Ungleich verteilt sind des Lebens Güter
unter der Menschen flüchtgem Geschlecht.
SCHILLER, Die Braut von Messina
Nr. 169
Einerseits ist der Streit zwischen Nomaden und Sesshaften eine Zeitenwende, die neolithische Revolution, die vor allem in jenem Gebiet zuerst stattfand, das wir als Fruchtbarer Halbmond oder Zweistromland bezeichnen, und aus dem heute ein Großteil der Flüchtlinge kommt. Andererseits tobt ebendieser Streit in jedem von uns. Wir sehnen uns nach einem Haus wie nach der Ferne. Ist man einigermaßen wohlhabend, so kann man einen guten Kompromiss finden, indem man sowohl ein Haus besitzt als auch dreimal im Jahr in den Urlaub fährt oder sich für 100.000 € ein Wohnmobil kauft. Merkwürdig bleibt nur, dass die großen Hotelanlagen an den Küsten Europas und Nordafrikas dem Banlieue so ähnlich sehen. Die Parallelgesellschaft entsteht nicht nur durch andere Sprachen. Sieht man aber auf die Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen, so kann man mehr Globalisiertes als Trennendes wahrnehmen. Was uns alle eint, ist das Smartphone. Vielleicht richtet sich die Wut der ärmeren Bewohner Europas gar nicht gegen den äußeren Besitz, sondern gegen diese Gleichheit. Es ist ein Neid auf die Gleichheit entstanden, wo früher Klassenhass und Rassismus waren. Google wird schneller einen einfachen Universalübersetzer für jedes Smartphone auf der ganzen Welt entwickeln und verbreiten, als wir das seit langem als falsch und überflüssig erkannte Wort ‚Rasse‘ aus dem Grundgesetz oder den bundespräsidialen Trauererlassen entfernen.

Flüchtlinge in Prenzlau
Als die französischen Glaubensflüchtlinge in die Uckermark, ins Oderbruch und ins Havelland kamen, schienen ihnen die Differenzen groß und unüberwindlich. Hundert Jahre hielten sie an ihrer sprachlichen und religiösen Separation fest. Heute gibt es noch ein paar Grabsteine und deutsch ausgesprochene Nachnamen. Der Gewinn, den die ängstlich am Zaun stehenden Ureinwohner hatten, war beträchtlich. Einen Behälter zum Tragen von Geld nennen wir immer noch Portemonnaie oder Portmonee, obwohl kaum noch jemand weiß, wie es geschrieben wird. Jedoch gerät langsam in Vergessenheit, wie Phantasie geschrieben wird: Fantasie oder Fantasy? Die Angst vor der Überfremdung der Sprache und der Sitte ist schon immer groß gewesen. Der Fremdling wird zunächst gemieden wie der Köper den Virus oder die Bakterie meidet. Jedoch kam die Rettung nicht aus der Vermeidung, sondern aus dem Schimmelpilz.
Die Frage wird noch sein, wer der Sprache mehr schadet, der Bürokrat, der Wörter nach Definitionen bildet, oder der Flüchtling oder Fremdling, der ein fragiles Verhältnis zur Grammatik und einen Wortschatz wie ein Bildzeitungsleser hat. Fast ist es gelungen, das schöne Wort Lehrling durch die bürokratische Fügung AZUBI, im Westen vorne, im Osten in der Mitte, von den Migranten hinten betont, zu verdrängen. Aus Eltern wurden Elternteile, aus Einwanderern Migranten und aus dem Arbeitsamt das Jobcenter.
Die ehemaligen Gastarbeiter und ihre Kinder und Enkel haben den Genitiv schon gar nicht mehr kennengelernt. Sie können an seinem Verschwinden nicht schuld sein. Als sie in die deutsche Sprache eintraten, war diese gerade mit der Zusammenlegung des Dativs mit dem Akkusativ und der Abschaffung von Flexionsendungen beschäftigt. Konjunktiv und Präteritum sind inzwischen Möglichkeitsformen der Vergangenheit, besonders im Süden (‚Oberdeutscher Präteritumsschwund‘).
