DIE WEIHNACHTSMASCHINE

 

Nr. 170

Selbst wenn die Weihnachtsmaschine nur Lametta herstellen könnte, wäre sie Teil von dem, was in der gesamten christlichen Welt von Weihnachten erwartet wird, und das ist zu viel. Die Weihnachtsmaschine, wenn es sie gäbe, wäre so etwas wie die Turingmaschine, nur eben zur Lösung aller emotionalen Probleme aller Menschen. Schlaf, Drogen, Depressionen, aber auch Kunst und Religion helfen uns, das zu schwere Leben auszuhalten. Vom Lametta erhoffen wir uns die Lösung unserer unlösbaren Probleme. Im Weihnachtsbaum, der zur christlichen Metaphorik in keinem Zusammenhang steht, erhoffen wir uns die Reproduktion unserer Kindheit, genauer gesagt die widerspruchsfreie Katharsis, die auch in unserer Kindheit nur zu Weihnachten und vielleicht noch partiell in den Sommerferien eintrat, wenn der Sommer heiß und schön war. Genauso ist die hundertprozentige Erfüllung unserer Wünsche oder Ausführung unserer Pläne eben nicht möglich. Insofern ist jeder Weihnachtswunsch Illusion. Noch schlimmer ist es, dass die Erfüllung eines Wunsches ein noch größeres Bedürfnis erschafft, als es mit diesem Wunsch vorhanden war.

Die Kritik, dass Weihnachten einfach eine Verstärkung von Frustrations- und Konsumverhalten ist, ist so alt wie dieses Verhalten selbst. Deshalb wurde die Geburt von Jesus mit Weihnachtbäumen, Engeln und Christkindern, Nikoläusen und schließlich Weihnachtsmännern verstärkt, aber auch sie haben ihre Höhepunkte überschritten und verblassen gerade.

Wir wollen gleichzeitig eine Atempause und einen moralischen Ansporn, den wir aber mit Absicht jedes Jahr überhören, weil wir immer die Welt durch Kritik an den andern verbessern wollen. Auch die Pause füllen wir uns mit einem Kalender voller Termine zur angeblichen, tatsächlich aber weit verfehlten Besinnung. Auch diese Kritik ist schon sprichwörtlich.

Wahrscheinlicher fällt die wachsende Verkultung von Weihnachten eher mit der Sinnkrise der wohlhabenderen Menschheit zusammen. Ein fehlender Sinn wird aber immer noch nicht als Defizit empfunden. Statt dessen wird weiterhin das Wohlstandsdefizit als eigentliches Problem benannt, so als würde das neunzehnte Jahrhundert fortdauern. Hunger lässt sich einfacher und himmelschreiender beschreiben als Leere.

Dabei stehen der Sinn des Lebens und die Weihnachtsbotschaft in engstem Zusammenhang: die Lösung kommt nicht von außen. Wer auf den Sinn des Lebens wie auf ein Weihnachtsgeschenk wartet, kann lange warten. Man kann den Sinn des Lebens nicht bei Amazon bestellen. Wer auf einen Erlöser wartet, kann ebenso lange warten. Vielmehr ist die Weihnachtsbotschaft eine Metapher der Selbstbefreiung. In jedem neugeborenen Kind ist die Hoffnung auf Sinn und Sinngebung, nicht auf Sinnerlangung.

Jeder hat es schon einmal erlebt, dass ein langes Gespräch Licht in das Dunkel bringen kann. Das muss und kann nicht die Lösung des Problems sein, falls es ein Problem gibt, sondern eine neue Sichtweise, eine Ermutigung. Wer schon einmal in einer verzweifelten Lage war, weiß, dass die Ermutigung mehr wert ist als die fertige Lösung oder der richtige Weg. Denn es gibt keinen richtigen Weg, es gibt keine widerspruchsfreie Lösung. Das ist das Paradox des Weihnachtsgeschenkes: wenn man es endlich hat, ist man schon wieder unbefriedigt und in Erwartung des nächsten Weihnachten. Wenn wir uns die Welt als einen tiefen dunklen Wald vorstellen, etwa wie bei Rotkäppchen, dann ist der Wegweiser eher eine Falle, unsere Hoffnung ist zu einem Drittel Misstrauen und zum dritten Drittel Verzweiflung. Sieht man umgekehrt die Welt als Metapher für einen dunklen unwegsamen Wald, dann sind am Ende mehr verführte als frohe Menschen zu sehen.

