überfluss jagt Überfluss, verbleibt aber im infantilen Zustand des Kohlrübenwinters. Dreiundzwanzig Millionen Rentner rasen jeden Freitagnachmittag mit ihren Mercedessen in die Kaufländer, der Rest bestellt bei Amazon und lässt von Hermes, DHL und DPD liefern. Was früher die Volksparteien waren, sind heute die Lieferdienste und Paketboten: die gute Botschaft dieselt durchs Land. Parteien plakatieren das Elend, das nur sie bekämpfen können. Tatsächlich werden allein in Deutschland jährlich 14 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen.

Zum Glück verstehen die Neubürger die Wahlplakate und Manifeste noch nicht so genau. Sie wüssten nicht, worüber sie jammern sollten. Ihre Partei, wenn sie eine hätten, wäre einfach nur dankbar. Vielleicht ist das sogar der tiefe Sinn der Migration: dass die Sesshaften die Dankbarkeit neu lernen. Du musst dich nicht bedanken, sagte der Hausbesitzer zu dem Hausbesetzer, du bist doch das Geschenk.

Die Welt des Schwerinswinkels, die vorpommerschen Güter, Schlösser, Kirchen und Dörfer, die den Grafen von Schwerin gehörten, mag in der alten Form untergegangen sein. Wer aber den Weg dorthin findet, findet Juwelen, Kostbarkeiten, Leuchttürme der Schönheit, der Exotik, der Ruhe, des Friedens, der unberührten Natur. Auch die Gerechtigkeit muss man mehr in den Herzen suchen, und nicht auf den Kontoauszügen oder Wahlplakaten.

*Apostelgeschichte 8,26-40

**der Zettel war also nicht zufällig auf das ansonsten gestellte und zugeschnittene Foto geraten

***Johannes 2,16

DIE WIEDERKEHR DES ZAUBERERS NOBI

 

Nr. 366

für D.T.

An dem Tag, als ich seit langer Zeit wieder einmal eine Grundschule betrat, wurde gefragt, was man in der Schule, eher war eine Elementarschule gemeint, gelernt hat. Ein von uns sehr geschätzter Lehrer erzählte vom Krieg, das Schlimmste, was er als achtzehnjähriger Soldat erlebt hatte, waren die norwegischen Krankenschwestern, vor denen er seinen Po entblößen musste, damit sie ihn spritzen konnten. Es war also nicht alles nur Indoktrination. Natürlich lernten wir lesen und schreiben. Auf meinem allerersten Zeugnis hatte ich in beidem eine 1, trotzdem schrieb die Lehrerin, dass ich wild und nicht sorgfältig sei. Was hätte ich für Zensuren bekommen können, wenn ich zahm und sorgfältig gewesen wäre? Da ich einen sehr guten Russisch- und Musiklehrer hatte, lernte ich in diesen beiden Fächern auch sehr gut. An mehr kann ich mich nicht erinnern, aber als ich jetzt in dieser Grundschule ganz nach oben ging, lagen dort auf einem Tisch aussortierte alte Kinderbücher, die sich die heutigen Kinder wohl mit nach Hause nehmen können. Zuoberst lag Ludwig Renns ‚Nobi‘*, die rührende Geschichte einer wunderbaren Kindheit im historischen Afrika. Sofort erstand meine Kindheit in meiner Fantasy**. Ich sehe mich am Nachmittag, die Mappe, damals noch Ranzen genannt, war zuhause abgelegt, das Mittagessen hineingeschlungen, eine kurze Stippvisite auf dem Spielplatz absolviert, aber dann ging ich in die Kinderabteilung der Stadtbibliothek. Sie erschien mir riesig. Sie erschien mir fast so groß, wie heute die Grimm-Bibliothek, die größte Freihand-Bibliothek Europas. Die Studenten sagen, sie sei zu klein. In meiner Bibliothek kannte ich mich aus. Ich habe damals alle Kinderklassiker gelesen, aber mein Oberklassiker war Ludwig Renn.

Was ich damals nicht wusste und was für mich auch irrelevant gewesen wäre, dass er ein ehemaliger Adliger war, ein Freund des sächsischen Kronprinzen, Offizier im ersten Weltkrieg, Schriftsteller in der Weimarer Republik, Kommandeur im spanischen Bürgerkrieg, Emigrant in Mexiko, Professor an der Humboldt-Universität. Obwohl er weitgereist und welterfahren war, war er ganz auf der Linie der regierenden Partei. Der Grund war vielleicht seine, wie man heute sagen würde, offen schwule Lebensweise. Mit seinem Lebensgefährten und einem weiteren Freund lebte er in einer Villa in Berlin-Kaulsdorf. Alle drei wurden später zusammen auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde begraben, Abteilung Künstler, obwohl seine beiden Freunde vielleicht weder Sozialisten noch Künstler waren.

