ENTITÄTEN UND ID ENTITÄTEN

 

Nr. 215

Nichts ist mit nichts identisch, auch nicht mit sich selbst. Diesen Satz würde die Hälfte der Bevölkerung unterschreiben, aber die andere Hälfte könnte aufschreien: außer mir, und mein Nachbar denkt das gleiche. Die Gruppenbildung wird heute durch die Echowirkung der neuen und für praktisch jeden verfügbaren Medien erleichtert und verstärkt. Wirft jemand seine Wahrheit in den Raum, so springt sofort jemand herzu, der sie bestätigt. Sie bestätigen sich beide und finden bald einen Dritten, der die Welt auch so sieht. Die Gruppen lesen über lange Zeiträume nur ihre eigenen Botschaften. Es wäre falsch zu sagen, dass ihre Begriffe postfaktisch wären. Sie haben mit Fakten nichts zu tun. Es sind zu Fakten stilisierte Ängste, Befürchtungen und Vorstellungen, die zu Gewissheiten werden, je mehr sie sich wiederholen.

Man begreift, wenn man die Gegenwart genau betrachtet, den Hexenwahn besser. Er war, so wie diese eigenartigen Echos heute, eine Mischung aus tatsächlicher Angst und Denunziation. Denunziation ist auch Ablenkung von der eigenen Verantwortung und von der eigenen Angst. Das ist verständlich. Aber Denunziation ist auch so ziemlich das Niedrigste, besonders wenn sie mit der scheinbaren Allmacht von Kirche oder Staat kombiniert auftritt und den Denunzierten zum hilflosen Opfer einer omnipotenten Ranküne macht. Die Denunziation im Verbund mit der Macht ist die Verschwörung, die als Projektion von den Denunzianten den Denunzierten vorgeworfen wird. Wer anders hat mit dem Teufel gebuhlt als der Nachbar oder die Nachbarin, die die Nachbarin dem Feuer oder der Vierteilung auslieferte? Hoffentlich erinnern sich die Reformationsfeierer im nächsten Jahr, dass im protestantischen Minden viermal soviel Hexen verbrannt wurden als im katholischen Köln. Es verbessert oder modernisiert sich nie alles gleichzeitig. Manches bleibt aus guter alter Gewohnheit beim alten. Fast alle der Dutzenden Abspaltungen von den Protestanten waren Fundamentalisten. Nur die zurück gehen, wissen den Weg.

Die Krise der Demokratie, nicht ihr Ende, scheint nicht auf einem Mangel an Lebensmitteln zu beruhen. Die deutsche Kanzlerin betont, dass es uns nie besser ging als gerade jetzt, aber sie trifft damit nicht das Defizit, unter dem ihre Nichtwähler leiden. Ich wohne in einer Kleinstadt im äußersten Nordosten Deutschlands. Wenn hier in einer Diskussion Kritik vorgebracht wird, dann reagiert die führende Gruppe reflexartig mit immer derselben Argumentation: aber wir haben doch das Schwimmbad, die Freilichtbühne, das Parkfest und die neue Straße. Die neue Straße ist vierzig Jahre alt, von daher kommt auch die führende Gruppe. Aber sie versucht, wenn auch mit überholten Mitteln, die Identität, oft auch Heimat genannt, zu bewahren. Dagegen werden die Kreisreformen, die es hier seit über hundert Jahren gibt, die Identitäten der Menschen immer weiter abbauen. Ein paar Jahre später jedoch besteht wieder die Chance, dass genügend Neubürger die alte Zugehörigkeit nicht mehr kennen.

Wenn sich große gesellschaftliche Systeme im Umbruch befinden, reagieren die Menschen panisch. Aber dann sollten Institutionen da sein, die die Menschen beruhigen, ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Aber diese Institutionen müssen sich gerade auch in diesem Moment zum Reformieren zurückziehen. Der Staat schließt gerade dann seine Luken, wenn er am meisten gebraucht wird. Wir stehen konsterniert vor dem Häuschen mit dem Schild: Geschlossen aus Betriebsablaufgründen. Aber da drinnen wird nicht nachgedacht, sondern es werden die alten Schilder neu sortiert: Politikverdrossenheit, Modernisierungsverlierer, postfaktisches Zeitalter als Ersatz für schnelllebige Zeiten. Ein Schild wurde entsorgt: Alternativlosigkeit. Am besten ist: in Zeiten wie diesen.

Aber es geht nicht darum Politiker dafür zu schelten, dass sie auch nur Menschen sind, dass sie auch nur zwei Hände und einen Kopf haben. Es ist eher erstaunlich, dass es immer wieder Menschen gibt, die es für ein bisschen Macht und bei uns in Deutschland nicht so viel Geld auf sich nehmen, ihr ganzes privates Leben zu destabilisieren, um nicht zu sagen zu zerstören. Und bei weitem nicht jeder von ihnen kommt in die Geschichtsbücher, was ein weiteres Motiv wäre. Viele verderben sich auch noch die Spanne zwischen dem Ende der Wirkmächtigkeit und dem Geschichtsbucheintrag.