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Die Weihnachtsbotschaft ist Freude, aber die meisten Menschen sind gar nicht froh. Sie leiden an sich, an ihren Widersprüchen oder Pickeln, an ihren Wünschen oder Hoffnungen oder Geschenken. Der Sieg über den Hunger hat mehr Probleme geschaffen, als er gelöst hat, woraus nicht folgt, dass das Leben mit dem Hunger leichter gewesen wäre. Nur fielen damals Sinn und Hungerbeseitigung – oder Essenbeschaffung – zusammen.  So gesehen sind die Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen, nicht nur eine demografische Chance, sie lösen nicht nur ein Problem, das wir noch nicht einmal als Problem erkannt haben.

Sie zeigen vielmehr, dass Ermutigung immer Mut voraussetzt. Man muss seine kaputte Hütte und sein verzweifeltes Leben verlassen, durch die Wüste und das Meer zu neuen Ufern und Orten aufbrechen. Man muss die petrifizierten Metaphern wieder verwirklichen. Dann erst können sie zu einem neuen Narrativ erstarren, was wieder, wer weiß, wie lange, Leuchtkraft und Beispiel sei.

Allerdings dürfen wir uns nicht nur unserem klapprigen Smartphone anvertrauen, sondern müssen dem Menschen auf der anderen Seite der Kommunikation ins Auge blicken, wenn wir schon nicht ins Herz sehen können.

 

Es gibt keine Turingmaschine, die alle Probleme berechnen und berechnend lösen kann, wenngleich ein Smartphone oder ein Personalcomputer fast wie Wunder sind. Trotzdem ist der Traum dieses obersympathischsten Träumers und Nerds aller Nerds, Alan Turing, Ansporn und sinnloses Weihnachtsgeschenk, Hoffnung und Enttäuschung zugleich. Unser meistgesprochener Satz am Computer ist: Warum macht er das jetzt nicht. Und nicht: Ein Wunder, was er alles kann! Übrigens ist der Nerd of Nerds ganz ähnlich zu Tode gekommen wie der Lord of Lords: man war befremdet von seinem Anderssein.

Es gibt keine Weihnachtsmaschine, die alle unsere Kindheitsgefühle reproduzieren könnte. Ein dickes Märchenbuch mit 2002 Geschichten, eine fantastischer als die andere, käme dieser ersehnten Maschine noch am nächsten. Die verzweifelte Hoffnung auf die Zernichtung des Hoffens, die reine Rationalität also, war ein Irrweg. Dagegen ist der Irrweg durch die Märchen und Geschichten, durch die Legenden und Gleichnisse, der einzig wichtige Weg zur Ermutigung, zur Hoffnung, zur Lichtung durch Licht und nicht durch fadenscheinige Argumente. Nicht das Medium ist die Botschaft, sondern die Geschichte selbst ist die Botschaft, die Geschichte, die sich jetzt vor unseren Augen abspielt. Die Lösung ist das Naheliegende, was in diesem Moment bei dir anklopft.

DER FREMDLING SCHAFFT SICH AB

Ungleich verteilt sind des Lebens Güter

unter der Menschen flüchtgem Geschlecht.

SCHILLER, Die Braut von Messina

Nr. 169

Einerseits ist der Streit zwischen Nomaden und Sesshaften eine Zeitenwende, die neolithische Revolution, die vor allem in jenem Gebiet zuerst stattfand, das wir als Fruchtbarer Halbmond oder Zweistromland bezeichnen, und aus dem heute ein Großteil der Flüchtlinge kommt. Andererseits tobt ebendieser Streit in jedem von uns. Wir sehnen uns nach einem Haus wie nach der Ferne. Ist man einigermaßen wohlhabend, so kann man einen guten Kompromiss finden, indem man sowohl ein Haus  besitzt als auch dreimal im Jahr in den Urlaub fährt oder sich für 100.000 € ein Wohnmobil kauft. Merkwürdig bleibt nur, dass die großen Hotelanlagen an den Küsten Europas und Nordafrikas dem Banlieue so ähnlich sehen. Die Parallelgesellschaft entsteht nicht nur durch andere Sprachen. Sieht man aber auf die Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen, so kann man mehr Globalisiertes als Trennendes wahrnehmen. Was uns alle eint, ist das Smartphone. Vielleicht richtet sich die Wut der ärmeren Bewohner Europas gar nicht gegen den äußeren Besitz, sondern gegen diese Gleichheit. Es ist ein Neid auf die Gleichheit entstanden, wo früher Klassenhass und Rassismus waren. Google wird schneller einen einfachen Universalübersetzer für jedes Smartphone auf der ganzen Welt entwickeln und verbreiten, als wir das seit langem als falsch und überflüssig erkannte Wort ‚Rasse‘ aus dem Grundgesetz oder den bundespräsidialen Trauererlassen entfernen.

