PREKARIAT

 

Nr. 229

Es ist beinahe trivial festzustellen, fast schon sprichwörtlich, dass eine ganze Menge von Menschen glaubt, die Welt sei mit ihnen entstanden. Vorher war nur Schlamm und Dummheit. Unser Bewusstsein räumt uns selbst die Priorität ein, die wir als Selbstwert brauchen, um in den ebenfalls sprichwörtlichen Stürmen der Welt bestehen zu können. Die Stürme der Welt sind allerdings durch die Art des Wirtschaftens, durch den Sozialstaat und durch die Demokratie zu lauen Lüften aus Frühlingsgedichten gebändigt. Vor dieser Dreiheit war der Mensch durch Missernte, mangelnde Barmherzigkeit und Willkür der Eltern, Arbeitgeber und Staatsbeamten praktisch ständig existenziell gefährdet. Wer das Wort gegen die Obrigkeit richtete, dem wurde die Zunge aus dem Mund gerissen. Merkwürdig ist nur, dass es auch heute noch Menschen gibt, die an die Abschreckung durch Unmenschlichkeit glauben. Wären das Zungeherausreißen, das Blenden, Händeabschlagen und Hängen, das Kopfabschlagen, Pfählen und Vierteilen wirksam und abschreckend gewesen, dann säßen wir heute noch in einem solchen mittelalterlichen, finsteren und äußerst prekären Staat und würden auf Eselskarren ins Nachbardorf als weitestem Ort unseres gesamten kurzen Lebens reisen.

Nicht wenige glauben, dass es prekäre Verhältnisse erst gibt, seit eine sozialdemokratische Regierung Langzeitarbeitslosen geregelte, allerdings nicht besonders üppige Dauereinkünfte gesichert hat. Und diese Sicherheit nun wird immer wieder hinterfragt. Einerseits glaubt sich jeder Steuerzahler überfordert und rechnet einmal pro Jahr nach, wieviele Menschen von seinem Einkommen, seiner Differenz zwischen Brutto und Netto, leben. Andererseits rechnen die Empfänger von Transferzahlungen wöchentlich nach, was sie mit den drei Euro und siebenundachtzig machen könnten, die ihnen zustünden, aber verweigert wurden, sei es aus Abschreckung, sei es aus Mangel an vorliegenden Gründen. Das Wort ‚prekär‘ ist aber natürlich viel älter als die Geschichte Deutschlands. Es steht in jedem Lateinwörterbuch und heißt einfach ‚unsicher‘. Unsichere Verhältnisse sind jene, in die man zu geraten vermeiden sollte, wenn man kann, ist man aber darin, so sollte man versuchen, Oberhand zu behalten und schnellstmöglich herauszukommen. Wir streben immer nach Sicherheit, obwohl wir wissen, dass Abenteuer es sind, die uns eigentlich vorwärtsbringen. In gesellschaftlichen Umbruchzeiten neigen die Menschen dann auch zu Abenteuern. Als 1989 der Ostblock zerbröselte, hat die ganze Stadt Rostock und das ganze Land Albanien, jeweils auch durch ihre Stadt- und Landesregierung ermuntert, an einem Schneeballfinanzspiel teilgenommen. Es beruht darauf, dass jeder Teilnehmer Gewinn macht, und zwar von unten nach oben. Man muss also nur jedem Teilnehmer einreden, dass er zwar am Anfang ganz unten ist, aber mit jedem gewonnenen Neuteilnehmer sukzessive nach oben gelangt. Die einfache Rechnung, dass in einem Topf nicht mehr Geld sein kann, als man hineinwirft, wird von den Teilnehmern verdrängt und schließlich vergessen. Vielleicht verwechseln die Menschen auch den Besitz von Geld und seinen Verkauf, weshalb immer wieder, von Jesus bis Silvio Gesell, und dazwischen Gottfried Feder, Ideologien aufkommen, dass der Zins  der eigentliche Verderb des ehrlichen, einfachen, geraden Menschen sei. Gerade Menschen kann und darf es nicht geben, weil das Ideal und das Lot immer von Menschen gemacht wären.