Ein winziges Detail aus der jüngeren Geschichte mag veranschaulichen, dass der Zusammenhang zwischen ökonomischem und politischem Wohlbefinden schon lange nicht mehr entscheidend ist. Elena Ceaucescu rief ihrem Mann, dem stürzenden Diktator auf dessen letzter, scheiternder Kundgebung zu: Gib ihnen hundert mehr, denn der Lohn war in kommunistischen Diktaturen ebenfalls vom Staat diktiert. Bekanntlich haben die beiden den Tag nicht überlebt. Die letzte Rentenreform in Deutschland hat ebenfalls keine stabilisierende Wirkung auf CDU und SPD. Bedauerlich ist, dass es keine Aussicht auf eine andere Koalition gibt. In Großbritannien haben ebenfalls die älteren Wähler dafür gesorgt, dass die Taschenlampen ausgegraben wurden, um den Weg zurück zu finden: zurück aus Europa. Ein weiteres Ergebnis des Brexit könnte sein, dass die seit 1701 bestehende Personalunion des englischen Königshauses mit dem schottischen beendet wird.

Wir können uns tatsächlich unserer Identität nur rückwärtsgewandt versichern, da niemand die Zukunft voraussehen kann. Die Industrialisierung wurde nicht nur als Bedrohung gesehen, sondern fand sogar in einer ästhetischen Bewegung die wir heute noch schätzen, ihre Begleitung, nämlich in der Romantik. Und im allgemeinen Sinne ist Romantik heute immer noch: sich aus der allzu mobilen Welt zurückziehen, eine Kerze ins Fenster stellen und am besten zu zweit träumen. Es gab vehemente Widerstände gegen die Mobilitätsschübe durch die Eisenbahn und durch das Automobil, gegen die Entfremdung durch die Industrialisierung und die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Massenproduktion, der wir die Globalisierung verdanken. Es gab Proteste gegen die Amerikanisierung der Populärkultur in den zwanziger Jahren, die im Rassismus der Nazis ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Es gab in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg ein aus heutiger Sicht völlig unverständliches, fast pathologisches Festhalten  an alten, absolut untauglichen Werten, die keine waren: Prügelstrafe, Zuchthaus, Ächtung, Verbote gegen Amerikanisierung, Verweiblichung, Gleichmacherei, lange Haare, enge Hosen. Jugendliche wurden in beiden deutschen Ländern als halbstark bezeichnet von Männern, die ihre Arme und Beine und den Krieg verloren hatten. Wenn James Dean im Kino weinte, schrien diese Männer in ihrem Nazijargon etwas von Verweichlichung.

Obwohl es höchst unangenehm ist, mit Trump und Frauke Petry zu leben, letztlich beunruhigend ist es nicht. Sie werden vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das familiär-politische Korruptheitsbündel der Trumps, Erdoğans und Putins dieser Welt ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es so gestrig ist und eine Identität vorspiegelt, die es nie wirklich gegeben hat.

SYMMETRISCHE VISIONEN: SELAMÜN ALEYKUM

Zur Erinnerung an die Uraufführung 2014 von Begegnung der Propheten von Erhan Sanrı

Ich saß zuerst auf dem falschen Platz der leider nur gut zu zwei Dritteln besetzten Philharmonie in Berlin. Ein freundlicher junger Deutschtürke zeigte mir seine beinahe identische Karte. Dem Architekten des Hauses, Hans Scharoun, gelang, wovon wahrscheinlich viele Architekten träumen: ein symmetrisches Konstrukt, das spontan wirkt, aus dem Ärmel geschüttelt, das die perfekte Akustik für Visionen hat. Nur die Orgel ist asymmetrisch.

Als Auftragswerk der Berliner Cappella entstand ein Oratorium, das, so ähnlich wie Bach, Händel oder Mendelssohn Bartholdy Thora- und Bilbeltexte vertonten, erstmalig Korantexte zur Grundlage hat. Erhan Sanrı stand vor der schwierigen Aufgabe die beiden religiösen Welten, die musikalischen Sprachen des Morgen- und Abendlands sowie antikes Denken und modernes Publikum zusammenzubringen.

War die türkische Musik im achtzehnten Jahrhundert eine Mode (alla turca), so ist ihr Einfluss über die Militärmusik, deren Instrumente und Rhythmen sich mit dem nordamerikanischen Gospel vereinigten und an der Wiege aller modernen Musik standen, viel nachhaltiger als wir alle denken können.

Zu Zeiten Bachs und Händels war die biblische Sprache den Menschen in Europa so nahe wie die Sprache des Korans den heutigen Muslimen. Diese aber kennen nur die traditionelle melodiöse Vortragsweise.  In diesem Spannungsfeld entstand eine äußerst interessante und im zweiten, mittleren, Jesus gewidmeten Teil hochemotionale Musik.

Der erste Teil zeigt, wie der Prophet Mohammed zu seiner Berufung kam und stand und wie er mit ihr umging. Da der Prophet, aus Hochachtung, nicht direkt zu uns sprechen kann, wird sein erster Biograf Ibn Ishaq als Vermittler seiner Worte eingeführt, für die gläubigen Muslime spricht und singt Fatima. Ganz ähnlich wie bei Bach steht die wunderbare und samtene Altstimme für die tiefgläubigen Frauen, die als Mütter viel mehr für die Weitergabe des Glaubens tun als die teils hochgelehrten Männer, so wie die Frau des Propheten der erste Mensch war, der an seine Berufung glaubte.

