messina-straße nr. 4

messina-straße nr. 4

wir konterten die pest
da kam die cholera
skylla schrie
charybdis kreisste
niedliche ungeheuer
zwischen baum
käfer und borken
warf pontius
pilatus vor:
in jedem heiland
steckt auch ein verbrecher

wir wünschten das böse wäre
ein mensch ein schwarzes loch
aber es ist bloß
die summe aller falschen
entscheidungen

ZEICHEN SETZEN

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DIE ANGST VOR ODER DIE SUCHT NACH LANGEN TEXTEN

1
Ein Gedanke, das sind etwa 1.000 Wörter oder 5.500 bis 6.000 Zeichen. Warum schreiben wir so etwas?
Wir sind so voll von uns selbst, da ist kein Platz für andere. Meist suchen wir nicht Kontakt, schon gar keine Informationen oder Lebensgeschichten, sondern einfach Bestätigung. Das Leben ist zu schwer, deshalb brauchen wir Schlaf, Drogen, Religion und Philosophie, Kunst und Bestätigung. Wir müssen uns richtig finden, sonst könnten wir nicht leben, dazu brauchen wir den anderen. Aber wir brauchen ihn nicht als den anderen, sondern als Bestätigung. Das klingt wieder negativ. Wir hören und lesen so etwas nicht gern, und wir befürchten, dass in langen Texten so etwas versteckt sein oder am Ende vorkommen könnte. Dann lesen oder hören wir schon lieber: der Mensch ist gut, er kümmert sich ununterbrochen um andere.
Mir scheint, dass Egoismus und Altruismus zwei Pole sind, die aber eine gemeinsame Schnittmenge haben, einen gemeinsamen Pool. Wer will unterscheiden, ob ich in einer Partnerschaft mehr gebe oder mehr nehme, ob ich nehme, um zu geben, oder ob ich gebe, um zu nehmen. Wer will wissen, ob ich nicht so freundlich bin, damit ich beliebt bin, ob ich nicht liebe, nur auf dass ich geliebt werde. Aber das hören und lesen wir nicht gern. Besser scheints uns, da steht: der Mensch ist gut, der gute Mensch ist Altruist, bestenfalls nach Feierabend darf er mal ein kleines bisschen an sich denken. Aber wie geht es Mönchen oder Diakonissen? Der Irrtum von Wichern ist ein doppelter: erstens ist Armut nicht die Folge von mangelndem Glauben (übrigens ist Armut auch nicht die Folge von Reichtum, wie Marx meinte) und zweitens macht Selbstlosigkeit unzufrieden und eben gerade nicht zufrieden, von Ausnahmen immer abgesehen.

2
Es ist schon ein Gemeinplatz festzustellen, dass reines Konsumieren auf Dauer langweilig bleibt und nur dazu führt, dass man immer mehr und immer mehr konsumieren will und vielleicht auch muss. Trotzdem leben wir in einer Welt, in der das Konsumieren immer raffinierter angeboten und angenommen wird. Ehe man sich durchringt kreativ zu werden, kann man sich Jahre und Jahrzehnte damit brüsten, welch ein großer Schnäppchenjäger man ist, wie gut man konsumieren, verbrauchen, genießen kann. Überhaupt sind so viele Menschen mit nichts weiter beschäftigt, als mit ihrem Alltagsleben. Genau das, vielleicht ein bisschen mehr, vielleicht ein bisschen weniger schaffen sie in ihrem Alltag. Der Sonntag wäre das Darüberhinaus, das Besondere. Leider gibt es schon eine, wenn auch zum Glück noch sehr kleine Gruppe, auch eher von Jugendlichen, die die Einmaligkeit, die Berühmtheit, den Kick des Lebens durch eine Untat statt durch eine Tat zu erreichen versuchen: ein kleines Massaker, ein besonderer Mord oder Totschlag, meist übrigens auch nachgeahmt, kopiert und damit konsumiert.
Zur Besonderheit braucht man keinen Ruhm. Man muss nur die Schwelle von den kurzen Texten zu den langen Texten übertreten. ‚Text’ ist hier natürlich eine Metapher und kann auch für Kunst und Kinder, Kitsch oder Kochen stehen, wenn es nur kreativ ist, was man tut. Ob man nun glaubt, dass man den Schöpfer nachahmt, wenn man etwas Neues schafft, oder ob man glaubt, dass der Schöpfer – umgekehrt – die Formel für das Schöpfertum, die Kreativität der Menschen ist, das ist, glaube ich, ganz egal, wenn es nur kreativ ist, was man tut.