Wir Menschen streben also nicht nur nach einer sicheren Menge von Geld, ungeachtet ihrer Größe, weil wir Geld für das Äquivalent von Glück halten. Bestenfalls ist es aber der Gegenwert von Brot, Kleid und Dach. Immer wieder werden hinter den komplizierten menschlichen Verhältnissen, darunter den ökonomischen und außenpolitischen, einfache Lösungen vermutet, die aber aus Dummheit, Böswilligkeit oder Berechnung nicht zum Einsatz kommen. Statt langsam zu glauben, dass es keine Wahrheiten gibt, sondern nur Varianten, wird immer wieder zurückgeblickt: Aber hinter uns liegt doch die gleiche Gemengelage von Erfolg und Scheitern, das gleiche Wechselspiel von Glück und Unglück, das uns auch nicht verunsichern sollte. Das geistige Prekariat sind also Leute, die glauben, dass allzu einfache Lösungen die komplizierten Probleme lösen können. Dass die Welt und ihre Erscheinungen im Gegenteil komplexer werden und dadurch die Lösungen immer differenzierter werden müssen, wird wohl kaum ein denkender Mensch bestreiten können. Allerdings wird schon bestritten, dass man denken muss, wenn man glaubt, dass die abgegriffenen Lösungen der Vergangenheit tauglich wären für immer komplexere Probleme. Dabei sind viele Probleme schon sozusagen eingezäunt worden: es gibt – außer Malaria und AIDS – keine der Pest oder der Cholera in bezug auf Mortalität und Verbreitung vergleichbaren Krankheiten. Diese beiden weltweiten und mit ungeheurer Wucht tödlichen Krankheiten haben sich ins sprichwörtliche Leben und Fühlen der Völker eingegraben, so dass man heute noch ein Dilemma mit der Wahl zwischen Pest und Cholera beschreibt, und das sollte man einmal an der Shell-Tankstelle in 89058 Scilla* gedacht haben. Zwar haben wir im Süd-Sudan und Somalia gerade eine Hungersnot und rund 800 Millionen Menschen hungern weltweit noch, aber jeder weiß, dass dieser Hunger leicht zu besiegen wäre. Wir liefern zwar Lebensmittel in solche Regionen, aber wir liefern auch Waffen. Wenn sich alleine Deutschland dazu entschließen könnte auf ein Prozent seines Exports, nämlichen den Waffenexport, zu verzichten und die dadurch verlorene Geldmenge in gleicher Höhe aus anderen Quellen in die Entwicklungshilfe zu geben, gleichzeitig die Ausgaben für Rüstung statt zu steigern zu senken, und die dadurch gewonnene Geldmenge in die Bildung zu stecken, dann wäre nicht nur ein Zeichen gesetzt, sondern auch tatsächlich geholfen. Der bedauerliche und höchst überflüssige Bürgerkrieg in Syrien wird leider von einigen Mächten als Projektionsfläche ihrer Machtspiele genutzt, aber wer wollte ihn ernsthaft behaupten, dass dieser Krieg dem zweiten Weltkrieg oder dem Vietnamkrieg ähnlich sei? Es ist der Menschheit gelungen, große Probleme zu lösen (Pest, Hunger, Krieg). Die Weltlage ist nicht prekär und wird es auch nicht durch Trump, Petry und Le Pen. Prekär kann die Welt nur werden, wenn man jenen glaubt, die glauben, dass es einfache Lösungen geben könnte. Die Frage ist ja noch, ob sie es wirklich glauben. Wir können diese Frage ebenso wenig beantworten, wie die Frage, ob derjenige oder diejenige, die sagen, dass sie uns lieben, uns lieben, oder vielleicht vielmehr Kompromisse eingehen, um geliebt zu werden. Diese prekären Personen und Parteien sind also mehr missgünstigen Nachbarn zu vergleichen, die morgens um zehn bei dir klingeln und dir sagen, sie hätten gesehen, wie dein Liebster/deine Liebste IN WIRKLICHKEIT jemand anderen liebt. Prekär ist es, einen Gedanken für die Wirklichkeit zu halten. IST JEDES ANTI EIN MANGEL AN PRO?

ORIENTEXPRESS

Nr. 228

Der Orientexpress, der legendäre Zug von Paris nach Konstantinopel, fährt in Leere. Inzwischen gibt es auch die beiden großen Bahnhöfe in Istanbul nicht mehr, Sirkesi auf der europäischen Seite und Endstation des Orientexpresses, und Haydarpaşa, der Ausgangspunkt der Bagdadbahn werden sollte.