Daraus folgt: die Sprache verändert sich, der Mensch verändert sich, die Welt verändert sich. Man kann versuchen zu bestehen oder zu widerstehen, gleichviel, alles ändert sich, und das ist das einzige Kontinuum. Individuen bleiben sich gleich – aber nur von innen gesehen. Von außen sehen wir die anderen, und sie ändern sich so stark, dass wir nicht in der Lage sind, uns ein Bild von ihnen zu machen. Da wir mit ihnen, den anderen, in engen Beziehungen stehen, ändern auch wir uns, indem wir uns ihnen anpassen oder ihnen widerstehen. Von Brecht gibt es die schöne kleine Geschichte, dass ein Sklave gefragt wird, ob er seinem Herrn dienen will. Er antwortet nach sieben Jahren, nachdem der Herr gestorben war, mit einem leisen Nein. So sind wir. Aber wir wollen das Wort Flüchtling und den Flüchtling abschaffen. Dabei übersehen wir, dass er sich selber abschafft.
In ein Gebirgsdorf, in dem alle Familien den gleichen Nachnamen haben, zieht ein Fremdling. Schon durch seinen Namen, aber auch durch seine Lebensweise bleibt er der Fremdling, der Zugezogene, bis ein neuer Fremdling kommt und fragt: wie lange wohnst du schon hier? Der Fremdling schafft sich selber ab, indem er sich anpasst oder die Menschen um ihn herum verändert. Eines Tages werden seine Enkel Bürgermeister. Amerika hat zweihundert Jahre gebraucht, bis es einen schwarzen Präsidenten ertragen konnte und benötigte.
Der Lehrling schafft sich selber ab, indem er lernt und Geselle oder Meister wird. Allerdings wächst das Wissen und wachsen die Fertigkeiten ebenso, und deshalb heißt ein lateinisches Sprichwort bonus vir semper tiro, ein guter Mensch bleibt immer Lehrling. Ein guter Mensch bleibt aber immer auch Flüchtling. Potentiell muss er sozusagen auf dem Sprung bleiben, falls die Verhältnisse in seinem Land ihm weder veränderbar noch erträglich erscheinen. Er ist kein Feigling, wenn er sich der Tyrannei durch Flucht entzieht. In Eritrea herrscht eine der absurdesten Diktaturen der gegenwärtigen Welt, und die Menschen haben dort einen Weg gefunden, dem zu entgehen, indem sie den flexibelsten Sohn auf die lebensgefährliche Reise in bessere Gegenden der Welt entsenden, damit er von dort aus die Familie mit ernähren kann. Diktator Isayas Afewerki profitiert von dieser Massenflucht durch eine erzwungene Steuer. Sein System basiert, wie alle Diktaturen, auf einem projizierten Feind: dem Nachbarland Äthiopien, wer das nicht glaubt, soll Angst vor den USA haben. Das Bruttosozialprodukt von Eritrea ist halb so groß wie das der Uckermark, zweihundert Millionen Dollar kommen jährlich von der EU zur Verbessrung der Stromversorgung als Bekämpfung der Fluchtursachen.
Aber auch von seiner Herkunft ist der gute, will sagen ehrliche Mensch, ein Abkömmling von Flüchtlingen. Nur einige Völker am Amazonas und auf Papua-Neuguinea leben in fast vollständiger Isolation, es gibt einige winzige religiöse Enklaven. Aber der übergroße Rest der Menschheit, nämlich 99,99% leben in offenen Gesellschaften. Alle Versuche, Mauern zu errichten, sind gescheitert. Alle Versuche, die Kommunikation, sei es physische und schon gar geistige, zu unterbinden, sind kläglicher als kläglich gescheitert. Auch das Spitzelsystem des Isayas Afewerki wird scheitern. Der Flüchtling schafft sich ab, indem er heimisch wird, sich integriert. Die Kleinstädte würden davon am meisten profitieren.
Danke für die Übermittlung, schöne Tage und ein sinnerfülltes neues Jahr mit Deiner Familie wünscht Dir Klaus
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