Ludwig Renn, dessen wirklicher Name Arnold Vieth von Golßenau war, eröffnete mir die andere Seite der Welt, die eine Seite war die Russenkaserne am Binnenhafen meiner winzigen Heimatstadt. Ein kleiner mexikanischer Junge namens Trini half – in dem gleichnamigen Buch – seiner Familie bei Überleben. Und Nobi, ein wirklich heldenhafter kleiner Afrikaner, kämpfte gegen alles, was nicht in seine Heimat gehörte. Soweit, und auch in dem heute merkwürdigen Wort ‚gerechter Kampf‘ war das Buch linientreu. Aber dafür habe ich es nicht geliebt. Jetzt, beim Wiederlesen nach sechzig Jahren las ich denselben Glanz und dieselbe Spannung: Nobi ist ein Zauberer. Er kann nicht nur mit den Tieren kommunizieren, sondern sein Lächeln bewirkt, dass alle Menschen – egal was sie vorher gedacht oder geplant hatten – ihm freundlich begegnen. Dieses Lächeln ist das Äquivalent zum Nathan-Parabel-Ring, von dem sich ja auch herausstellt, dass die Wirkung auch ohne den Ring möglich ist. Es gibt solche Menschen, und wir alle sollten uns bemühen, zu ihnen zu gehören. Nobi verliert früh seinen Vater durch einen grausamen Jagdunfall, dadurch verabscheut er die Jagd und wird aus Protest Schmied. Man kann das heute gut und gerne als Anti-DDR-Parabel lesen, nur können wir nicht mehr eruieren, ob der Erfinder von Nobi es so gemeint hat. Seinen bösen Lehrmeister überflügelt und vertreibt Nobi, genauso wie er ohne Jagd und ohne Sport – nur durch seinen Beruf – zu einem Athleten heranwächst, vor dem man sich fürchten sollte, wenn man ihn nicht lieben müsste. Der großmächtige Zauberer, der alte böse König, der junge gute König, sie alle gehen auf seine Seite über. Die weißen Sklavenhändler jedoch werden von ihm bekämpft (‚gerechter Kampf‘), besiegt und vertrieben. Und da steht ein Satz, der überhaupt nicht in die frühe DDR passte: Nobi tut es leid, dass er im Kampf so viele europäische Sklavenhändler töten musste, aber seine hochgiftige Zauberschlange tröstet ihn: es ging nicht anders, sagt sie. Aber fortan wird er die Sklavenhändler, wiewohl sie abgrundtief böse sind, nur noch vertreiben.

Mit erstaunlicher Weitsicht und Modernität wird die Natur und die Kraft der Natur beschrieben. Ein alter Elefant, der so vielen Menschen als aggressiv und böse erschien, wird lenkbar im Kampf gegen die gierigen und grausamen Eindringlinge. In dem nagelneuen Buch Die Intelligenz der Tiere*** steht genau das: dass Elefanten, Wölfe und Wale gut und böse, Menschen und Unmenschen unterscheiden können. Mich wundert nicht, dass die Kunst der Wissenschaft voraus ist. Das ist sie schon immer gewesen und das bleibt auch so. Mich wundert, dass in einem schlichten DDR-Kinderbuch solche Weisheiten standen. Ludwig Renn hatte sicher doppelte Narrenfreiheit, die er  aber auch mit seiner Loyalität erkaufte. Als ‚Spanienkämpfer‘ stand er in einer Reihe mit Hans Beimler, Heinz Hoffmann, Erich Mielke, aber auch mit Ernest Hemingway, Willi Brandt und Joris Ivens. Er musste nichts mehr für seinen Ruf und seinen Ruhm tun. Geld hatte er auch genug. So konnte er sich seinen Freunden und seinen Kinderbüchern widmen.

Mir wurde klar, wie sehr mich dieses Buch geprägt hat, mehr als die Schule, mehr als meine Familie, mehr als die Kirche, die in meinem Heimatort aus einem autoritären Luther-Epigonen bestand, der mehr Menschen vertrieb als anlockte, einer seiner Söhne tat es ihm nach, einer wurde Mensch, der dritte nahm sich das Leben. Zu meinem großen Glück hatte ich meinen Freund Nobi zwischen zwei Buchdeckeln. Heute kenne ich einen Neubürger aus Ostafrika, dessen Lächeln alle Menschen betört und erfreut. In dem Punkt hat er es leicht. Für ihn habe ich das hier aufgeschrieben.

 

*Ludwig Renn, Nobi, Kinderbuchverlag Ostberlin 1955                                                       [die ersten sieben Auflagen hießen noch: Der Neger Nobi]

**von mir vorgeschlagenen Euro-Schreibweise

***Carl Safina, Die Intelligenz der Tiere, New York 2015,                                                              deutsche Ausgabe: München 2017