Der Begriff des Romans wird gewöhnlich aus den romanischen Sprachen, woher er kommt, hergeleitet. Das übersieht die italienische Neuigkeit, novella, aus der die englische und amerikanische novel kommt. Und alle zusammen vergessen, dass nirgendwo länger und ausgiebiger erzählt wurde als im Orient, nicht nur tausendundeine Nacht lang, sondern Jahrtausende.

Die osmanische Herrschaft war traumatisch grausam wie jede Fremdherrschaft. Aber sie hatte ihre Nischen und Kommodationen. Zwar wurde jeder zehnte christliche Knabe in einer ebenso spektakulären wie theatralischen, aber auch leidvollen Aktion (devşirme, Knabenlese) für die Janitscharen, die Elitetruppe der Sultane, geraubt, und die Mütter gingen kilometerweit schreiend und klagend hinter dem Zug her. Aber jeder tausendste Knabe hatte auch die Chance des Aufstiegs. Wenn man das Leid der Familien wegrechnen könnte, dann wäre die Chancenverteilung mathematisch nicht so grundlegend anders als heute. Aus einem bosnischen Bergdorf namens Sokolov, Falkenort, unweit Vişegrads, wurde um 1515 ein solcher Knabe geraubt, der es bis zum Großwesir des Osmanisches Reiches und Schwiegersohn des Sultans Selim II. brachte, nachdem er Admiral und Gouverneur, dritter und zweiter Wesir geworden war. Er hat sich in einer Reihe berühmter Bauten verewigt, die zum Teil, wie die legendäre Brücke über die Drina und die wenig bekannte, aber wunderschöne Moschee (Sokollu Mehmet Paşa Camii), von dem ebenfalls aus der Knabenlese stammenden Megabaumeister Mimar Sinan errichtet worden waren. Was er, der seiner Familie und seinem Volk ein Denkmal errichten wollte, nicht ahnen konnte, dass Jahrhunderte später wieder ein kleiner Junge davon träumen würde, seiner Vergangenheit mit einem Monument zu dienen. Man darf nicht vergessen, dass Bosnien ein kleines, liebenswürdiges, wunderschönes, aber gänzlich unbekanntes Land ist. Ivo Andrić, der später, als er schon als alter Dichter in seiner Belgrader Wohnung sinnierte, den Nobelpreis dafür erhielt, war als kleiner Junge bei seiner Tante in Vişegrad untergebracht. Dort sah er täglich die Brücke, die nicht nur die beiden Ufer der Drina, sondern auch die beiden Welten Orient und Okzident miteinander verband. Die Brücke, die oft auch zerstört wurde, zuletzt im Bosnienkrieg 1992-1995, ist selbst auch ein kultureller Ort gewesen, den der kleine Ivo tief in sich aufgesogen hat. Andrić schrieb eine viel beachtete Dissertation und wurde Botschafter des Königreichs Jugoslawien in Deutschland. Während der deutschen Besatzung, sozusagen im Zwangsexil, schrieb der seine weltberühmte fiktive Chronik ebenjener Brücke in ihrer krassen Widersprüchlichkeit. Die Brücke ist an sich schon die perfekte Metapher der Verbindung von Widersprüchen. In diesem beschaulichen Tal trafen aber nicht nur gewöhnliche Widersprüche, sondern die beiden Welten aufeinander. Sie, diese beiden Welten, sind sich gleichzeitig Orientierung, denn wir haben das Wort son unserem morgendlichen Blick in den Osten, und Feind. Diese Feindschaft wird immer wieder beschworen. Sie ist nicht nur überflüssig, wie inzwischen jede Feindschaft, sondern auch historisch nicht vertretbar. Die Religionen, die so lange Orientierung für fast alle Menschen in Europa und damit auch in Amerika waren, kommen aus dem Orient, die Mathematik, der Kaffee und eben die Erzählkunst, das hohe Abschweifen, die ganz lange, fast permanente Geschichte. Während man lebt erzählt man gleichzeitig sein leben, so dass Leben und Erzählung, Tatsache und Fiktion, zu einem einzigen Fluss zusammenwachsen, so wie die Drina und der Rzaw an der Brücke von Vişegrad. Ivo Andrć hat diese gemächliche, alle Nebengeschichten zulassende orientalische Erzählkunst in die Gegenwart gerettet. Dort hat sie Orhan Pamuk aufgefangen. Pamuk stammt aus einer reichen Istanbuler Familie. Von seinem wunderbaren Haus kann er sowohl über den Bosporus als auch über das Goldene Horn blicken. Diese privilegierte Sicht nutzt er, um die Tiefen menschlichen Verhaltens zu beobachten und zu beschreiben. Seine Geschichte aus tausendundeinem Jahr beschreibt eine Familie, eigentlich nur einen Menschen aus dieser Familie, den Boza-Verkäufer Mevlut Karataş. Da beginnen schon die Symbole. Boza ist ein vergorenes joghurtähnliches Getränk, manchmal mit, manchmal ohne Alkohol, das in den Straßen ausgerufen und lose verkauft wurde, ein Relikt aus dem alten Konstantinopel, die letzte Bastion der Natur vor den heute allgegenwärtigen und allmächtigen Plastikbechern, die eines Tages unsere Meere zugeschüttet haben werden. Karataş, Schwarzstein, und Aktaş, Weißstein, sind die beiden Zweige derselben Familie, die alle vom Land nach Istanbul gehen und damit der merkwürdigen Stadtentwicklung folgen, die zum großen Teil aus Gecekondus besteht, aus Bauten also, die, um die Baugenehmigung zu umgehen, in einer Nacht errichtet wurden. Mevlut geling nicht der Aufstieg. Er bleibt der ewige underdog. Er schreibt mit einem Briefsteller und weiterer Hilfe Liebesbriefe an ein Mädchen, das er nur einmal gesehen hat, und muss dann ihre Schwester heiraten. Aber sie und die beiden Töchter liebt er über alles. Fast könnte man sagen, dass über dem orientalisch erzählten Roman der Satz des Augustinus stünde:  ama et fac quod vis, liebe und tue, was du willst. Aber es zeigt sich, dass man in einem normalen Leben, und das hat eben unser armer Mevlut, nicht tun kann, was man will, sondern was man muss. Also bleibt uns nur zu lieben.