Im dritten Teil sind sich die drei monotheistischen oder abrahamitischen Weltreligionen am nächsten, er zeigt Mose in den uns allen bekannten Situationen. Plötzlich kann uns klar werden, dass aus dem Orient nicht nur jeden Morgen das Licht, sondern auch das Wort kommt. Musikalisch tut  Sanrı in diesem Teil das, was wir vielleicht am meisten von ihm erwarten: er zeigt mit orientalischen musikalischen Mitteln, den Klarinetten, die Verwandlung des Stockes in eine Schlange und zurück. Aber andererseits entgeht der Komponist genau diesem erwarteten Schema. Zwar hat er zwei orientalische Instrumente, die Nay-Flöte und die orientalische Zither Qanun, die vor allem auch für die Rezitative eingesetzt wird, er entgeht jedoch der Folklore-Falle weitaus mehr als sein berühmter Kollege Fazil Say in seiner Istanbul-Sinfonie. Aber, um noch einen Vergleich zu bringen, der die Eigenständigkeit der Tonsprache Sanrıs gegenüber anderen betont, auch die vollständige Auflösung des orientalischen Modells in elektronische und minimalistische Klänge wie bei Erdem Helvacıoğlu (‚Timeless Waves‘) wird vermieden. Lediglich einige Orgelcluster zeigen, dass Sanrı auch diese Sprache beherrscht. In Hamburg wurde Sanrı kritisiert, dass er nicht der neue Bach sei, ein Vorwurf, den sich auch Beethoven und Paul McCartney gefallen lassen müssten, in Berlin muss er gelobt werden, dass er versucht hat, für das neue Zusammenleben der alten Religionen und Weltsichten eine neue Tonsprache wenigstens zu versuchen. Die Synthese muss nicht zwangsläufig erkennbare, gar folkloristische Elemente enthalten, sie kann und soll differenzierter und emotionaler sein. Die meisten Chöre sind eher in der Schönbergschen Tradition der allerspätesten Spätromantik, während das Orchester, beispielhaft an den beiden Trompeten vorgeführt, oft in kleinen Sekunden dahinschreitet und fast atonal ruft. Am besten gelungen scheint das im emotionalsten und spannungsreichsten zweiten Teil, der Jesus, also Isa, dem jüdischen Stifter des Christentums und islamischen Propheten gewidmet ist. Aber anders als bei Mose teilen sich bei Jesus auch die Ansichten. Die Juden erkennen ihn nicht als Messias an, die Muslime sehen ihn zwar als Propheten, nicht aber als Sohn Gottes. Auch ist er nach islamischer Überlieferung nicht durch Schriftbesitzer, also die Juden, getötet worden, sondern am Kreuz entrückt, zu Gott eingegangen, und das hat er mit allen Propheten gemeinsam, von Adam und dem rätselhaften Idris, über den gottergebenen (‚Muslim‘) Ibrahim (Abraham) bis zu Musa (Moses), Isa und Mohammed. Sie alle werden musikalisch gestaltet. Der wuchtige Chor ‚Jesus gleicht Adam‘ kann sich einen Platz in der Oratorienkultur erobern, besonders wenn er sich dann mit dem bemerkenswerten Altsolo, gesungen von Sunniva Eliassen, zu einem machtvollen Bekenntnis aller Religionen, Weltsichten, ja, aller Menschen vereinigt: Friede sei auf allen, selamünaleyküm.

Wenn sich die Gedanken und Gefühle aller Menschen einer Stadt vereinen, dann schwebt über ihr schon lange der Geist der Gemeinsamkeit und Toleranz, wenn auch von hier der schlimmste Rückfall in die Barbarei geplant und ausgeführt wurde. Geplant wurde in Berlin aber auch der Nathan, der mit weiser Voraussicht und im Verein mit dem weisen Saladin und dem ungestüm-weisen jungen Tempelherrn die geheimen Verwandtschaften der Menschen aufdeckt. Und uraufgeführt wurde gestern in Berlin der sehr gut gelungene Versuch, die Oratorientradition mit einem Seitenzweig zu bereichern, der den über Berlin schwebenden Geist musikalisch ausdrücken will. So gesehen hat sich das Toleranzviertel von der Gegend um die Sophienkirche in Berlins Mitte in Richtung auf die Emmauskirche am Lausitzer Platz verschoben, tatsächlich aber über ganz Berlin ausgebreitet.

In den nächsten Wochen wird Bachs Weihnachtsoratorium in Berlin bestimmt fünfzigmal aufgeführt. Tausende Berliner Muslime lesen gerade, weil sie ein Fachabitur machen wollen, Lessings Nathan. Das ist gut. Aber schön wäre, wenn wir nächstes Jahr zu Weihnachten in Berliner Kirchen wenigstens den mittleren Teil von Sanrıs Oratorium hören könnten. In einer Moschee wird es noch lange nicht möglich sein, weil es deren Tradition verbietet.