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Flüchtlinge in Prenzlau

Als die französischen Glaubensflüchtlinge in die Uckermark, ins Oderbruch und ins Havelland kamen, schienen ihnen die Differenzen groß und unüberwindlich. Hundert Jahre hielten sie an ihrer sprachlichen und religiösen Separation fest. Heute gibt es noch ein paar Grabsteine und deutsch ausgesprochene Nachnamen. Der Gewinn, den die ängstlich am Zaun stehenden Ureinwohner hatten, war beträchtlich. Einen Behälter zum Tragen von Geld nennen wir immer noch Portemonnaie oder Portmonee, obwohl kaum noch jemand weiß, wie es geschrieben wird. Jedoch gerät langsam in Vergessenheit, wie Phantasie geschrieben wird: Fantasie oder Fantasy? Die Angst vor der Überfremdung der Sprache und der Sitte ist schon immer groß gewesen. Der Fremdling wird zunächst gemieden wie der Köper den Virus oder die Bakterie meidet. Jedoch kam die Rettung nicht aus der Vermeidung, sondern aus dem Schimmelpilz.

Die Frage wird noch sein, wer der Sprache mehr schadet, der Bürokrat, der Wörter nach Definitionen bildet, oder der Flüchtling oder Fremdling, der ein fragiles Verhältnis zur Grammatik und einen Wortschatz wie ein Bildzeitungsleser hat. Fast ist es gelungen, das schöne Wort Lehrling durch die bürokratische Fügung AZUBI, im Westen vorne, im Osten in der Mitte, von den Migranten hinten betont, zu verdrängen. Aus Eltern wurden Elternteile, aus Einwanderern Migranten und aus dem Arbeitsamt das Jobcenter.

Die ehemaligen Gastarbeiter und ihre Kinder und Enkel haben den Genitiv schon gar nicht mehr kennengelernt. Sie können an seinem Verschwinden nicht schuld sein. Als sie in die deutsche Sprache eintraten, war diese gerade mit der Zusammenlegung des Dativs mit dem Akkusativ und der Abschaffung von Flexionsendungen beschäftigt. Konjunktiv und Präteritum sind inzwischen Möglichkeitsformen der Vergangenheit, besonders im Süden (‚Oberdeutscher Präteritumsschwund‘).

Daraus folgt: die Sprache verändert sich, der Mensch verändert sich, die Welt verändert sich. Man kann versuchen zu bestehen oder zu widerstehen, gleichviel, alles ändert sich, und das ist das einzige Kontinuum. Individuen bleiben sich gleich – aber nur von innen gesehen. Von außen sehen wir die anderen, und sie ändern sich so stark, dass wir nicht in der Lage sind, uns ein Bild von ihnen zu machen. Da wir mit ihnen, den anderen, in engen Beziehungen stehen, ändern auch wir uns, indem wir uns ihnen anpassen oder ihnen widerstehen. Von Brecht gibt es die schöne kleine Geschichte, dass ein Sklave gefragt wird, ob er seinem Herrn dienen will. Er antwortet nach sieben Jahren, nachdem der Herr gestorben war, mit einem leisen Nein. So sind wir. Aber wir wollen das Wort Flüchtling und den Flüchtling abschaffen. Dabei übersehen wir, dass er sich selber abschafft.

In ein Gebirgsdorf, in dem alle Familien den gleichen Nachnamen haben, zieht ein Fremdling. Schon durch seinen Namen, aber auch durch seine Lebensweise bleibt er der Fremdling, der Zugezogene, bis ein neuer Fremdling kommt und fragt: wie lange wohnst du schon hier? Der Fremdling schafft sich selber ab, indem er sich anpasst oder die Menschen um ihn herum verändert. Eines Tages werden seine Enkel Bürgermeister. Amerika hat zweihundert Jahre gebraucht, bis es einen schwarzen Präsidenten ertragen konnte und benötigte.