UND DER ZUKUNFT ZUGEWANDT

Nr. 365

Diktaturen funktionieren nur abstrakt, konkret müssen sie versagen: die Planwirtschaft mag logisch sein, die Bedürfnisse kann sie nicht befriedigen. Leider erklärt sich so auch, warum Kim Jong Un seinen Onkel, angeblich mit einer Kanone, erschießen ließ, warum Stalin und Hitler ihre eigenen Leute umgebracht haben. Der konkrete Mensch passt nur dann in die Schablone, wenn Loyalität über die Kompetenz und über die Solidarität gestellt werden. Auch die technizistische Sprache der Diktaturen ist so zu erklären: der Mensch ist nur wert, was er als Maschinenteil im Apparat taugt. Dies wurde zuerst von Klemperer* beschrieben und wird nach wie vor nicht beherzigt, indem wir immer noch die Sprache der Täter imitieren, angeblich um die besondere Grausamkeit oder die Einmaligkeit der Verbrechen zu betonen. Tatsächlich wird hinter technizistischen Begriffen der Mensch eskamotiert: das Opfer verschwindet in einer undefinierbaren Masse, die ‚vernichtet‘ wird, so die Sprache der Täter von der Wannsee-Konferenz bis zu den Aufzeichnungen des Auschwitzkommandanten Höß, der sich als einer der Haupttäter ebenfalls hinter der Technik verstecken kann: als das berüchtigte Rädchen im Getriebe. Schon das Wort ‚Judenvernichtung‘ besagt, dass nicht ein Mensch einen Menschen von Angesicht zu Angesicht ermordet hat, auch die Hinzufügung der Gründe der Täter – ‚Rassismus‘ – ändert daran nichts: denn es gibt keinen Grund, der uns erlaubt, einen Menschen zu töten**. Warum also entschuldigen wir nachträglich die Täter, indem wir sie zu industriellen Systemteilen erklären, die nicht anders konnten, als so zu handeln wie es jeder Menschlichkeit, jeder Religion und jeder Philosophie, nicht aber jeder Ideologie widerspricht? Ein Mensch kann nicht vernichtet werden, weil er – außer in der Gesellschaft – auch in seiner Familie, in seinem Freundeskreis, in seinem Arbeitskollegium, in seiner Wohnsiedlung als Mensch fortlebt. Es war nicht die Politik oder die Gesellschaft als Ganzes, die uns mit dem Projekt der Stolpersteine bildlich vor Augen führt: wer hier einmal gelebt hat, lebt in unserer Erinnerung fort. Streng genommen wird sogar nichts zu nichts. Es fehlt ein neues Buch von der Qualität und Reichweite der LTI.

Was nicht fehlt, sind Bücher und Filme zu den Diktaturen, in denen unsere Ahnen als Täter oder Opfer agierten, der neueste Film zitiert als Titel eine Zeile der später verbotenen DDR-Hymne ‚…und der Zukunft zugewandt…‘. Das heißt in dieser Geschichte: auf jeden Fall der Vergangenheit abgewandt. Drei Frauen waren in Workuta, in einem der GULAGs, obwohl und wohl weil sie Kommunistinnen waren. In einem benachbarten Lager ist der Mann von Antonia Berger inhaftiert – und jedes dieser Wörter ist ein Euphemismus – und er überwindet Stacheldraht und Wachmannschaften, strömender Regen hilft ihm etwas klischeehaft, um seiner kranken Tochter zum Geburtstag zu gratulieren. Auf dem Rückweg wird er erschossen, obwohl er auf seiner Kompetenz als Ingenieur der Moskauer U-Bahn insistiert. Ihm wird ein Mangel an Loyalität unterstellt, und deshalb sind er und seine kleine Familie, wie auch alle anderen Häftlinge, aus dem Zirkel der allgemeinmenschlichen Solidarität ausgeschlossen.

Auf Intervention des in der Bevölkerung wohlgelittenen, in Wirklichkeit aber arg stalinistischen Staatspräsidenten Pieck werden die drei Frauen vorzeitig entlassen und kommen nicht nur in der DDR, sondern in der ersten sozialistischen Planstadt an: Fürstenberg an der Oder, das bald darauf in das unaussprechliche Stalinstadt, dann in das noch widersetzlichere Eisenhüttenstadt umbenannt wurde. Zum zweiten Mal zeigt sich unsere These vom Versagen der Diktatur im Konkreten in der ersten Krankenhausszene: das sterbende Kind in den Armen der ausgemergelten Mutter wird als erstes nach dem Sozialversicherungsausweis gefragt, der analogen Krankenkassenkarte. Der Arzt ahnt Schreckliches, als er die hochgradigen Erfrierungen sieht und er greift im Geheimschrank nach dem Penicillin aus amerikanischer Produktion. Die Liebesgeschichte zwischen dem Arzt und der durchaus der Zukunft zugewandten Antonia geht tragisch aus, sie erkaltet im kalten Krieg und wird als telefonische Freundschaft bis zum Mauerfall fortgesetzt.

Antonia, die auch ihrer Mutter nicht sagen kann, wo sie die letzten zehn Jahre war, scheitert immer wieder am Konkreten und rettet sich immer wieder in die Abstraktion des Kommunismus. Auf diese Abstraktion der fernen Zukunft beruft sich auch der Agitationssekretär Silberstein, ein durchaus sympathischer und durch seine mögliche Herkunft aus einer jüdischen Familie noch mit einem zusätzlichen Bonus versehener Altgenosse, der zwar mehrmals den Ausgleich oder den Kompromiss zwischen den beiden Ebenen des Lebens sucht und versucht, letztlich aber doch zum Telefon greift und die Staatssicherheit beauftragt, Antonia im Konkreten endlich umzudrehen. Jeder – auch die Protagonisten im Film – versteht die Situation: ein Mann mit Hut und Mantel klingelt an der Tür, zeigt seinen Ausweis und nimmt Antonia mit. Der Verhörer glaubt, nur er sei im richtigen Lager gewesen und nur die Qualen, die er ausgehalten hat, und die allerdings wirklich furchtbar und unvorstellbar waren, berechtigten ihn, jetzt andere Menschen zu befragen und zu quälen. Allerdings lenkt er ein, eine Intervention von außen kommt in Gestalt des Sekretärs Silberstein. Antonia sollte nicht schon wieder verschwinden, sondern nur ernsthaft verwarnt werden. Das gelingt auch, sie vernichtet ihre Aufzeichnungen aus dem Lager und glaubt, vielleicht hofft sie auch, dass damit auch das Lager selbst verschwindet.