Natürlich gibt es keine symmetrischen Konstruktionen im Zusammenleben der Menschen, insofern ist die Architektur nicht erstarrtes Leben. Aber wir sollten uns immer wieder bemühen, die andere Seite aus ihrer vermeintlichen Asymmetrie zu befreien, so wie sie uns aus unserer Asymmetrie zu befreien suchen sollte, und welches schönere Bild kann es für den vereinten gekrümmten Raum geben, als die Kuppel einer Moschee oder Kirche oder Synagoge. Das ist eine Vision, und übrigens heißt Sanrı übersetzt: Vision. Ich hoffe, dass mein symbolisches Spiegelbild, der junge deutschtürkische Mann auf Platz 2 Reihe 2 Block B rechts ebenfalls gute Gedanken und Gefühle hatte.

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PARADOX

Nr. 214

Jemand, der nicht einsieht, dass Schwesterlichkeit Brüderlichkeit zur Voraussetzung hatte, weil die Welt war, wie sie war, ist wie einer, der seine Eltern vor seiner Geburt umgebracht hat und sich dann wundert, dass er nicht da ist. Man kann die Vorgeschichte, die gesamte Geschichte ignorieren, aber nicht ungeschehen machen. Henry Ford meinte, als er Geschichte zu Quatsch erklärte, sicher das Auswendiglernen von Geschichtsdaten einerseits, andererseits das konservative Festhalten an ungeprüften oder nur scheinbar bewährten Überlieferungen. Zum Beispiel war man früher der Ansicht, dass das Verprügeln eines Menschen durch berechtigte Personen, wie zum Beispiel Väter, Lehrer, Polizisten, noch niemandem geschadet hätte. Dass die verprügelten Menschen willig in den Krieg zogen, umso williger, je mehr Mühe man sich gab, sie zu erniedrigen und zu motivieren, wird völlig ausgeblendet. So wie das Verprügeln für legitim gehalten wurde, sah man auch das Töten im Krieg. Überhaupt neigen wir dazu, einfache Zusammenhänge, zum Beispiel Kausalzusammenhänge, zugunsten komplizierter Zusammenhangsverästelungen zu bevorzugen. Wir vernachlässigen, was uns zu kompliziert erscheint. Die heutigen Medien, die der Gipfel demokratischer Meinungsbildung zu sein schienen, sind gerade die Meisterstücke des Ausblendens allgemeiner Zusammenhänge. Man könnte dies den Google-Filter nennen: gib dich selbst bei Google ein, und du hältst dich für bedeutend, weil du glaubst, dass die ganze Welt dich so sieht, wie du dich in deinem Google-Spiegel. Das elektronische Echo verfolgt dich nicht nur, sondern es überhöht dich. Du plapperst nach, was andere dir jeden Tag einflüstern, und glaubst, dass du eine dezidierte Meinung zu allen, aber auch allen Lebensfragen der Gesellschaft und der Geschichte  hast. Das wurde durch fünfzig Jahre Talkshows eingeübt. Aber die heutigen Stichwortgeber und Einflüsterer sind nicht mehr Politiker, über deren Kompetenz schon beinahe wieder Einvernehmen herrscht, sondern bist du selbst mit der riesigen Gruppe der Menschen, die die Welt auch so sehen wie du. Die Eliten, von denen die Eisenbahn, das Automobil, das Internet abstammt, werden in Bausch und Bogen übel beleumdet. Aber als Unglück wird nicht die eigene Schwäche, das eigene Defizit, vielleicht auch die zufällige Verknüpfung widriger Umstände angesehen, sondern die Eliten, die Demokratie als die herrschende Regierungsform, der Fremde, der mit bittendem Blick am Gartenzaun steht.

Obwohl bei jedem der ebenfalls allgegenwärtigen Medikamente ein Zettel liegt, auf dem steht, dass beispielsweise der Kopfschmerz zwar schwindet, aber dafür auf Dauer die Niere geschädigt wird, das Herz gewinnt, aber der Magen verliert, obwohl also jeder von uns schon einmal solch einen Zettel wenigstens teilweise gelesen hat, negieren viel Menschen, dass jede Handlung, jeder Fakt auch tausend Gegenhandlungen und Echos hat. Wir blenden aus, was uns irritiert. Und dann irritiert, was wir zuvor ausgeblendet haben, wenn es nämlich ein anderer Mensch sagt, der nicht zu unserem Kreis gehört. Die Gruppe, der Freundeskreis, die soziale Schicht ersetzt, was früher Rasse, Klasse, Nation, Religion war. Die Globalisierung und Demokratisierung schieben sich nur langsam über die Menschheit, obwohl ständig von der zunehmenden Geschwindigkeit die Rede ist. Schneller sind immer die anderen. Obwohl bei jedem der letzten Kleinkriege, dem Eingreifen des Westens etwa in Bürgerkriege, umständlich betont würde, dass und wieviel und warum Zivilisten Opfer kriegerischer Handlungen sein könnten, und wodurch das gerechtfertigt wäre, nämlich durch den endlichen Sieg der Demokratie und der Globalisierung, glauben immer noch viele Menschen, dass eine Tat eine Tat ist und nicht tausend Gründe und tausend Nebenwirkungen hat.

