DIE WÜRDE EINES GEIGENBOGENS

In der vierten Klasse, ich war also etwa zehn Jahre alt, hatte ich das erste Mal in meinem Leben Musikunterricht in der Schule. Bis dahin hatten das Singen die Deutschlehrer und Mathematiklehrerinnen mit übernommen. Während Handarbeit, also das Hantieren mit der Strickliesel, bei uns nicht so beliebt war, waren wir doch offen, vielleicht sogar erfreut über das neue Fach, denn eine Stunde Musik mehr hieß eine Stunde Handarbeit weniger. Der Lehrer war ein alter Mann, der mit seiner Familie aus dem Sudetenland in unsere kleine Stadt geflüchtet war. Er hatte nicht nur eine ebenfalls steinalte Frau, sondern auch zwei oder drei steinalte Schwestern, vielleicht sogar noch einen Schwager, auf jeden Fall einen halbwüchsigen Sohn. Alle waren sie Amateurmusiker auf einem so hohen Niveau, dass sie als Streichquartett, als Kern des Kammerorchesters der Kreismusikschule und bei allen Festivitäten auftraten. In unserer kleinen Randberliner Stadt fiel aber ihr sudetendeutscher Dialekt genauso auf wie der schlesische Zungenschlag der Besitzer des Sportgeschäfts, bei denen es immer Klöße mit Pflaumen gab, was ich widerlich fand.   

Das ganze Schuljahr hat sich mir in der Erinnerung als das Einüben eines schrecklich dummen Liedes verdichtet und verfestigt. Das Lied hieß Ein Frosch saß in dem Schilfrohr drin und hatte als Refrain und Zeilenfüller die Nachahmung des Frosches: quak quak breke reke kex. Das Lied war von Elsbeth Friemert, einer Hortleiterin, die einen Bestseller geschrieben hatte, das Pappbüchlein Wer kennt meine Tiere, das es heute noch bei Beltz gibt. Ihr Sohn war ein bekannter Psychiatrieprofessor. Das Lied fanden wir albern und genierten uns bei den Froschlauten. Andererseits sangen wir vielleicht schlecht. Der Musiklehrer spielte uns die Melodie immer wieder auf seiner Geige vor, singen mochte oder konnte auch er nicht. Und dann kam das wirklich neue am Musikunterricht, was ihn von all den andern Fächern unterschied: der Lehrer schlug mit seinem Geigenbogen auf die Hände der Kinder, auch auf meine, die schlecht sangen, die, wie wir damals sagten, Brummer waren. Quak, quak – zack, zack zuckte der Geigenbogen.

Vielleicht war er ein alter Nazi, von denen es im Sudetenland viele gegeben hatte. Die Würde des Schülers war ihm genauso fremd wie die seiner tschechischen Nachbarn. Wahrscheinlicher aber ist, dass er gar kein Lehrer war, sondern versuchte, seine Familie zu ernähren und stieß dabei auf ungeahnte Schwierigkeiten. Ob Nazi oder nicht, von allen Erwachsenen wurde der verlorene Krieg als große Demütigung und als Zeitenwende empfunden. Kinder oder überhaupt Schwächere zu schlagen blieb für diese Erwachsenen eine Selbstverständlichkeit. Friedrich März, der gegenwärtige Vorsitzende der CDU, der ewige Oppositionsführer, hat noch 1997 gegen das Verbot von Gewalt in der Ehe gestimmt.

Der alte Lehrer und vielleicht gute Amateurmusiker hat aber nicht realisiert, dass er mit seinem hilflosen Tun auch die Würde seines Geigenbogens missachtete. Zwar steht der Geigenbogen, als Ergebnis kunsthandwerklicher feinsinniger Tätigkeit, hinter der Geige zurück. Aber allein der Diskurs der letzten fünfzig Jahre über historische Aufführungspraxis hat uns seine enorme Bedeutung gezeigt. Der Klang der Barockgeige wird nicht nur durch die besonderen Saiten erzeugt, sondern auch durch den in sich flexiblen Bogen, dessen Spannung durch den Daumen während des Spiels verändert wird.