Der Lehrling schafft sich selber ab, indem er lernt und Geselle oder Meister wird. Allerdings wächst das Wissen und wachsen die Fertigkeiten ebenso, und deshalb heißt ein lateinisches Sprichwort bonus vir semper tiro, ein guter Mensch bleibt immer Lehrling. Ein guter Mensch bleibt aber immer auch Flüchtling. Potentiell muss er sozusagen auf dem Sprung bleiben, falls die Verhältnisse in seinem Land ihm weder veränderbar noch erträglich erscheinen. Er ist kein Feigling, wenn er sich der Tyrannei durch Flucht entzieht. In Eritrea herrscht eine der absurdesten Diktaturen der gegenwärtigen Welt, und die Menschen haben dort einen Weg gefunden, dem zu entgehen, indem sie den flexibelsten Sohn auf die lebensgefährliche Reise in bessere Gegenden der Welt entsenden, damit er von dort aus die Familie mit ernähren kann. Diktator Isayas Afewerki profitiert von dieser Massenflucht durch eine erzwungene Steuer. Sein System basiert, wie alle Diktaturen, auf einem projizierten Feind: dem Nachbarland Äthiopien, wer das nicht glaubt, soll Angst vor den USA haben. Das Bruttosozialprodukt von Eritrea ist halb so groß wie das der Uckermark, zweihundert Millionen Dollar kommen jährlich von der EU zur Verbessrung der Stromversorgung als Bekämpfung der Fluchtursachen.

Aber auch von seiner Herkunft ist der gute, will sagen ehrliche Mensch, ein Abkömmling von Flüchtlingen. Nur einige Völker am Amazonas und auf Papua-Neuguinea leben in fast vollständiger Isolation, es gibt einige winzige religiöse Enklaven. Aber der übergroße Rest der Menschheit, nämlich 99,99% leben in offenen Gesellschaften. Alle Versuche, Mauern zu errichten, sind gescheitert. Alle Versuche, die Kommunikation, sei es physische und schon gar geistige, zu unterbinden, sind kläglicher als kläglich gescheitert. Auch das Spitzelsystem des Isayas Afewerki wird scheitern. Der Flüchtling schafft sich ab, indem er heimisch wird, sich integriert. Die Kleinstädte würden davon am meisten profitieren.

MENSCHEN KANN MAN NICHT WÄHLEN

Nr. 168

Dass man sich seine Eltern nicht aussuchen kann, dürfte allen bekannt sein. Man ist hineingeworfen in ein Elternhaus, und daraus sind ganz sicher die Begriffe von Schicksal, Vorbestimmtheit, aber auch Geborgenheit und behüteten Wege entstanden. Trotzdem ist es nicht sinnvoll, sich einen anderen Vater, weil er im Familienverband oft die fragile Rolle hat, oder eine andere Mutter zu wünschen, weil dieser Wunsch der Selbstverneinung gleichkommt. Es ist so, als wollte man seine Eltern umbringen, bevor man selbst gezeugt wurde. Man muss sich selbst anzunehmen lernen.

Die Kinder wurden früher so lange geprügelt oder gedemütigt, bis sie so wurden oder so zu sein vorgaben, wie es die Eltern als Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft wollten. Sicher hat es immer schon Eltern gegeben, die sich dem Mainstream widersetzt hatten und bei ihren Kindern alle Fünfe gerade sein ließen. Das wird immer eine Minderheit gewesen sein, genauso wie die traumatisierende Erziehung durch die Schwarze Pädagogik Ausnahme blieb. Gewalt wird heute in der Erziehung mehrheitlich abgelehnt, und langsam dämmert uns, wie sehr wir von anderen Menschen lernen können. In Afrika gibt es das schöne Bonmot, dass man zur Erziehung eines Kindes immer ein ganzes Dorf braucht. Das will sagen, selbst die besten Eltern sind Versager, weil das wahre oder wirkliche Wesen eines Menschen nicht erkennbar ist. Das Wesentliche kann nur erahnt werden. Keinen Menschen, noch nicht einmal uns selbst, können wir genau kennen. Es bleibt immer ein Lernen, und auch deswegen ist lernen immer besser als regeln. Als bestes Instrument der Erkenntnis erweist sich die Liebe oder wenigstens die Empathie.