Unsere Gesellschaft hat viele Jahrhunderte dafür gebraucht, herauszubekommen, dass Strafe weder wirklich abschreckt noch als Rache legitimiert werden kann. Schon im Alten Testament und parallel dazu in den Gesetzen des babylonischen Königs Hammurapi steht das Talionprinzip, das sich gegen Rache und Willkür richtete, und anscheinend wurde erst im zwanzigsten Jahrhundert entdeckt, dass die Menschheit blind würde, wenn sie das konsequent und buchstabengetreu anwendete. In den Jahrzehnten der Stabilisierung der Demokratie gab es immer wieder Rückfälle in das alte Strafdenken und eine Minderheit hat sich immer wieder auf eine Gruppe von Menschen konzentriert, die aus der allgemeinen Vergebung fallen sollten. In Amerika, aber auch während des Kalten Krieges in Europa waren das zum Beispiel die Spione, dann die Mörder. Seit es immer weniger Mörder gibt, jedenfalls in Japan und Europa, sind es nun die Sexualstraftäter, besonders wenn es Fremde sind. Wie schon die Morde, werden die meisten Sexualstraftaten in der Familie begangen. Ein solcher Täter plant seine Tat wahrscheinlich weniger als der Kaufhausräuber, von denen es scheinbar auch immer weniger gibt. Wahrscheinlich wird die Abschreckung nicht viel helfen. Es hilft viel mehr Prävention, die Voraussicht, dass ein Kind in irgendeiner Weise gestört ist, könnte verhindern, dass es später, wenn es erwachsen ist zum Straftäter wird. Andererseits, das haben wir hier schon oft geschrieben, wird unser Sicherheitsdenken immer perfekter, so wie unsere Sicherheit und unser Wohlstand wachsen. Unser Fokus richtet sich auf die verbleibenden Taten. So wie wir den Terror nur zur Kenntnis nehmen, wenn er vor unserer Haustür stattfindet, und dahin projizieren wir ihn auch, so erscheint uns die Berichterstattung der Sensationen so, als ob unser grauer Alltag umstellt mit Sensationen wäre. Statt dessen wird über den Fehler eines Politikers genauso langte berichtet und diskutiert wie über die brüchige Ehe eines Schauspielers wie über die Beziehungstat in einem Einfamilienhaus in Tübingen, weil es keine wirklichen Sensationen gibt. Wir empfinden es nicht als Sensation, dass es seit dem letzten Krieg keinen wirklichen Krieg mehr gegeben hat. Statt dessen schauen wir gebannt auf die allerdings wirklichen schrecklichen Taten einiger Terrorgruppen. Weil fast alle Krankheiten von der Erde verschwunden sind, wird jeder einzelne Virus, man möchte beinahe sagen, als Sensation begrüßt. Und schließlich hungern zum Glück, zum Glück, immer weniger Menschen.

Und deshalb sind diese eigenartigen Meinungen von Minderheiten, dass wir wieder mehr Strafen, dass wir gar die Todesstrafe brauchen, dass Politiker zurücktreten müssen oder verhaftet werden sollten, dass die Polizei in jeder einzelnen Familie Untaten verhindern kann, dass das Böse wie die Vogelgrippe eingeschleppt wird, dass Kleidungsstücke verboten werden müssen, diese Meinungen sind zum Scheitern verurteilt. Das letzte Kleidungsstück, das in Deutschland verboten war, war die ‚Nietenhose‘, so wurden die Jeans von den Funktionären der DDR genannt. Und wo sind sie jetzt?

Nicht nur Demokratie und Globalisierung werden triumphieren, sondern auch die Innerlichkeit, die Vergebung und die Liebe.

DIE WELT, DIE ICH MIR WÜNSCHTE

Nr. 213

Als ich ein kleiner Junge war, gab es wenige Autos und wenige Autofahrer, und sie hatten noch den Grundsatz gelernt, dass Motorkraft vor Muskelkraft geht. Autos hatten Vorfahrt. Die Muskelkraft wurde auch dem Geist vorgezogen, und so wurden wir Kinder, je nach der Kraft unserer Erziehungsberechtigten und weniger Berechtigten mit Ohrfeigen, Kopfnüssen, Ohrendrehen und auch mit der einen oder anderen ‚Tracht Prügel‘ zur vermeintlichen Ordnung gerufen. Aber was war das für eine Ordnung? Die Erwachsenen hatten gerade den zweiten Krieg ihres Lebens verloren, aber sie konnten und wollten nicht einsehen, dass damit auch alle ihre wirklich falschen Ordnungs- und Gedankengebäude zusammengebrochen waren. Ruinen waren nicht nur die Kirchen und Schulen, die Fabriken und Wohnhäuser, sondern auch die Pfarrer und Lehrer, Fabrikdirektoren und Hausbesitzer. Einmal waren sie Ruinen im wörtlichen Sinne: ihnen fehlten Arme, Beine, Augen… Vielleicht kommt daher das Wort Elternteil. Zum anderen aber verstanden sie die Welt nicht mehr und brüllten daher ihre Gedankenfragmente in die Ruinen, in denen wir, die Kinder jener Zeit, geduckt saßen. In die beiden deutschen Länder hinein, die allerdings am Anfang noch viele Klammern, wie etwa Verwandte und Radiosender, hatten, wurde die Vision des jeweiligen Siegers verbreitet. Dass der Kommunismus nur aus mehr oder weniger epigonalen Textbausteinen bestand, so wie vor ihm der Nationalsozialismus auch, war schon deshalb nicht gleich erkennbar, weil über den Kommunismus eine Folie des Antifaschismus gelegt wurde. Die Volksweisheit, dass man die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt, galt in beiden Deutschländern. Auch im Westen ist die Demokratie erst angenommen worden, als wir schon mitten im Generationskonflikt feststeckten.