Es gab – wenn auch vielleicht wenige – Menschen, die in beiden Arten Lagern inhaftiert waren, zwei davon sollen hier als Beispiele genannt werden, Margarete Buber-Neumann und Erich Reschke. Margarete Buber-Neumann heiratete nach ihrer Scheidung vom Sohn des Religionsphilosophen Buber den Führer der linksradikalen Fraktion der Kommunistischen Partei Deutschlands und Kontrahenten Ernst Thälmanns, Heinz Neumann. Seine Radikalität bestand darin, als den Hauptfeind der KPD und der gesamten Gesellschaft die Nationalsozialisten zu erkennen und  benennen, während Thälmann gemäß den Weisungen Stalins die SPD als den Hauptfeind bekämpfte. Neumann wurde 1938 in Moskau erschossen, seine Frau interniert, später wurde sie nach Deutschland abgeschoben – auch eines dieser Wörter aus dem Thesaurus der Täter – und im KZ Ravensbrück gefangen, wo sie Zeuginnen Jehovas, der Freundin Kafkas, Milena Jesenska, der Witwe Stauffenbergs half und der Witwe Thälmanns begegnete. Erich Reschke dagegen war zwölf Jahre lang KZ-Häftling, lange in Buchenwald, und dort war er Lagerältester, also Chef der von der SS installierten und tolerierten Selbstorganisation der Häftlinge. Als solcher wurde er von Bruno Apitz in dessen berühmtem Buch ‚Nackt unter Wölfen‘, das man nicht wörtlich und als Erlebnisbericht, sondern eben als Roman verstehen muss, als einer der Hauptakteure bei der Rettung des Kindes gezeigt. Heute wissen wir, dass die Rettung durch einen Austausch auf der Auschwitz-Transportliste zustande kam. Erich Reschke wurde von den Amerikanern befreit und hatte den unterstützenden Aufstand der Häftlinge mit organisiert. Wahrscheinlich deshalb wurde er einer der ersten Generäle der Volkspolizei, bis es eines Tages an seiner Wohnungstür klingelte und sich die berüchtigte Szene tatsächlich abspielte, die der Film so realistisch zeigt. Reschke wurde wegen angeblicher Spionage oder dergleichen zu lebenslanger Lagerhaft verurteilt, musste aber nur bis zum Lebensende von Stalin – was? – büßen. Danach lebte er als Leiter eines Gefängnisses (!) und dann Frührentner, von Honecker spät mit dem Karl-Marx-Orden rehabilitiert, in Hohen Neuendorf.

Uns geht heute leicht von den Lippen: das ist eine Diskrepanz zwischen dem Abstrakten der Diktatur und dem Konkreten des menschlichen Daseins. Aber jeder Mensch lebt nur einmal. Neben einer faszinierenden Alexandra Maria Lara in der Hauptrolle, neben Robert Stadlober als bewundernswertem und von Antonia bewunderten Chefarzt, brilliert aber auch Barbara Schnitzler als die abtrünnige Genossin, die mit ihrer Ankunft in der von vornherein verlogenen DDR nicht mehr Genossin sein möchte, die sich den Mund nun und nimmermehr verbieten lassen will. Die dritte Leidensgenossin, gespielt von Karoline Eichhorn, ist für immer desorientiert und aller sozialen Kontakte – mit Ausnahme Antonias und des Rotweins – beraubt. Wenn es einen deutschen Oskar für die beste Nebenrolle gäbe, bekäme ihn von mir Hark Bohm in der Rolle des Vaters, der seinen Sohn, den Zonen-Chefarzt in Stalinstadt, zurück nach Hamburg holen will, um dort, so wie es Recht und Ordnung gebieten, die Praxis zu übernehmen. Er versteht die Welt nicht mehr. Verstehen wir sie denn?

Die titelgebende Textzeile aus der Nationalhymne Ostdeutschlands, zu dem Zeitpunkt der Filmerzählung war sie noch nicht verboten, wird damals von vielen als frohe Botschaft angenommen worden sein. Der Dichter musste sich allerdings mit Morphium benebeln und betäuben, um die Diskrepanz zwischen der von ihm erdichteten und der um ihn herum errichteten Welt aushalten zu können. Seinen fortwährenden toxischen Rauschzustand kann man wunderbar nachvollziehen, wenn man sich bei YouTube ansieht, wie er dressierten Jungen Pionieren erzählt, dass Walter Ulbricht der größte Sohn des deutschen Volkes sei.

 

 

 

 

*LTI (Lingua Tertii Imperii), Die Sprache des Dritten Reiches

**traditionell gab es fünf Ausnahmen: Krieg, Todesstrafe, Tyrannenmord, Selbstmord, Abtreibung, von denen heute eigentlich nur noch der Selbstmord als legitim erscheint und die Abtreibung als historische Übergangslösung geduldet wird. Für diese beiden verbliebenen Ausnahmen gilt, dass man sie weder billigen noch nicht billigen kann.