3
Kurz gesagt: Wir fürchten uns vor langen Texten, weil wir uns vor uns selbst fürchten. Wir wollen uns nicht auf uns einlassen. Es reicht uns oft die Flüchtigkeit. Und wem bei diesem Wort nicht die flüchtigen, immer kürzer werdenden Partnerschaften einfallen, der sieht nicht besonders gut und weit. Wir projizieren unsere Fehler in den Partner, so dass der immer doppelt so viele Fehler hat wie wir, und dann muss er gehen. Denn aus unserer Sicht geht ja immer der Partner, wir dagegen bleiben wo und wer wir sind.
Deshalb hat die Bildzeitung so viele Leser, weil es da nichts zu lesen gibt. Bücher werden trotz unserer Angst vor langen Texten gelesen, denn sie sind gerade die andere Welt, die es nicht gibt, und die wir deshalb suchen. Kunst ist heute das, was früher der Himmel war.
Die Sucht nach langen Texten entsteht, wenn man sie schreibt, wenn man erfahren hat, dass man sich fortschreiben kann, fort aus dem Alltag, fort in die Ewigkeit, fort zum anderen: zu dir.
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ZU ZEITEN DER NÄHMASCHINE

ZU ZEITEN DER NÄHMASCHINE

Beides kann Ideal und Wunschtraum sein: dem Klischee entsprechen oder ihm widersprechen. Diejenigen, die ihm widersprechen wollen, merken nur selten, wie sehr sie ihm entsprechen, ganz davon abgesehen, dass Widersprecher allein ja schon ein Klischee ist. Danach kommt der Querulant. Um nicht zu sehr am eigenen Klischee zu leiden, sucht der Widersprecher sich ein Feindbild, den Entsprecher. Das ist der Mensch, der so sein will, wie seine Eltern waren oder wie die Bilderbücher empfahlen, die Filmhelden von gestern und heute versprachen. Der Entsprecher teilt dir mit, dass er bald Silberhochzeit hat. Der Enkel macht bald Abitur. Die Karte, die er dir schreibt, gibts im Kunstpostkartenladen Ahrenshoop. Aber während die Silberhochzeit und das Abitur zwar unwichtig, aber doch noch erfreulich sind, folgen dann Briefe und emails zu den Details der Frühverrentung, über die Prozente, die ab- und zugezogen werden, wenn der Entsprecher drei bis sechs Wochen länger oder kürzer die Fron seiner Berufung erträgt oder nicht erträgt. Gleichzeitig wirft er dir vor, dass du Gedichte schreibst, weil sie ja, wie du selbst weißt, nicht so gut wie die von Goethe und Celan sind. Du hattest dir selbst schon Vorwürfe gemacht, du arbeitest daran, aber es ist immer gut, das aus berufenem Munde zu hören. Sodann teilt dir der Entsprecher mit, dass und wie er sterben und beerdigt werden will, nämlich anonym im Trauerwald. Du wunderst dich, dass du selbst noch nicht darauf gekommen bist. Es stand doch gestern im Lokalblatt. Das alles liest und erträgst du viele Jahre lang.
Dann streichst du ihn endlich von deiner Adressenliste. Er war eine Erinnerung aus den Zeiten der Nähmaschine.