Als ich ein kleiner Junge war, träumte ich von einem Fahrrad und von fernen Ländern. Mit dem Fahrrad fuhren die sich langsam wieder einordnenden Väter zur Arbeit. Es hatte keinen sportlichen Aspekt, sondern diese Schwerfälligkeit und Langsamkeit der Väter und Großväter, die für die Arbeit zuständig waren und nicht für das Vergnügen. Trotzdem lernte ich früh Fahrradfahren, ohne Hoffnung auf ein eigenes. Von fernen Ländern zu träumen war leicht. Noch war die grüne Grenze, so wurde sie genannt, offen. Mein Taschengeld dagegen reichte noch nicht einmal für eine Bahnsteigkarte. Ich hatte kleine Stapel von Briefmarken und Geldnoten geerbt, die materiell nichts wert waren, aber meinen Horizont erweiterten. Mit meinem ältesten Freund habe ich Landkarten in den Sand gemalt. Figuren und Wörter in den Sand zu malen, ist nicht nur ein Ausdruck von Abwesenheit, sondern auch von Vision, Traum, Fantasy, die man damals noch mit PH und IE schrieb. Wir haben damals von Ländern geredet, die niemand kannte und die es auch gar nicht mehr gab: Montenegro, Bosnien, Estland und San Marino, das es zwar gab, das faktisch im Schutz seiner Unbekanntheit lag, gegen die aggressive Kirche aber auch ein Heer ausgebildet hatte. Die letzte Todesstrafe wurde in San Marino 1468 vollzogen. Österreich erklärte San Marino den Krieg und Großbritannien warf trotz Neutralität und Grenzkennzeichnung durch riesige weiße Kreuze Bomben ab, und allein daran kann man die Unsinnigkeit und den Nichtsnutz von Aggression, Militär und Macht sehen. Demokratie und Kommunismus waren in San Marino sogar zeitweilig vereint, als kommunistische Kapitänregenten gewählt worden waren. Mit solchen Problemen haben wir uns beschäftigt, als wir kleine Jungen waren.

Als ich ein kleiner Junge war, waren Männer noch Männer und Frauen noch Frauen, rechts war rechts und links war links, Schwarze waren Schwarze und Weiße Weiße, und so weiter, das ganze dichotomische Lexikon herauf und herunter. Aber jeder in meiner brandenburgischen Kleinstadt kannte die Katzenfresserin und den alten Mann in Frauenklamotten. Jeder wusste, dass der Oberkommunist früher Nazi war. Später kannte jeder den berüchtigten Satz von Filbinger: Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Der erste Schwarze, den ich gesehen habe, wurde von einer Kindergruppe freundlichst begrüßt: Neger, Neger, Schornsteinfeger sangen sie oder waren es wir, die so sangen? Der erste Schwarze, mit dem ich befreundet war, wurde von den Konkurrenten seiner Leute erschossen, weil er in der falschen Befreiungspartei war. Der Befehlsgeber der Mörder ist der heute absurdeste Führer eines afrikanischen Landes. Heute kommt mir selbst die politisch korrekte Bezeichnung colored nations oder Schwarze inkorrekt vor, weil es keine Unterschiede gibt.

Als ich ein kleiner Junge war, träumten wir von Maschinen, die die Straßen fegen würden, denn die Straßen wurden von Losern gefegt und der Beruf galt als das allerletzte, was man erreichen konnte, wenn man nichts erreicht hatte. Der Müll wurde von Pferdewagen abgeholt, auf denen dreckige schlechtbeleumdete alte Männer saßen, die direkt aus den Geschichten aus der Murkelei von Hans Fallada entstiegen zu sein schienen. Hans Fallada ist der Dichter, der nicht so hieß, wie er hieß, der drogensüchtig und hochbegabt, Mörder ohne Abitur und Kreator ohne Studium gleichzeitig war, und obwohl er in der bürgerlichen Gesellschaft als ‚dauernd untauglich‘ galt, ist er bis heute äußerst erfolgreich. Wir träumten von Maschinen, die die Teller wüschen und die Dinge bauten, die wir verbrauchen würden, wenn wir so reich wären, wie wir heute sind. Wir träumten solange von Maschinen, sie waren auch in unseren Lesebüchern abgebildet und entsprangen der Fantasy von Fantasten gleich uns, bis wir von Maschinen umstellt, in Maschinen eingeschlossen, Gefangene unserer Fantasy waren. Wer sich schon einmal in einem Gebäude befand, nachdem die Alarmanlage eingeschaltet hatte, weiß, wovon hier die Rede ist. Wieder sind es die Romanschreiber und Filmemacher, die Maler und Fantasten, die uns die Alternative einer nie alternativlosen Welt zeigen: Jean Tinguely baute mit seinen absurden Maschinen die absurde Welt nach. Lange Zeit ist die Musik, die aus Geräuschen und Krach besteht, missverstanden worden: auch sie malt, wie Rembrandt, die Welt ab und nach: laut und sinnlos zieht sie ihren Umweg. Was uns früher als reine Dichotomie erschien, zeigt heute sein wahres Gesicht als Unschärfe.