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SOLOMONs GRIME

 

Nr. 364

Man wünscht sich spätestens ab Seite 600 einen Mozartschluss: dam-dam-da-di-da. Statt dessen geht es aber so weiter wie bisher, als ob ein geklonter Franz Liszt immerfort artifizielle Permutationen desselben genialen Gedankens generierte, ein fortwährendes prestissimo und fortissimo als Ritardando eines asymptotischen Untergangs. Das andere Buch dagegen ist wie ein langsamer Beethovensatz, vierhundert Seiten lang: der Mensch ist nicht so politisch wie er sein könnte oder sollte.

Sibylle Bergs Buch GRIME stand als Neuerscheinung sozusagen auf dem Plan, während Toni Morrisons SOLOMONs LIED sich durch einen Zufall ergeben hat, noch dazu lieferte Amazon eine DDR-Lizenzausgabe, die ein Papier-dejá-vu bescherte: das schwerfällige, dicke und den Fingern unfreundliche Papier aus Schwedt, als es noch Großstadt sein oder werden wollte. Aber dann stellte sich doch die Frage: was schreiben zwei so angesagte Frauen anders als die immer noch zahlenmäßig überwiegenden Männer?

Nur als Frau kann man die Jagd, seit sie nicht mehr – vor der neolithischen Revolution – unmittelbares Existenzmittel ist, als das denunzieren, was sie ist: blutrünstiges Machogehabe, nicht so weit vom Mord entfernt. Vom Landgericht Stralsund wurden vorgestern zwei junge Monster verurteilt, die eben einmal sehen wollten, wie ein Mensch stirbt. Als Opfer hatten sie sich ein schwangeres Mädchen aus ihrem Freundeskreis ausgesucht. Zwar bekamen beide die jeweils mögliche Höchststrafe und werden wahrscheinlich nie wieder in Freiheit kommen, aber das versöhnt uns nicht mit dieser Tat und solchen Taten überhaupt. Die beiden Großschriftstellerinnen jedenfalls kritisieren die Jagd jeweils aus der Sicht des gezwungenen weichen Teilnehmers, für den das Erlebnis traumatisch ist. Wie weit Männlichkeit immer noch mit Härte identifiziert wird, kann man in einer eigenartigen Inschrift auf dem Bahnhof Wriezen lesen: Kevin Anders ist eine Pussy, steht da, und das soll heißen, dass dieser Kevin zu weich für diese Welt ist, wie jedenfalls der Graffiteur oder die Graffiteuse meint.

Toni Morrisons Buch handelt ausdrücklich vom Verhältnis der Männer zu den Frauen. Der Protagonist heißt Milchmann, weil er von seiner ungeliebten Mutter gestillt wurde, bis er zweieinhalb Jahre alt war. Nicht nur seine Mutter war ungeliebt, auch er selber sollte mit Schlägen und Stricknadeln aus dem Bauch getrieben werden, was seine Mutter verhinderte. Erst als Milchmann schon erwachsen ist, erkennt er seine Mutter und bewahrt sie einmal vor den Schlägen des sich omnipotent glaubenden Vaters, der es tatsächlich geschafft hat, aus dem Ghetto herauszuragen. Er besitzt Immobilien und lebt von den Mieten und Rückständen. Die zweite Frau im Leben Milchmanns ist seine Tante Pilate, von der er lange glaubt, dass sie einen Goldschatz verwahrt. Erst zum Schluss erkennt er sie als eine Traditionshüterin an, und da stirbt sie auch schon. Beinahe noch tragischer ist sein Verhältnis zu seiner Cousine Hagar, die er nicht liebt, mit der er aber über ein Dutzend Jahre ein Verhältnis hat. Sie nimmt sich das Leben, als er sie verlässt. Anders als die biblische Hagar ist Milchmanns Cousine selbstbewusst und liebt den, der sie nur als Verhältnis missbraucht, wenn auch nicht etwa bösartig, sondern eher gleichgültig. Morrisons Figuren haben alle eine tiefe Bindung an ihre Vorfahren, die Sklaven waren, davon handelt eigentlich der Roman. Die Schattierungen der Hautfarbe, als Projektion der Verachtung durch die weißen Sklavenhalter und durch den weißen Trash, spielen eine große Rolle, obwohl die beiden Großväter Milchmanns erfolgreich und reich waren. Milchmann, schon durch seinen Spitznamen an die Frauen gebunden, emanzipiert die drei wichtigen Frauen in seinem Leben spät, zu spät. Im Land seiner Vorfahren trifft er auf eine Schönheit, mit der es vielleicht sogar echte Liebe geben könnte. Eine andere Schlüsselszene ist die fast tödliche Prügelei, die nur deshalb ausbricht, weil Milchmann in der Kneipe sich verhält wie ein weißer, reicher Fremder, jedenfalls glauben das seine Kontrahenten. Darin liegt auch die Aktualität des Romans nicht nur für Amerika, sondern auch für unsere zu früh friedlich geglaubten und gehofften Gesellschaften, in denen immer wieder aus Hass und Angst Mord und Totschlag wird. Wir sind, so könnte wohl die Botschaft dieser liebenswerten, ein wenig verschnörkelt erzählten Geschichte lauten, wir sind, obwohl wir es nicht wollen, im Gestern vernetzt, aber selbst, wenn uns das Böse treibt, schleppen wir das Gute mit uns.