Daraus folgt, dass man sich seine Kinder auch nicht aussuchen kann. Sie suchen sich selbst ihren Weg. Aber auch das Suchen muss man erst einmal finden. Mit jedem Fund entfernen sich die Kinder von den Eltern, aber nur um sie dann ganz wiederzufinden. Bis auf wenige Ausnahmen ist es uns nicht gegeben, uns weit von unseren Ursprüngen zu entfernen. Wir bleiben immer der Apfel, wenn wir vom Apfelbaum stammen, selbst wenn wir ihn oder uns reformieren, deformieren, programmieren, revolutionieren, zur Mutation oder Konversion zwingen oder bringen.

Genauso evident ist die Zufälligkeit von Nachbarn, Kollegen, sogar Freunden und Geliebten, die mathematisch und von ihrem Ergebnis her gesehen mit der Vorbestimmtheit zusammenfällt: wir können sie uns nicht aussuchen. Erkenntnisse kann man drehen und wenden, um einige kommt man nicht herum, im Gegenteil, sie breiten sich über die Dinge aus, die nicht voraussehbar war: zunächst hielt man die Antipoden für Ungeheuer, dann entdeckte man durch den berühmten Apfel die Gravitation, schließlich die Massenanziehung und dann die Äquivalenz von Masse und Energie. Einstein ist viel berühmter als seine Lehre. Und so ist es auch mit der Erkenntnis über den Menschen: zunächst ging man von einer universellen, generalisierten aus, doch je tiefer wir eindrangen, umso mehr erkannten wir, das wir nicht erkennen können. Wir waren oder sind füreinander bestimmt, sagen zwei Liebende, und das heißt doch nichts anderes, als dass es gestimmt hat. Über die Ursache sagt das nichts. Auf die Verwandtschaft von Bestimmung und Stimmung hat schon Shakespeare hingewiesen, von dem auch die mathematischste aller Liebesdefinitionen und Weisheiten über den Menschen stammt, die sicher nicht zufällig in seiner größten und schönsten Liebestragödie steht: the more I give the more I have [Romeo and Juliet II2] .

Da das Skript nicht erkennbar ist, müssen wir uns mit den Narrativen behelfen. Und all die Narrative der ältesten und entferntesten, aber auch der nahen und nächsten  Kulturen sagen eigentlich nur zweierlei: geben ist besser als nehmen, tu einem anderen nur an, was du dir selbst antust. Das setzt die mögliche Anonymität des anderen voraus und es lässt Raum für Transzendenz, denn das andere kann auch gut ein höheres sein, der Lenker aller Dinge, wie es in der Barockdichtung und im Koran so schön heißt. Jedoch: ein Narrativ ist endlich, die Natur dagegen ist unendlich, auch die Natur des Menschen.

Wir müssen in der und mit der Natur leben, die wir vorfinden. Alle Rechthaberei führt uns nur ins Leere. Alle Menschenmäkelei – und auch dieses Wort ist ein barockes Zitat – ist sinnlose Menschenfeindschaft. Ein Menschenfeind ist immer auch ein Feind von sich selbst, ein Opfer also, kein fröhlicher Sucher. Das Leben besteht aus suchen. Allerdings sollten wir keine Antworten suchen, sondern nur Fragen. Allerdings sollten wir nicht die Welt infrage stellen oder unsere Mitmenschen, sondern uns selbst und unsern Weg. Mit den Navigationsgeräten, vom Kompass bis zum Tomtom, ist uns eine schöne Metapher für das Irregehn gegeben. Wir gehen notwendig in die Irre, aber das Lächeln eines Mitmenschen kann uns in unserer Sackgasse trösten. Wer mir ein Wort beibringt, dem diene ich tausend Jahre [Ali ibn Abi Talib]. Das ist ein dem Apfelbaum ganz ähnlicher Gedanke. Der Apfelbaum mag sogar von Unwissenden und Irrenden gefällt worden sein, aber längst hatte der Geschmack der Äpfel Mensch und Tier erfreut, hatte die Kerne die Botschaft des Apfelbaums in alle Welt getragen.