Warum ist denn das Leben falsch? Es ist falsch, weil es nicht richtig sein kann. Es kann nur gut sein, wenn du aus der Maschinenwelt hinaustrittst, wenn du auf das falsche, aufgezwungene, vorgeschriebene, aus Text- und Legobausteinen bestehende Leben der anderen verzichtest, wenn du aufhörst, über den Verzicht der anderen zu lachen. Du musst dich selber nach dem Weg fragen, nicht deine Navigationsmaschine, du musst dich selber bewegen, nicht nur auf das Gaspedal deines Selbstbewegermaschine genannten Semiautomaten drücken, das Selbstbewegende bezog sich auf den Verzicht auf Pferde, die so schön und schnell und treu sind. Die Renaissance des Fahrrads in Amsterdam und Kopenhagen und Münster und Berlin, die Renaissance des Gesprächs, wenn die Geräte abgeschaltet sind, die Renaissance der maschinenlosen Welt jenseits der Schlachthöfe und jenseits der Betonvorstädte ist vielleicht die Alternative, die Zukunft der Menschheit, der Menschheit, nicht der weißen absurden stupiden Automateneuropäer in ihren fliegenden und sausenden kohlenstoffdioxiderzeugenden und energieverbrauchenden Kisten mit Monitoren und Kopfhörern und Telefonen, die alles können außer Espresso und Liebe. Glaubt mir, unser Leben ist ein Sinus, kein Kreuz.

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STORDEUR: Der indische Junge in der TINGUELY-Maschine. Amsterdam 2016

SPIEGELVERWERTUNGSGEMEINSCHAFT

 

Nr. 212

Das Wort TEILEN erlebt nach einem Jahrhundert des SAMMELNS eine Renaissance, wenn nicht eine Hochkonjunktur. Das müsste uns nicht beruhigen oder beunruhigen, weil wir seit langem wissen: Steine sammeln, Steine zerstreuen, und man kann es auf den Feldern tatsächlich beobachten. Ein Traktor mit Arbeitsleiste und einem Arbeiter zieht seine Runden und sammelt die Steine, die die Eiszeit zuvor verstreut hatte. Manche Steine wurden zu Häusern oder Schlössern oder auch Straßen verdichtet, andere liegen in Söllen, jenen Wasserlöchern der Eiszeit, wieder andere bedecken Gräber, und man fragt sich, wie haben unsere Vorfahren vor dreitausend Jahren derart schwere Steine bewegen können. Die Antwort ist seitdem: mit ihrem Geist. Vielleicht schalteten sie auch zwischen ihren Geist und die Aufgabe eine Megamaschine. Das Auf und Ab des Lebens fand schon immer seine Metapher in solchen symbolischen, aber gleichzeitig auch nützlichen Tätigkeiten.

Während im Westen schon immer der Grundsatz galt: eine Zeitschrift ist eine Zeitschrift ist eine Zeitschrift, war hinter dem Eisernen Vorhang klar: eine Zeitschrift aus dem Westen ist der verdichtete, ja komprimierte Blick in den Westen, also in die Welt, durch ein zufälliges Fenster. Das zufällige Fenster konnte ein Kofferraum sein, der sich aus ganz anderem Grund geöffnet hatte, aber neben Sandwiches und Klopapier eben auch den Spiegel enthielt. Die Tasche eines Westverwandten konnte es sein, der keine Angst vor der Zollkontrolle gehabt hatte, die natürlich keine Zollkontrolle, sondern eine verlängerte Zensurmaßnahme war. Westeuropäer und Ostrentner teilten sich damals in die absolut ängstlichen, die nichts schmuggelten, und die mutigen, die ein Buch oder eine Zeitschrift nicht als verboten anerkannten. Es ist immer wieder lächerlich zu sehen, wie Diktatoren oder Potentaten sich vor dem Wort und dem Witz fürchten. Sie können nicht ohne Groll regieren. Alles Schlechte wird einem imaginären Feind zugeschrieben und alles Gute dem ebenso imaginären Freund angelastet.