GRIME erzählt dagegen, dass wir, obwohl wir es nicht wollen, immer schon im Morgen angekommen sind, und alles das Gute scheint all das Böse nicht verhindern zu können. ‚Das ist keine Dystopie‘ steht auf der Rückseite des Umschlages, sondern ein brillanter Report einer selbst ernannten Realistin. Es ist ziemlich unrealistisch, sich für einen Realisten oder eine Realistin zu halten. Der ganze lange Roman tut so, als ob unser Leben schon jetzt und vor allem in naher Zukunft in jenem Schmutz stattfinden würde, nach dem die im Buch vorherrschende Musikrichtung heißt, nach der der Roman heißt. Tatsächlich sind viele Menschen jetzt schon in der virtuellen Welt abgetaucht. Sicher kann man besonders viele junge Menschen sehen, deren Leben fast ganz im Internet, in ihrem Endgerät, wie es im Roman heißt, spielt, sozusagen ohne sie. Und wir können sogar glauben, dass die beiden Mörder, die wir vorhin erwähnten, reales Leben auf die perfideste, schändlichste, böseste Weise ausprobieren wollten, fühlen wollten, was sie schon oft auf dem Monitor sahen. Aber diese eben doch dystopische Sicht übersieht aus stilistischen Gründen, dass das Internet, das Smartphone, der Computer, die Navigation, die AI für Milliarden Menschen eben auch Bildung, Teilhabe, Rettung, Kunst, Unterhaltung, Sprache, Kommunikation bedeuten. Milliarden Menschen reisen im wahrsten Wortsinn durch die Weltgeschichte, Dutzende Millionen Menschen können den Ort politischen oder wirtschaftlichen Elends verlassen und finden sich mit zusammengesuchten Brocken Englisch zurecht und den Weg zur nächsten Polizeistation. Ein Roman ist keine Universalenzyklopädie, aber ein Mentalatlas schon. Echt dagegen scheint die Angst vor der neuen Versklavung zu sein, die noch dazu mit vollständiger Überwachung einherzugehen scheint. Wir alle wissen jedoch noch nicht, ob es wieder Staatswesen geben wird, die – ähnlich wie die derzeitige chinesische Regierung – an einer solchen Kontrolle interessiert sein werden. Die Wirtschaft ist an uns als Konsumenten interessiert, und das beschreibt Berg in ihrem kunstvoll konstruierten Stil, der manchmal – bis in die generierten Pejorative hinein – von AI inspiriert ist. Die Wirtschaft ist an uns interessiert – ‚wir sind die verdammte Zukunft‘ [S. 509] -, aber wir müssen nicht bestellen. Es gibt eben keine Plus- oder Minuspunkte für Verhalten, wenn sich auch die Wähler von Trump, Putin, Bolsonaro, Erdoğan, Orban und wie sie alle heißen das wünschen. Mugabe ist schon gestorben, Strache und Salvini sind hinweggewischt und Erdoğan wackelt. China wird mit dieser Ordnung nicht triumphieren können.

Die fast entpersönlichten Figuren sind wahrlich traurige Gestalten, deren Vorbilder in der Wirklichkeit nicht bestritten werden können, aber sie sind, genauso wie der Schmutz der Städte, singulär, beherrschbar, sekundär. Übersehen wird der Sozialstaat als Bindemittel, dagegen wird seine Entmündigungstatsache in den Vordergrund geschoben. Dass wir uns in einer schwierigen Phase, in einer Krise sowohl der Demokratie als auch der Arbeitswelt befinden, heißt doch nicht, dass wir in dieser Krise verbleiben oder gar vergehen.

Die Hoffnung bei Morrison ist das Finden einer neuen Identität und vor allem Individualität. Die Hoffnung bei Berg bleibt aus. Und unter diesem Aspekt sind die 600 kunstvollen Seiten dann 500 zu viel. Die entpersönlichten Figuren entwickeln sich nur zum Schmutz hin. Zwar sterben auch bei Morrison wichtige Protagonisten, aber dass Thome erst sein ungeliebtes und ungeborenes Geschwisterchen mit den Knien tottritt, dann seine gehasste Stiefmutter ermordet und in Säure auflöst, dann den Vater, der nicht zum neuen Premierminister gewählt worden war, auf dessen Bitten hin – in ausdrücklicher Erinnerung an die Jagdszene –  erschießt, um sich dann selbst zu entseelen oder zu entleiben, das geht doch sehr weit in einen abgrundtiefen Pessimismus hinein. Es gibt in GRIME keine großartigen Momente, aber großartige Sentenzen und Erkenntnisse. Eine dieser guten Ideen ist es, die Weltbevölkerung gegen eine neue Weltbevölkerung auszutauschen. Einer der großen Sätze ist: ‚Emotionen, Hass und Wut, sie sind wie Saurier in einem kleinen Reisebus.‘ oder ‚Kaufen. Das hat sich bewährt. Es war noch einfacher als ein Glaube.‘ Darüber kann man natürlich streiten.