Zwischendurch sollte man allerdings auch immer etwas lesen. Lesen ist keine Sache des Expresses, des Druckes der Geschwindigkeit und des Zeitgeists. Lesen ist Ausdruck – Express – des langen Flusses des Lebens, der keiner Navigation, keiner Kausalität, keinem Zwang folgt. Jedem Anstauen des Flusses folgt eine Entladung, jeder Entladung ein Mäandrieren und Verweilen. Und vielleicht sind wir alle, wie der Fährmann von Visegrad, der vor der Errichtung der berühmten Brücke sein Handwerk verrichtete: ‚Er war ein Mann von hünenhaftem Wuchs und ungewöhnlicher Kraft, aber er war heruntergekommen in vielen Kriegen, in denen er sich hervorgetan hatte. Er besaß nur ein Auge, ein Ohr und ein Bein, das andere war aus Holz. So, ohne Gruß und ohne ein Lächeln, beförderte er Waren und Reisende, launenhaft und eigenwillig, langsam und unregelmäßig, aber ehrlich und sicher, so dass seine Vertrauenswürdigkeit und Ehrlichkeit genauso weit bekannt waren wie seine Langsamkeit und Eigenwilligkeit.‘

 

 

 

Ivo Andrić,   DIE BRÜCKE ÜBER DIE DRINA, Hanser 1962

Orhan Pamuk,  DIESE FREMDHEIT IN MIR, Hanser 2016

DIE GEGNER SIND ALLE IM INTERNET

Nr. 227

Ein Brief

 

Liebe D.T.,

endlich habe ich nun das von dir geschenkte Buch gelesen und verstehe, warum du es mir geschenkt hast. Viele Schreibende – bei den Lesenden erfährt man es nicht – sind in dieser uns so schnell erscheinenden Zeit – aber ein Blick in den Salomon, Shakespeare und die Barockdichtung zeigt: die fanden die Welt auch zu schnell, bloody tyrant time – fasziniert von der Gleichzeitigkeit der Menschen und Dinge. Wir erleben als nebeneinander stehend, was unsere Vorfahren noch schön sortiert nacheinander erfuhren. Genossen haben sie es auch nicht, sie litten unter dem, was sie sahen, wir leiden an der heutigen Welt und eines unserer klagenden Lieblingsworte ist deshalb auch ‚heutzutage‘, was immer so klingt, wie ein resignierender Greis im Kreis seiner technikbegeisterten Enkel.