In den osteuropäischen Großstädten gab es deutschsprachige, vor allem jüdische Sprachinseln, aber auch die deutschen Minderheiten, die außer in Rumänien zu Miniminderheiten geschrumpft waren, hatten Kulturräume, in denen der SPIEGEL auslag. Meist waren es alte und zerlesene Exemplare, aber manchmal war auch ein ganz neuer darunter. In Warschau und Bukarest gab es noch jüdische Gemeinden und  Theater, und in deren Lesestuben konnte man sich einfinden. Tee erhielt der Exot aus Ostdeutschland umsonst. Von daher kommt unsere Vorstellung, dass eine Zeitschrift mehr ist als eine Zeitschrift, dass die Komprimiertheit des Wissens, aber auch der Luxus einer eigenen Meinung etwas Bewahrenswertes ist. Im Osten wurde ohnehin vielmehr gesammelt, legendär war unser Plastiktütenwahn, die Ansicht, dass Verpackung selber eine bewahrenswerte Qualität sei. Da wir Brutto nicht verstanden, konzentrierten wir uns auf Netto und Tara. Der Mangel erzeugt immer eine Art ansaugendes Vakuum. Diebstahl wird toleriert, wenn er einen  staatlich gelenkten Mangel ausgleicht. Dass man  damit das Gesamtsystem noch mehr schädigt, war uns nicht bewusst. Aber wenn es uns bewusst war, dann wurden wir für verrückt gehalten. Zum Beispiel fand mein Aufruf ‚Wer sich nicht anstellt, muss nicht anstehen.‘ kein Gehör. Im Westen wurde zur gleichen Zeit die Losung eines ebenfalls kaputten Dichters bevorzugt: ‚Macht kaputt, was euch kaputt macht.‘ Die gesamtdeutsche Antwort auf beide zerrissenen Teilthesen kann nur lauten: MACHT, WAS EUCH KAPUTT MACHT, GANZ.

Eine kompakte Zeitschrift erzeugt nicht nur kompaktes Wissen, sondern auch Altpapierberge. Diese kann man sammeln wie ein Mensch von damals, diesseits des Eisernen Vorhangs, man kann sie recyceln wie ein Bürger diesseits des nur noch fragmentarisch vorhandenen eisernen Vorhangs, oder aber man kann ein geistig-materielles Recycle-Programm mit einer Teilhabe mehrerer genossenschaftlich verbundener Personen ins Leben rufen. Das haben wir getan.

Durch ein Abonnement statt bisher teils sehr aufwändiger und sogar unsinniger Einzelkäufe wird der Arbeitsplatz des Verteilers gesichert. Das ist keine so leichte Aufgabe. Ich kenne einen Informatikstudenten, der ein paar Monate lang nicht nur die Zeitungen und Zeitschriften in Berlin-Kreuzberg verteilte, sondern die dazugehörigen Datensätze im Kopf hatte und auf den Wegen zwischen den Abonnenten an einer App arbeitete, die das alles verarbeitete. Sodann haben wir den Abonnenten, das bin ich für den Printteil, für den elektronischen Zugang, der rabattgestützt daranhängt, konnte ein Student der Volkswirtschaft an einer Eliteuniversität gewonnen werden. Die Printhefte gehen dann in ein weiteres uckermärkisches Dorf, wo sie zweitgelesen werden. Nach einer gewissen Zeit der Sammlung werden die Hefte dann nach Berlin-Reinickendorf zu einem Studenten der Sozialwissenschaften befördert, der damit seinen Rückstand des Lesens im allgemeinen und der Politik im Besonderen aufholen will. Das macht er seit Jahr und Tag sogar mit freiwilliger Kontrolle.

Warum kann man nun nicht, so fragen die Befürworter von Genossenschaften und Teilgemeinschaften schon mehrere Jahrhunderte lang, auch andere Güter so teilen und einer Gemeinschaft nutzbar machen? Dem steht offensichtlich das künstlich, durch Aufklärung, Wohlstand und Demokratie, vielleicht auch nur durch die industrielle Massenproduktion geschaffene Individuum gegenüber, das Ideale und Teilideale von Besitz und Unabhängigkeit in sich trägt, die nicht zu verwirklichen sind. Es macht gerade den Reiz des Lebens aus, dass einerseits unverwirklichbare Ideale den andererseits nicht zu beseitigenden Widersprüchen, deshalb heißen sie so, gegenüberstehen. Wie Vater und Sohn oder Mutter und Tochter sich gegenüberstehen, obwohl sie zu einem hohen Prozentsatz identisch sind, so sehen sich Ideal und Wirklichkeit unversöhnlich an. Der Sohn wird zum Kompromiss, wenn er Vater wird. Der Wohlstand hat nicht nur zur Hungerfreiheit geführt, sondern auch zur Sammelleidenschaft. Das ist keineswegs neu, steht schon im AltenTestament, aber neu ist seine Inflation. Wir haben zum ersten Mal Gesellschaften, in denen die Menge und sogar Mehrheit der Menschen mehr als satt ist.

Und so könnte eine neue Zeit des Teilens und der Genossenschaften gekommen sein. Es wird immer wieder behauptet, dass der Mensch an sich böse, egoistisch oder gewaltbereit sei. Wäre das so, sage ich seit langem, wären wir seit langem schon nicht mehr. Der Impuls das Kind zu schützen war immer größer als der, das Kind zu verwerfen. Das ist der Grund, warum die Menschheit, seit wir uns selbst reflektieren, wächst. Dieses Wachsen empfindet sogar wieder eine Minderheit als bedrohlich. Angst ist eine Tatsache, aber keine Entschuldigung für das Böse. Das Fremde ist sicher oft mit Angst besetzt, aber es ist auch immer die Quelle des Fortschreitens.