Die zerbrochene Welt, die dann nur noch der Schmutz zusammenhält, wird durch eine gebrochene und zerbrechende Syntax dargestellt. Das geht beinahe bis zum Exzess, allerdings auch auf Kosten des Lesers. Morrisons Stil dagegen wird durch die Übersetzung aus dem Slang heraus in eine gewisse Piefigkeit hineingezogen, liest sich aber überwiegend konventionell.

Die beiden großen Frauen setzen zu einem grandiosen Schluss an, beinahe wie Mahler in der dritten Sinfonie. Was aber bei Morrison Spannung bis zur letzten Zeile ist, ist bei Berg keine Entspannung, auch keine Entwarnung, wenn auch ganz zum Schluss, auf den allerletzten Seiten dann doch noch die Notbremse gezogen wird: die Welt geht vielleicht nicht unter. Davon nicht. Jetzt.

1000 Seiten, von zwei Frauen geschrieben, sind doch eine andere Sicht auf die Welt. Sie hat früher gefehlt: Stillen aus der Sicht des Kindes (Morrison) oder Sex aus der Sicht einer achtjährigen Nutte (Berg). Beide zeigen auch, dass das Unten der Frau und der Schwarzen nur ein Unten aus der Sicht der weißen alten Patriarchen war. Vielleicht hat Freud das mit seinem Übervater gemeint. In beiden Büchern wird auch das altväterliche Element der Namen und ihrer Bedeutung dekonstruiert. Die Namen der ehemaligen Sklaven sind fast genauso Beinahe-Karikaturen – übrigens auch der Bibel – wie die HipHop-Namen der Postpostpostmoderne, der angeblich nahen Zukunft. But: what’s in a name, wusste schon Shakespeare. Auf der einen Seite, das können wir bei Morrison lesen, wird eine neue Menschlichkeit geboren werden, wo sie früher gerade am wenigsten vermutet wurde. Auf der anderen Seite lesen wir bei Berg nicht, dass die Welt nicht nur digitaler, sondern auch komplexer und vielleicht ein bisschen besser wird. Wir hoffen es jedenfalls.

BANLIEU

Nr. 363

Oben und unten sind genauso untauglich gewordene Begriffe wie Gewinner und Verlierer. Sie stammen aus der unsolidarischen Ständegesellschaft, inzwischen gibt es eine durch das Bildungssystem gestützte soziale Durchlässigkeit, die vor hundert Jahren absolut unvorstellbar war. Die Hälfte aller Menschen macht Abitur und in den Berufsschulen gibt es Büros, die Türöffner oder ähnlich heißen, die Menschen aufsammeln, die bisher durch alle Auffangeinrichtungen gefallen sind. Trotzdem belassen gerade die Demokratie und die mit ihr als Ideal verbundene Freiheit Menschen im Zustand der Unbildung, die theoretisch nicht identisch mit Unwissenheit ist, in der Praxis aber wohl. In der Ständegesellschaft war das unten, das waren die Verlierer, die den Hof fegten, bevor es Hartz IV oder ähnliche Leistungen gab. In Köthen in Sachsen-Anhalt gibt es zwei berühmte Familien, die jeder in Deutschland kennt: die Familie Bachs, des weltgrößten Komponisten, und Familie Ritter, die sich aller Bildung und Fürsorge durch Leberzirrhose entzieht. Sachsen-Anhalt hat zur Freude der Berliner das bundesweit schlechteste Bildungsergebnis.

Das ist nicht neu. Neu ist aber, dass sich jemand dieser bedauernswerten und bedauerlich kaum erreichbaren Gruppe bemächtigt. Wir können nicht bestreiten, dass es Xenophobie tatsächlich gibt. Aber wir wissen auch, dass sie fast nur reziprok auftritt: je mehr Fremde es gibt, desto geringer ist die Angst, je abgeschotteter und verlorener eine Region ist, desto ängstlicher sind ihre Bewohner. Diese Angst musste man aufgreifen und durch den seit altersher vorhandenen Abscheu gegen die Regierenden ergänzen. Dabei wird absichtlich Bürokratie mit dem Staat, also der Organisationsform des Gemeinwesens verwechselt. Die Kritik an der zum Ausufern neigenden Bürokratie stammt von Max Weber und nicht von Bernd Höcke. Die hoch verdienstvolle Gorki Theaterkolumne hat jüngst aufmerksam gemacht, dass der so genannte Bremer Skandal, also das angebliche Durchwinken jesidischer Flüchtlinge nach der Überprüfung eine Fehlerquote von 0,7% erbrachte, während die vorsorglichen negativen Asylbescheide zu 20% falsch sind. Obwohl die Tatsachen einfach verdreht wurden und der Staat in seiner Intention mit der ausführenden – und gut ausführenden – Bürokratie gleichgesetzt wurde, bleibt bei den Wählern dieser Gruppe hängen, dass Menschen begünstigt wurden, die nicht sie waren. Alle Argumentationen greifen schon deshalb nicht, weil sie in einem sachlichen, teils auch wissenschaftsnahen, bürokratischen Ton vorgetragen werden, den diese Gruppe nicht versteht und nicht verstehen will. Die Partei, dies sich dieser Gruppe angenommen hat, greift dagegen diesen pöbelhaften Ton auf, dessen emotionale Schärfe den Mangel an Argumenten übertönen soll.