Ebenso ist ein Klavier eben kein Möbelstück, wie viele bürgerliche Familien im neunzehnten Jahrhundert glauben mochten, deren Wohnzimmer ohne Klavier nicht denkbar war. Ein Klavier akkumuliert all die Musik, all die Emotionen und Stimmungen – im doppelten Sinn -, die es in seinem oft langen Leben erfahren hat. Wenn heute eine Kirchengemeinde ein Harmonium oder auch nur den schrägsitzigen Hocker dazu achtlos auf die Straße wirft, so zeigt sie, dass sie für ihre eigene Geschichte und Kultur kein Verständnis hat. Wie viel mehr hat ein Kirchengebäude über – in unserer Gegend – meist achthundert Jahre erlebt und aufgesogen. Wer also die Gegenstände seiner Umgebung nicht achtet, wie will der sich selbst achten oder von anderen geachtet werden?

Noch immer geistern die Begriffe von Ehre und Stolz, Zugehörigkeit oder Identität in den Köpfen vieler Menschen herum. Dabei hat jeder Mensch eine Würde. Aber sollten nicht Gegenstände, die vielleicht keinen Preis mehr erzielen können, nicht selbst auch eine durch die lange Geschichte oder durch die Liebe ihrer Besitzer erworbene Würde haben können?

Vor etwas mehr als 150 Jahren starb in Oranienburg, meiner nächsten Schulstadt, ein kauziger, wohl auch etwas verwahrloster, gleichwohl genialer Chemieprofessor, dem alle seine Entdeckungen nicht zum Ruhm und nicht zum finanziellen Erfolg verhalfen. Am Ende seines Lebens fand sich der Entdecker des Coffeins, des Anilins, des Atropins, beinahe möchte man schreiben: und so weiter, vereinsamt und verarmt im teils abgebrannten Schloss der Hohenzollern und Oranien und begab sich auf die letzte und ewige Reise. Aber außer den erwähnten Substanzen, die ihm schon als Studenten den Spitznamen Doctor Gift und zwei wirkliche Doktortitel (Medizin und Philosophie) nebst Habilitation eingetragen hatten, hatte er für die Kunst etwas entdeckt, das weit in seine Zukunft und unsere Gegenwart hineinreichte. Er fand, möglicherweise durch das Chaos seines Labors bedingt, dass miteinander reagierende Substanzen auf Löschpapier immer die gleichen kristallinen Formen und Farben hervorbringen. Dieses Phänomen nannte er den Bildungstrieb der Stoffe und veröffentlichte darüber ein höchst wunderliches Buch, das nämlich in seinem Abbildungsteil nicht gedruckt, sondern original war. Die kommunizierenden Stoffe erzeugen immer die gleichen, nicht aber identischen Formen und Farbmischungen. Zeitgleich fand sein Professorenkollege Hegel den Weltgeist,  der Salinenassessor und Amtshauptmann Friedrich von Hardenberg (NOVALIS) die Notwendigkeit der Poetisierung der ganzen Welt. Dieses ganze Jahrhundert gab der Welt nicht nur einen neuen, sondern überhaupt erst einen Sinn. Gegen diese Seite der Säkularisierung wird während eines bedrohlichen Sommergewitters im Rom des Jahres 1870 ein perfides Gegengift gefunden: Pius IX. verkündet nicht nur die eigene Unfehlbarkeit, sondern befiehlt gleichzeitig: wer es nicht glaubt, wird ausgeschlossen. Das ist die chemische Formel des Autokratismus. Es ist leider nicht der letzte Versuch, Autorität durch Gehorsam zu erzwingen. Aber heute wissen wir, dass sich all die noch so absurden Versuche der Autokraten, Macht zu verewigen, letztlich gegen sie selbst richten.

Zwar verweigern sich viele desinformierte Menschen lange und verzweifelt der leicht erkennbaren Information, doch von den Autokraten von Pius bis Putin kommt dann doch nur: quak, quak, breke reke kex und dagegen hat selbst ein schlichter Geigenbogen mehr Würde.