Einen alternde Professor, der mit der plötzlich vorhandenen Zeit und dem leeren Raum um ihn her hadert, beschreibt Jenny Erpenbeck aus der Pankower Erpenbeck-Literatur-Dynastie in ihrem jüngsten und hochaktuellen Roman GEHEN, GING, GEGANGEN. Modellhaft stellt er unsere vielfach zerrissene und auf wundersame Weise Gleichzeitigkeit repräsentierende Welt dar. Er kann auch nach fünfundzwanzig Jahren nicht so recht fassen, dass er im vereinten Deutschland nicht nur lebt, sondern hochangesehen und wohlhabend ist. Zwar wurde das Orchester, in dem seine Frau einst Bratsche spielte, abgewickelt, aber sie hatte, wie wir auf den letzten Seiten erfahren, noch drei weitere Probleme, nämlich dass sie nach einer Abtreibung keine Kinder mehr bekommen konnte, dass ihr Mann eine Klischeegeliebte hatte, nämlich eine Studentin, und dass sie deshalb dem Alkohol in diesen kleinen billigen Chantréfläschchen, die es an der Kasse gibt, verfallen war. Dieses Vakuum füllt der alternde Professor mit seiner Beschäftigung, denn zunächst ist es mehr Interesse als Engagement, für eine Gruppe westafrikanischer Flüchtlinge, die er auf dem Oranienplatz zufällig gesehen hat. Am meisten wundert er sich darüber, dass wir als aufgeklärte, höchstmoderne, mit schnellster Informationstechnik ausgerüstete Menschen nicht in der Lage sind zu unterscheiden, ob wir etwas wollen oder etwas uns will. Würden wir mehr auf die Afrikaner hören, so wäre die Antwort schnell gefunden: Wer das Mittelmeer in lecken Schlauchbooten ohne Steuermann überlebt, mit dem hat Gott etwas vor. Wer kurz vor dem Verhungern ist, dem zeigt das Schicksal einen Ring, der in einer für einen einzelnen Menschen viel zu großen Villa sinnlos herumlag, wie der Leser weiß, schon seit Jahrzehnten. Aber da begibt sich der Dieb, obwohl er sein Überlebensproblem kurzfristig gelöst hat, in ein unlösbares moralisches Dilemma, das mit seinen kindlichen Thesen und unserem übertriebenen Rechtsverständnis kollidiert. Er tritt, obwohl die Erzählerin die Schuldfrage letztlich offen lässt, nach dem möglichen Diebstahl nicht mehr auf und muss sich selbst verleugnen. Wir lehnen aber diese einfachen klaren Denkstrukturen ab und nennen sie kindlich. Wenn wir bei Verstand geblieben sind, lehnen wir aber auch die Produkte eines kranken, bürokratischen Ungeistes ab, der zum Beispiel Duldung als Aussetzung der Abschiebung definiert. Demnach wäre Leben auch nur die Aussetzung des Todes und der Bürokrat in einem üblen Sinne allmächtig. Vielmehr ist der Professor in seiner Ostvilla das Sinnbild, nach dem wir handeln könnten und nach dem er auch im letzten, fast utopisch zu nennenden Kapitel handelt: er füllt sein Sinnvakuum mit Menschenliebe und seine Bibliothek mit lieben Menschen. Um das als richtig, machbar und notwendig zu erkennen, muss er aber erst eine Berliner Odyssee durchlaufen, vom Altersheim, das jetzt ein Flüchtlingsheim ist, aber dann umgebaut wird, nach Spandau und von da in das Kirchen- und Wohnzimmerasyl.