Immer wieder hört man. Der ist schlecht, jener böse, dieser versteht mich nicht, der ist unwissend und rachsüchtig. Immer wieder muss man dagegen andenken: ich will das Gute, warum tue ich es nicht, ich war böse, lass mich das nächste mal besser sein, lass mich so reden, dass man mich versteht, lass uns wissen verbreiten wie Apfelkerne, lass uns Rache auch nur als Ahnung ablehnen und ablehnen. All diese wunderschönen Metaphern oder Wahrheiten – wer weiß es? – von der engen Pforte und dem schmalen Weg, von dem Pfad, der schmal wie ein Haar und scharf wie ein Messer ist, aber allein zum Guten führt, alle anderen fallen siebzig Jahre tief, lasst sie uns endlich beherzigen und glauben. Der Glaube an Gott ist immer auch der Glaube an Menschen. Der Glaube an Menschen ist immer auch der Glaube an Gott. Das ist der Kern.

SPINNEN ODER FÜRCHTEN

Nr. 167

Variation auf Sonett XVI von William Shakespeare

Die Angst vor dem Verändern ist mit der vor Menschen fast identisch. Menschen sind Veränderung. Sobald man sich auf einen neuen Menschen einlässt, muss man seinen Weg ändern. Wenn man seinen Weg partout nicht ändern will oder kann, muss man ganz allein bleiben, was nicht geht, autoritär werden, was nicht durchhaltbar ist, oder sich in eine Hierarchie einordnen, und das ist widernatürlich. Der Kompromiss ist vielleicht die kritische Distanziertheit, etwa so: die Menschen sind schlecht, noch nicht reif, unentwickelt, partiell böse, aber ich, wir meine Familie, mein Volk, meine Religion, wir sind immer richtig. Man kann nur leben, wenn man sich für richtig hält. Aber wenn man lebt und sieht, dann sieht man auch, dass man tastet, wo man gehen sollte, dass man nach dem Stock sucht, wo man den Weg finden könnte. Wir sind nicht richtig. Wir brauchen die Gemeinschaft. Wir brauchen den Kompromiss und die Veränderung.

Wir wollen uns vorstellen, dass das Leben eines Menschen wie sein Haus ist, das er sich nicht selbst gebaut, aber im Laufe eines langen Lebens seinen Bedürfnissen und Gewohnheiten, seinen Ängsten und seinem Mut angepasst hat. Wir brauchen gleichzeitig die Geborgenheit und die Tür. Wir brauchen das Fenster ebenso wie den Ofen. Von unserem Hausgast, der Spinne, haben wir nicht nur die Fähigkeit zum Alleinsein, sondern auch zur Vernetzung. Die Spinnen sind uns, obwohl wir für die Angst vor ihnen sogar ein eigenes Wort haben, Arachnophobie, so nah, dass wir für unser Veränderungsdenken ihren Plural zum Verb gemacht haben: wir spinnen. Da war allerdings der Umweg über eine zweite Metapher: das Spinnen am Spinnrad, das wir den Spinnen nachgeahmt haben. Am Spinnrad mögen mehr Geschichten erzählt worden sein als Weltveränderungsfantasien, aber Geschichten, obzwar sie ein Spiegel der Welt sind, sind doch auch ihr Script. Wir gehen in die Welt mit einem Repertoire von Geschichten für alle Situationen. Entweder haben wir das, was heute unsere Geschichte ist, selbst erlebt, oder schon mit auf den Weg bekommen. Mit auf den Weg bekommen haben wir es durch unsere Eltern und deren Maximen, die aus der Religion oder aus der Region stammen können, oder aus dem größten Speicher der Menschheit, den Geschichten der Geschichte. Auch der Speicher ist eine Baumetapher. Lernen ist Nachahmen, oft mit dem Umweg der Geschichten.