Auch die Dresdner Pegidarentner, die keinesfalls überwiegend zu dieser Gruppe gehören, übernahmen freudig diesen Ton, mit dem sie endgültig ihren jahrzehntelangen Opportunismus aufzugeben glaubten. Tatsächlich haben sie nur die Gruppe gewechselt, werden jetzt von Bachmann, Höcke, Kalbitz und Gauland instrumentalisiert. Plötzlich ist es erlaubt, die da oben nicht nur zu kritisieren, sondern mit Pejorativen zu belegen, die im familiären Kreis längst gebannt schienen. In Dresden wurde der Bundeskanzlerin auch der Lynchgalgen gezeigt, eine uralte Tradition der Rassisten. Die Rasse, die jetzt bekämpft wird, sind die Oberen. Anders als in Amerika stammen bei uns die Regierenden keineswegs oft aus der Klasse der Oberen. Gerhard Schröder beispielsweise kommt aus einer Siedlung, die heute eher am Rand der Gesellschaft, nicht nur am Rand einer Kleinstadt zu finden wäre. Folgerichtig, so scheint es, ist der einzige Milliardär in einer deutschen Regierung von Nazis erschossen worden. Die heutigen Nazis greifen auch diese antikapitalistische Stimmung begierig auf. Damit treten sie im Osten Deutschlands das Erbe der linken Partei an, ergänzt um den pöbelhaften Ton. Würde man also die AfD nach alten Parteikriterien einzuordnen versuchen, so könnte man sie als Nationalbolschewisten bezeichnen. Vorbilder sind nicht nur die Gebrüder Strasser, sondern auch Slobodan Milošević, während Sarah Wagenknecht mit ihrer schon vom Namen her nationalbolschewistischen Initiative klar gescheitert ist.

Es gibt die Angst abzusteigen, es gibt die Angst, dass die Abgestiegenen sich den engen Raum teilen müssen, es gibt Xenophobie. Aber auf der anderen Seite gibt es immer jemanden, der das für seine Zwecke zu nutzen versteht, der instrumentalisiert, der populistische Sprüche in pöbelhafter Sprache hinausschleudert und übrigens auch keine Achtung vor den Gedanken anderer hat. Das ist kein tragfähiges politisches Konzept und wird sich auf Dauer nicht durchsetzen, weder hier noch anderswo. Die zweite Regierung mit nationalistischer Beteiligung ist soeben gescheitert, nach Österreich nun auch Italien. Sie werden alle scheitern, sowohl am Wählerwillen als auch – Gott sei Dank – an ihrer scheinbar als Fluch vererbten Inkompetenz.

Das eigentlich Tragische in diesem Jahr – und man kann befürchten, dass es bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal so kommt – sind die Versuche der Parteien mit diesem zurecht als widerwärtig wahrgenommenen Problem fertigzuwerden. Auf der einen Seite ist die AfD demokratisch gewählt, auf der anderen Seite aber missbraucht sie die Demokratie und deren Geld auf die schändlichste Weise. Manche rennen ihrer Schaumschlägerei hinterher, wie leider auch die neue Vorsitzende der CDU. Andere versuchen ernsthaft die Rückgewinnung verlorener Verlierer.

Am Freitag vor der Landtagswahl hat sich der stellvertretende und – wie zu befürchten ist – designierte Vorsitzende der SPD in ein abseitiges Banlieu begeben. Die alte Bedeutung des heute eindeutig konnotierten Begriffs war das Stadtbild von weitem, das Weichbild einer Stadt. Die Hauptstadt der Uckermark, die immer noch eine der größten gotischen Kirchen – demnächst sogar fertig rekonstruiert – besitzt, wird aber dennoch gekennzeichnet durch fast endlose Neubauviertel, die aber schon fast ein halbes Jahrhundert hier stehen. Wahrscheinlich wollte die SPD die Menschen erreichen, die sich hier abgehängt fühlen. Aber es kam eine Handvoll überwiegend ältere Damen auf dem Fahrrad, dazu die Stadtprominenz, angeführt vom SPD-Bundestagsabgeordneten, der seit Jahren durch seine Visionslosigkeit geradezu schockiert. Die Adressaten waren wie immer ausgeblieben. Es gab mehr Kuchen als Kaffee, aber diese Kuchenbüffets sind auf allen Veranstaltungen absolut identisch. Daraus folgt, dass die ältlichen Frauen das Rückgrat dieser Art politischer, religiöser und künstlerischer Kultur sind. Der Kuchen war bemerkenswert gut. Dazu war der künftige Vorsitzende der ältesten und größten Partei Deutschlands mit zwei gepanzerten Mercedes-S-Klasse-Limousinen und einem dicklichen Polizisten auf dem Motorrad hundert Kilometer aus Berlin angereist:

LOVE WAS SUCH AN EASY GAME TO PLAY – YESTERDAY.

In derselben Woche hat das Handelsblatt eine Studie der Universität Mainz veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass die vier gesundheitlich lebenswertesten Regionen im Nordosten Deutschlands liegen. Der in dieser Hinsicht beste Postleitzahlbezirk hat die Nummer 17. Schauen Sie nach und kommen Sie her!