Und genau dort in Spandau, liebe D.T., du hast es vielleicht geahnt, kam auch ich in der ersten Flüchtlingskrise vor zwanzig Jahren zu meinem Interesse an der Verwandlung von Papierfetzen in Menschen. Genau wie damals in Spandau, sind auch hier die Flüchtlinge in einer ehemaligen Kaserne untergebracht, und das ist allemal besser als in einer Turnhalle, die noch dazu gebraucht wird. Die Kaserne dagegen braucht niemand mehr. In ihren großen, für Appelle und hallige, louisarmstrongmäßige Befehlsschreie gedachten Fluren stehen noch die russischen Bezeichnungen aus der Besatzungszeit. Wenn ich noch länger dorthin gehe, entdecke ich im Keller vielleicht auch noch die Uniform eines toten Wehrmachtshauptmannes. Oben kochen meine Ostafrikaner ihre scharfen Saucen und brutzeln deutsche Hühner zu äthiopischen Kostbarkeiten um. Wie der Professor aus dem Buch erhalte ich als einziger Besteck, ich kann die Suppe nicht mit dem Brot, das injera heißt, essen. Eine weitere schöne Parallele sind die Autofahrten. Die Menschen, die uns an der Kreuzung stehen sehen, vier Schwarze und ein verrückter weißer alter Mann, verstehen die Welt nicht mehr. Und damit haben sie recht: es ist schwer zu verstehen, dass die Welt sich gerade wieder, vielleicht wirklich aller fünfzig Jahre, in einem Umbruch befindet. Wir wissen es nicht, aber vielleicht bringt dieser Umbruch wieder einen Schub Gerechtigkeit. Der fiktive Professor und der reale Dorfschullehrer hören jedenfalls die gleichen Geschichten aus West- und aus Ostafrika: jeder Cent, der hier durch Sparen und billigstes Essen übrig bleibt, wird nach Hause geschickt. Dort muss eine Schwester aus dem Gefängnis in Libyen freigekauft werden, hier wird ein Stück Land für die ganze Familie in Ghana gekauft.

Im Roman, den ich nicht gleich gelesen habe, weil mein Vorurteil gegen dokumentarische Literatur manchmal Zeit haben will, wird ganz deutlich der Gewinn gezeigt, den wir alle von den Flüchtlingen und überhaupt von allen Migranten haben: die Welt, die wir als Erfahrung brauchen, kommt zu uns. Migration ist so gesehen ein Pizzadienst der Weisheit. Unser Sinnvakuum füllt sich langsam, nicht ohne Rückschläge auf.  Das überflüssige (ich hoffe, dass die mitlesenden Ökonomen das leicht verachtende Wortspiel erkennen) Geld wird sinnvoll unter die Menschheit gebracht. Die Umweltkatastrophe, die durch unsere maßlose Energieverschwendung beschleunigt wird, kann durch die Aufnahme von Menschen aus anderen Weltgegenden abgebremst werden. Die Besinnung auf traditionelle Techniken könnte dies noch unterstützen, zum Beispiel Fahrräder aus Bambus, die in Ghana hergestellt werden. In Westafrika gibt es begnadete professionelle Autobastler, die aus von uns aufgegebenen Ruinen keine Nobelkarossen, aber doch fahrtüchtige Flitzer machen. Aus Ostafrika kam einst der Kaffee und kommt er noch, aber wir, die wir ihn lieben, verachten seine Erfinder. Vielleicht war der Finder des Kaffees wirklich ein Ziegenhirt in der äthiopischen Provinz Kaffa, der beobachtete, dass seine Ziegen munterer waren, wenn sie von einem bestimmten Strauch gefressen hatten. Auch er konnte in der Mittagssonne eine Aufwachdroge gut gebrauchen.

Gestern war ich im Heim verabredet, aber es war niemand da. Später wird eine Botschaft nach der anderen bei Facebook eingehen. In der Küche brutzelte ostafrikanische Köstlichkeit und ein Baby schrie. Und zum zweiten Mal merkte ich, dass sich schwarze Babies (a boy or a girl?) von alten weißen (stupiden?) Männern gern und gut beruhigen lassen. Die Mutter freute es.

Unsere Welten sind offensichtlich nicht nur kompatibel, sondern komplementär. Wenn jeder einen Flüchtling aufnähme, gäbe es keine mehr. Und in noch einem Punkt geht es mir und sollte es uns allen wie dem alternden Professor in dem Roman gehen: Ich kenne nur Sympathisanten. Die Gegner haben sich alle ins Internet verzogen.