Aus diesen Geschichten könnten wir wissen, dass es immer Menschen geben muss und wird, die bleiben, und solche, die aufbrechen. Unser Geschichtengedächtnis ist aber selektiv. Wir hören immer die Geschichte, die wir hören wollen. Wollen wir aufbrechen, hören wir die Geschichte vom Aufbrechen. Wollen wir bleiben, so singt es in uns ‚Kein schöner Land‘ oder ‚Das Boot ist voll‘ oder andere Nationalhymnen. Dagegen gibt es in jeder Familie einen Urgroßvater, der aufbrach und verschwand oder der ein neues Leben fand. Wir unterschätzen, wieviele Menschen in der Zeit der Sesshaftigkeit aufbrachen, nach Russland, nach Rumänien, ins Banat, nach Amerika, um es nur von hier aus zu betrachten. Der ewige Streit um Nomaden und Sesshafte ist eben tatsächlich ein ewiger Streit, der nie entschieden wird. Leider scheint uns mit dem Glauben an die Richtigkeit unseres Weges (oder Stockes) auch die Verächtlichkeit der anderen Wege eingeboren zu sein. Toleranz muss man genauso lernen wie Einsamkeit oder Gemeinsamkeit oder Spinnen. Ohne Kultur könnten wir noch nicht einmal auf zwei Beinen gehen. Verächtlichkeit lernen wir auf dem gleichen Weg wie das Aufrechtgehen: durch Nachahmung. Es gibt demzufolge Verhaltensweisen, die über Jahrtausende gleich bleiben, obwohl sie weder gut noch nützlich sind. Wir übernehmen sie nur deshalb, weil sie vorhanden sind und sich alles andere, was vorhanden ist, mehr oder weniger bewährt hat. Wahrscheinlich nur so ist das Festhalten an nationalen Gewohnheiten und Rechthabereien zu verstehen, obwohl die Welt ihre Globalisierung so offensichtlich über Frühstücksgewohnheiten hinaus ausdehnt.

Auch das Scheitern wird gespeichert. Vielleicht sind die wirklichen und die wirklich neuen Entscheidungen immer aus dem Dilemma (bei Kant: Zwietracht) geboren. Am krassesten wird uns das deutlich, wenn wir ein innovator’s dilemma miterleben. Ein Mensch hat eine vielleicht sogar wesentliche Neuerung in sein und das Leben seiner Mitmenschen implantiert. Aber sein Stolz, seine Eitelkeit, seine Vergesslichkeit, seine Trägheit, seine Perspektive, die notwendig verzerrt ist, sie alle hindern ihn zu erkennen, dass auch seine Innovation veraltet und er mit ihr. Zum Schluss sitzt er – wie alle – in seinem Rollstuhl und murmelt etwas von ‚heutzutage‘ und ‚bloody tyrant time‘.

Ein Haus zu bewohnen erfordert genau so viel Mut wie ein Boot zu besteigen. Die Zeit überwogt uns genau so stark wie das Meer. Mehr Menschen sterben in ihren Häusern als durch ihre Boote. Trotzdem hören wir lieber eine Odyssee als die Geschichte vom Spinnrad. Trotzdem haben wir vor dem mehr Angst, der mit dem Boot zu uns kommt, als vor dem, der still vor seinem verfallenden Haus sitzt und Schreckliches ausbrütet: Langeweile und Xenophobie. Vor dem Verfall kann man sich nur retten, indem man sich nicht vor ihm fürchtet. Unser Haus verfällt genauso wie unser Boot. Alle Reparaturen führen in den Untergang.

Von unseren Häusern müssen wir lernen: zu verfallen und gleichzeitig erhaltenswert zu sein. Von unseren Spinnen können wir lernen in einer eher feindlichen Welt auszuharren, ungeheuer komplexe Fähigkeiten haben und in einem Augenblick anwenden, aber lange Zeiten den Durst nach Taten aushalten wie den Durst nach Wasser. Verfall ist notwendigerweise Entmutigung, also müssen wir uns immer wieder ermutigen. Für die nächsten tausend Jahre schlage ich das Wort Arachnotharros vor, Spinnenmut. Das kann und sollte sowohl unser Mut sein, mit der Spinne zu leben als auch der Mut, den die  Spinnen haben. Es erfordert ebensoviel Mut, seine Gedanken fortzuspinnen, überhaupt erst einmal eigene Gedanken zu haben. Aber es hilft auch nicht, die Gedanken der anderen zu ignorieren. Der Kompromiss wiederum schließt das Charisma nicht aus. Ein wahrer Führer fühlt seine Gemeinschaft. Auch er lernt nur durch Mimesis, durch Nachahmen. Der Schauspieler ahmt uns nach, aber wir ahmen den Schauspieler nach. Nur wenn du gibst, hast du auch. Es gibt keine anderen Menschen. Die Menschen – das bist du und das bin ich. Mein Haus ist offen für alle, die offen für mein Haus sind.