HELFEN WIRD, WER HILFE BRAUCHT

Die Krise zwingt zum Nachdenken. Im Moment erscheint uns das Auf und Ab von Krise und Wohlfahrt gestört: seit der Finanzkrise, gefolgt von der Flüchtlingskrise, der Pandemie und dem Ukrainekrieg, befinden wir uns im fortwährenden Krisenmodus, so dass wir das eigentliche Desaster im Nebel der Angst gar nicht mehr glauben wollen.  Daraus folgt dreierlei:

1. Es wird bald wieder aufwärts gehen.

2. Wir haben uns zu früh gefreut.

3. Wir müssen tiefer nachdenken.

Alle apokalyptischen Szenarien, und es gibt deren immer viele, sind bisher nicht eingetreten. Am lächerlichsten und meistzitierten waren wohl die Weltuntergangsprognosen der Zeugen Jehovas für 1914, 1925 oder 1975. Deren Gründer Charles Taze Russell sah wohl den ersten Weltkrieg, die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, vorher, aber nicht dessen Ergebnisse: Fünf selbst ernannte Weltimperien stürzten in sich zusammen. Auch der zweite Weltkrieg und der auf ihn folgende Kalte Krieg mündeten in Demokratie und Wohlstand. Daraus folgt nicht, – teleologisch -, dass Katastrophen die notwendige Vorbedingung für Paradiese sind. Es gibt nicht nur keine folgenlosen Paradiese, sondern auch kein Kalkül. Die wirklich großen Erzählungen wissen das und kommen ohne Mathematik aus, was einzelne Interpreten nie hinderte, Berechnungen aus diesen Erzählungen abzuleiten. Vielmehr ist es wohl so, dass die Geschichte nicht endet, weder im guten noch im bösen. Zwar ist alles endlich, aber eben nicht absehbar. So wie tiefe Krisen zum vorausgesagten Weltuntergang verleiten, so träumen wir in Wohlfahrtszeiten vom ewigen Paradies. Selbst der große Kant setzt seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ voran, dass dies nur in dem Sinne des holländischen Gastwirts ironisch gemeint sein kann, der damit ein Bild eines Friedhofs beschriftete. Weiter zitiert Kant Antisthenes, der schon wusste, dass Kriege und selbst gemachte Katastrophen mehr böse Menschen hinzufügen als sie wegnehmen.  

Sollte Putin tatsächlich das Böse planen, mit der Verhinderung des Weizenexports eine Hungerkrise in ohnehin schon armen Ländern heraufbeschwören und damit den Westen in eine noch tiefere Krise stoßen wollen, so kann man hieran sehen, wie verzweifelt falsch jedes Kalkül ist. Allein Deutschland hat 2015 eine Million, 2022 850.000 Flüchtlinge, diesmal aus der Ukraine, aufgenommen, nicht nur ohne Schaden zu nehmen: es war und ist fast nicht spürbar. Sieht man heute glückliche Familien aus Syrien und  Eritrea in Güstrow oder Gießen, so erinnert man sich an das Jahr 2015 mit seiner frohen und richtigen Botschaft: Wir schaffen das, whatever it takes. Andererseits führt eine der Quellen unseres Reichtums, die Globalisierung, Probleme mit sich, die wir früher – in der Euphorie des Aufschwungs – gerne übersehen haben, nämlich das Billigen des Billigen.

Alle Kategorisierungen und Klassifizierungen von Menschen, ja alle Definitionen und Identitäten sind falsch, weil sie nur richtig sind, wenn sie einen nicht anhaltbaren Prozess anhalten. Sie sind bestenfalls Denkpausen. Aus der  Hautfarbe lässt sich allenfalls die Vitamin-D-Produktion ablesen, aus der Klasse oder Schicht der Traum vom Wohlstand für alle, und selbst das Geschlecht ist, über seine biologische Funktion hinaus, ein soziologisches Konstrukt. Eine Dragqueen in Pasewalk wirkt wie aus einer anderen Welt und ist doch dort gebürtig. Vielmehr scheint es Menschen und auch Gruppen zu geben, die der Hilfe bedürfen und solche, die helfen können. Sieht man aber genauer hin, so wird man leicht feststellen können: wer der Hilfe bedurfte, ist bereiter, sie auch zu geben. Noch präziser beobachtet, braucht jeder Mensch und jede Gruppe Hilfe und kann sie, erstarkt und der Krise entkommen, geben.