 

Jenny Erpenbeck, GEHEN, GING, GEGANGEN, Roman, Knaus 2015

HEUTELAND IST MORGENLAND

 

Nr. 226

Der erbitterte Widerstand gegen Angela Merkel ist auch ein Restvorurteil gegen Frauen. Frauen hatten bis 1918 in Deutschland kein Wahlrecht und kein Recht, ein Konto zu eröffnen, selbst dann nicht, wenn sie eine beträchtliche Summe  geerbt hatten, weil die herrschende Meinung den Frauen nicht das Recht absprach, aus Gehässigkeit, aus Machtwillen, aus Demagogie, sondern die Fähigkeit. Man war vor 1918 der festen Überzeugung, dass Frauen und Schwarze über andere, nämlich geringere geistige Fähigkeiten verfügten als Männer. Diese Erkenntnis kam daher, dass es offensichtlich keine Frauen in führenden Positionen gab, keine Dichterinnen, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen. Selbst den Ausnahmen unterstellte man Hilfebedürftigkeit. Maria Theresia regierte nur deshalb so erfolgreich, weil ihr nach außen erst ihr Mann und dann ihr Sohn zur Seite gestellt war, so dass damalige Frauenfeinde die österreichische Politik genau andersherum sehen konnten. Nicht die Vergangenheit war besser, sondern die mangelnde Erkenntnis war einfacher. Früher stimmte die Welt noch, ist der Satz, den man genauso oft hören kann wie: früher war alles besser. Wenn nur alte, weiße, blöde Männer zur Regierung taugen, dann ist nicht die Regierung besser, sondern die Erkenntnis der Fehler und Richtungsweisungen leichter. In den Vereinigten Staaten von Amerika spielt sich gerade eine solche Erkenntnistragödie ab. Die Botschaft, es sei doch alles ganz einfach, den Terror beendet man mit Einreiseverboten, mangelnde Wirtschaftskraft mit Protektionismus und das ewige Zaudern schwarzer, weiblicher, liberaler und junger Menschen mit Aktionismus. Jedoch weiß jeder Mensch: Aktionismus ist blind, weil er wütend wird. Und Wut ist nicht das Gegenteil von Zaudern. Demokratie ist auch nicht zaudern, sondern abwägen, überlegen, erörtern.

Die großen autokratischen Regierungen des neunzehnten Jahrhunderts, die meist auch gleichzeitig monarchisch waren, wurden durch die Abschaffung der einfachen, dichotomischen Sichten ausgehöhlt. Erst nach dem Sturz des Kommunismus 1989 wurde den meisten Menschen klar, dass die große politische Differenz nicht zwischen links und rechts bestand, sondern zwischen autoritär, was zeitweilig auch totalitär genannt wurde, und liberal. Allerdings sind sowohl Freiheit als auch Ordnung als Leitbilder menschlichen Zusammenlebens notwendig. Während aber die Freiheit das wichtigste Ideal und Ziel der Menschen ist, kann die Ordnung immer nur ein begrenztes notwendiges Übel sein. Natürlich hatte Rousseau recht, wenn er schrieb, dass die rechtliche Definition des Raumes oder des Besitzes  der Beginn der Gesellschaft ist, weil sie den ersten Vertrag darstellt. Aber auf Rousseau können sich die Ordnungshüter gerade nicht berufen. Er ist ihnen zum Glück verdächtig. Alle Versuche, den Besitz in Gemeineigentum zu überführen sind dann gescheitert, wenn dies als die neue Ordnung ausgegeben wurde. Allerdings gibt es berühmte Ausnahmen, wie die Allmende, die gemeinsame Weide. Aber es gibt, als Gegenargument, auch das Allmendedilemma, das schädliche Suchen nach dem eigenen Vorteil zulasten der anderen. Man kann es gut mit einem schönen, leider wahren Satz von Goethe aus den ‚Maximen und Reflexionen‘ umschreiben: ‚So eigenartig widersprechend ist der Mensch: zu seinem Vorteil will er keine Nötigung, zu seinem Schaden leidet er jeden Zwang.‘[163]

Vielmehr ist die Lösung der Ungerechtigkeit unter uns Menschen in Bildung und allgemeinem Wohlstand zu finden. Das sind beides langwierige, letztlich nur demokratisch zu erlangende Eigenschaften. Die soziale Durchlässigkeit, sozusagen die Abschaffung der Klassen, ist eine große Errungenschaft, aber sie geht einher mit dem Verlust der elitären, apriorischen Eigenschaften einer vorbestimmten Führung. Wenn jeder und jede nach oben gelangen kann, dann fehlt es, dem Anschein nach, an wirklicher Führung. Deshalb wird von sozialrevolutionärer Seite immer wieder das Auseinanderklaffen von arm und reich betont, das es auch tatsächlich gibt. Allerdings lebt ein Prozent unserer Bevölkerung in märchenhaftem Reichtum, ein Prozent lebt in bitterer, unwürdiger, meist auch unnötiger Armut. Aber dazwischen ist die eigentliche Errungenschaft der Industriegesellschaft: achtundneunzigprozentiger allerdings1 abgestufter Wohlstand. Allerdings2 ist die Befreiung vom Hunger nicht identisch mit dem Erreichen einer Zufriedenheit. Allerdings3 ist allgemeiner Wohlstand nicht Problemlosigkeit. Allerdings4 schaffen weder Wohlstand noch Demokratie den ständigen Widerspruch zwischen Evidenz und Tatsache aus der Welt. Der neue informationelle Zustand scheint dabei sogar eher kontraproduktiv zu sein. Aber auch er ist nicht abschaffbar. Informationelle Isolation ist heute weniger denn je möglich, wünschenswert ist sie ja ohnehin nicht. Nordkorea wird an der einfachen, durch Internet und Fernsehen verbreiteten Tatsache zugrunde gehen, dass Südkorea gar nicht arm ist, obwohl es nach der Logik der Herrscherdynastie arm sein müsste.

Obwohl Autokraten immer mit der Evidenz spielen, um es harmlos zu sagen, sind sie doch immer wieder erfolgreich. Nach einer langen Periode der Liberalität, der Demokratie und auch des Wohlstands sehnen sich mehr Menschen nach autokratischen Verhältnissen, in denen sozusagen die Welt noch stimmt: Mann noch Mann ist und Frau Frau, in denen Männer herrschen und Waffen das Sagen haben, in denen schwarz und weiß deutlich unterscheidbar sind, der Feind außen ist, der Freund innen. Ob Hitler, Honecker oder Höcke glauben, was sie schreien, wissen wir nicht. Es ist aber auch nicht sehr wichtig.

Innenpolitisch machen wir gerne den Wandel zur Demokratie am Jahr 1968 fest. Die Spiegelaffäre war überstanden, Brandt wurde Kanzler und kniete in Warschau, die linken Studenten mutierten von niederzuknüppelnden Staatsfeinden zur Elite. Aber es wird vergessen, dass noch zehn Jahre lang in Baden-Württemberg Filbinger regierte und der CDU die höchsten jemals erreichten Wahlergebnisse einfuhr. Filbinger kämpfte nicht nur gegen linke importierte Studenten, sondern auch gegen einheimische Bauern, die den Rhein für wichtiger erachteten als Atomkraftwerke. Und Filbinger reagierte und regierte nicht nur mit Wasserwerfern, sondern auch mit der Untergangslüge, die gerade wieder modern wird: wenn wir das Atomkraftwerk Wyhl nicht bauen, wird es in zehn Jahren hier dunkel sein. Wenn wir Europa und Amerika nicht zumauern, wird das Abendland untergehen.

morgenland

Evidenz ist oft nicht Erkenntnis, sondern dummer Spruch. Erkenntnis ist so schwer wie Wohlstand und Demokratie. Das dauert.

In seinem zweitberühmtesten Zitat beklagt Hamlet nicht, dass die Welt aus den Fugen, dass etwas faul im Staate, sondern dass ausgerechnet er, der Zauderer und Prokrastinierer, berufen sei, sie einzurichten. Dass wir uns berufen fühlen, Schicksalsschläge hinzunehmen, besonders hartes Leid zu tragen oder die Welt zu verbessern, ist doch auch nur eine Frage der Projektion, nicht des Projekts. Die meisten Menschen folgen ohnehin nur der Musik, befolgen Befehle und folgen damit ihrer eigenen Vergangenheit, unabhängig davon, ob sie erfolgreich war. Gruppe scheint ihnen wichtiger als Erfolg.