Wenn also die Maxime des menschlichen Handelns nicht mehr eine fabulöse, paradiesisch-sozialdemokratische und einklagbare Gerechtigkeit wäre, sondern – stupid – GEBEN*, dann wäre alles gewonnen und nichts mehr verloren. Man kann nichts falsch machen, wenn man bedingungslos bereit ist zu geben. Schnell merkt man dann, wie unwichtig materielle Güter und wie wichtig – als Beispiele – Lächeln, Strohhalme und Tropfen auf die heißen Steine sind. Geben, aber nicht aufgeben, lächeln, aber nicht schweigen, beharren, aber sich nicht im Recht glauben – das ist schwer, aber so ist das Leben.

Wider alle heute übliche Korrektheit scheint mir in Goethes Wahlverwandtschaften schon ein sehr ähnlicher Vorschlag zu stehen, der aber heute von Lobbygruppen verschrien und beklagt würde:

‚Man erziehe die Knaben zu Dienern und die Mädchen zur Müttern…‘**

Das Wort ‚dienen‘ ist durch die Klassentheorie, das Wort ‚Mütter‘ durch das Patriarchat beschädigt worden. Dennoch zitieren wir gern den großen Preußenkönig, der allen Beamten und sich selbst empfahl, sich als Diener zu sehen. Wir glauben, einer Sache zu dienen, schämen uns aber, einem Menschen zu dienen. Wir glauben an den Mutterinstinkt, sehen aber eine Frau degradiert oder nicht emanzipiert, die ihre Mutterschaft betont. Die Menschheit wird sich durch geben emanzipieren, sich durch dienen befreien und sich durch spielen verewigen.

Vor einigen Tagen wurde ich gebeten, die ukrainischen Grundschulkinder, die mit ihren Müttern in unserer kleinen Stadt Zuflucht gefunden haben, zu beschäftigen, denn ein Großteil der Schüler begab sich auf eine lange vor dem Beginn des Krieges geplante Exkursion. Mir schien es ungerecht, so als würden die ukrainischen Kinder ausgeschlossen, denn die Exkursion ließ sich relativ leicht nachjustieren. Aber die Schulleiterin bestand auf der einmal gefundenen Lösung. Und siehe da: die Kinder genossen es, wieder einmal – wie schon in der Vorbereitungswoche – unter sich zu sein, ohne den unerbittlichen Zwang irgendetwas oder gar alles verstehen zu müssen. Vielleicht fällt es Kindern wirklich leichter, sich in einer neuen Umgebung zurechtzufinden. Aber wir alle wissen, wie sehr Kinder auch einen strukturierten Alltag lieben, in dem sie ohne Uhr und Handy zur bestimmten Stunde essen oder lernen oder spielen können. Die Kinder waren an diesem Tag außerordentlich fröhlich, geradezu befreit, vertraulich und vertrauend. Wir fanden einen Geheimweg, begegneten einer spielverrückten Ziege und kreischenden Hühnern, immer schön die deutschen Wörter übend, die Gans, die Gänse, die Ente, die Enten, das Pferd, die Pferde, entlang der Stadtmauer –  городская стена. Die langsam älter werdende Stadtbibliothekarin freute sich über die fröhliche Gruppe und zeigte bereitwillig ihr Schätze, Gruselgeschichten, Kinderbücher, und ihre schönen Bilder, die meist unsere kleine Stadt darstellen. Sie vergaß ganz, dass bis zum lesen in deutscher Sprache noch einige Zeit vergehen wird.

Auch im Dorfkonsum, in dem sich tatsächlich in dem Moment der pensionierte kommunistische Bischof mit der immer jünger und schöner werdenden Kunsthofbesitzerin traf, war der Aufruhr groß: kurz vor der Empörung fiel den neuen Besitzern die Lösung aller Probleme ein: mitfühlen, danken, geben. Die große Eispause wurde von der kleinen Stadt fast so beachtet wie in dem Film HIGH NOON. Der nächste Geheimpfad, am Sumpf – болото – und See vorbei, bot einen futuristischen Ausblick auf die Skulpturen von Volkmar Haase. Aber das rückwärtige Tor war verschlossen und auf dem Rückweg über die Straße war die Schönheit schon vergessen.

Die jüngste Anekdote bestätigt den wahrlich nicht neuen Gedanken.

*’the more I give the more I have – for both are infinite’ SHAKESPREARE, Romeo and Juliet, II,2

**GOETHE, Wahlverwandtschaften, II,7

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