KEIN HÜSUNG

KEIN HÜSUNG – KEIN VERSCHOLLENER GEDANKE

‚Kein Hüsung‘ (1857) von Fritz Reuter in der Nacherzählung (1960) von Ehm Welk

Der Parvenü-Baron verweigert dem alten Gutsarbeiter den Arzt, lässt aber für den Edelhengst, der mit Koliken liegt, per Eilboten den Tierarzt kommen. Dazu kommen idealisierte philosophische Dialoge von Gutsarbeitern, deren Unbildung und Rückständigkeit eigentlich sprichwörtlich war.  – So stellt man sich die schematische Sozialkritik in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor, aber Fritz Reuter gehörte nicht zum Vormärz und auch Ehm Welk war kein linker Scharfmacher. Beide hatten eher Biedermeier-Qualitäten, amüsante Anekdoten von Onkel Bräsig, von Durchläuchting sowie vom Nachtwächter und den Kindern des fiktiven Kummerow waren eher ihre Sache.

Indessen heißt das älteste Schulgebäude in Neubrandenburg, wo Fritz Reuter einst seine Bestimmung fand, heißen in Mecklenburg unzählige Straßen und heißt sogar eine Straße im Weltkulturerbe Hufeisensiedlung in Berlin Neukölln nach dem Buch, das früher in jedem norddeutschen Haushalt zu finden war: ‚Kein Hüsung‘, jetzt selbstverständlich ‚min…‘, ‚uns…‘ und so weiter Hüsung. Hüsung war das Niederlassungsrecht für nicht mehr leibeigene, aber doch noch sehr abhängige Gutsarbeiter in Mecklenburg und Pommern. Der Grundkonflikt und der Titel des Buches beschreiben die Verweigerung des grundsätzlichen Rechtes jedes Menschen auf eine Wohnstatt, Wohnung, Behausung, niederdeutsch Hüsung. Im Hochdeutschen gibt es jedoch einen feinen Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit, Obdachlosigkeit und Unbehaustheit. Wenn es dem anrührenden Liebespaar des Versepos gelungen wäre, nach Amerika oder in die Großstadt zu entkommen, wie es Johann mehrfach vorschlug, dann wäre es nicht mehr obdachlos, aber trotzdem unbehaust gewesen, nämlich ohne eine vorher absehbare und garantierte Zugehörigkeit. Und genau das ist es, worunter heutige Kommunitarier leiden oder vorgeben zu leiden: dass heutige Menschen nicht mehr vorhersehbar zu traditionellen Gruppen gehören und gehören wollen. Die Kommunitarier sind getriggert vom Gendern, von Veganern und dritten Geschlechtern, von Parteien, die es ihrer Meinung nach gar nicht geben dürfte. Es geht ihnen im Gegensatz zu den Liberalen darum, zu einer Gruppe zu gehören, eben kein Individuum zu sein, das auf Rechte Anspruch hat, die sich nur aus seinem Menschsein ergeben. Der Liberale ist der Meinung, dass Deutsch eine Sprache ist, der Kommunitarier dagegen hält Deutsch für einen Zustand, eine vererbbare Zugehörigkeit, Qualität, Kultur und sogar Leitkultur, die weit über die Sprache hinausgehen: DEUTSCHSEIN HEISST, EINE SACHE UM IHRER SELBST WILLEN TUN[1]. Aber Achtung: auch der krasseste Individualist gehört zu einer Gruppe, nämlich zu den krassen Individualisten. Und auch der krasseste Kommunitarier mit seinem schönen und stolzen Nationalbewusstsein fährt wenigstens nach Holland zur Tulpenpracht und isst Kiwi aus Neuseeland oder Kartoffeln aus Israel.

Darüber streitet die Gegenwart, aber erstaunlicherweise ist diese Gegenwart in dem längst vergessenen, ja fast verschollenen Büchlein vorgeformt. 

Nicht nur der herz- und geistlose Pfarrer, vor allem auch der Kirchenpatron und seine extrem bigotte Gattin treiben die Verweltlichung, die Säkularisierung voran. Jahrhunderte und Jahrtausende als Staatskirche haben die Kirche zu einem Appendix jeden Staates gemacht, zu einem Werkzeug des Bösen, wenn der Staat auch böse war. Das gilt für jede Religion, in dem Punkt sind sie sich einig. Merkwürdigerweise gibt es Kirchenleute, die ausgerechnet den atheistischen Staat für den Niedergang von Kirche und Religion verantwortlich machen wollen. Dagegen war der Impuls für die Entstehung der Religionen gerade Hunger und Repression. Wer also behauptet, der Atheismus sei stärker als der Theismus, der kreuzigt Yesus und Bonhoeffer und Martin Luther King noch einmal. Umgekehrt ist es wohl: erscheinen Unterdrückung, Hunger, Diskriminierung am größten, so sind Glaube und Wissen Navigatoren und Helfer. Im Dunkel hilft nur das Licht. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit[2]. Jedoch geht es in unserem Büchlein nicht um die Theorie, sondern um die Praxis der Menschlichkeit. Es zeigt sich, dass der alte Kutscher Daniel diesen Humanismus als Gen mitbekommen hat und weitergibt: Er hilft dem starken und stolzen Knecht Johann, der vorher das Kind der Müllerwitwe aus der brennenden Mühle errettete, als der im Zorn über die himmelschreiende Ungerechtigkeit den selbstsüchtigen Baron mit der Mistforke (!) ersticht. Der Kommentar des aufgeklärten Freiherrn von Maltzan hingegen lautet: ‚Sein Tod ist Ergebnis seiner Borniertheit.‘ Das Gleiche, können wir heute sagen, gilt auch für die Kirche und die Monarchie. Es gilt übrigens auch, und das sollte uns froh und optimistisch machen, für Diktaturen und Autokratien: sie gehen an ihrer eigenen Borniertheit zugrunde! Umgekehrt schleppt das Gute immer den Bonus seiner Güte mit sich herum, was ihm einen Vorteil, einen manchmal minimalen Vorsprung, eine oft nur winzige Mehrheit sichert. Deshalb wird die Welt auch dann immer ein bisschen besser, wenn es schlecht um sie bestellt zu sein scheint. Wenn die Welt immer schlechter würde, wenn der Mensch nur aus Neid, Missgunst, dem vermeintlichen Recht des Stärkeren bestünde, dann gäbe es inzwischen weder die Welt noch den Menschen. Fritz Reuters schöner Spruch ‚Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl.‘ heißt doch nicht, dass man sich nichts vornehmen soll, damit einem nichts fehlschlägt, sondern dass man, wenn man sich viel vornimmt, auch damit rechnen muss, dass nicht alles gelingt. Der Großteil der Fehlurteile und Fehler beruht nicht nur auf Theologie, wenn sie meint, Recht und Vorrechte zu haben, sondern auch auf Teleologie, die hinter den Ereignissen und Erscheinungen Zwecke vermutet, die sie letztendlich niemandem zuschreiben kann. Ein Artefakt hat einen Zweck, ein Fakt hat möglicherweise einen Sinn, den wir ihm zuordnen können. Am schwersten ist es vielleicht bei uns Menschen zu verstehen: ist der Lebenssinn uns mitgegeben als göttliches oder fatalistisches Etikett oder müssen wir ihn suchen und im besten Fall finden? Der berühmte Lebenssinn hat, soweit ich sehe, nur eine einzige Bedingung: das Leben desjenigen Menschen ist sinnvoll, das sich auf andere richtet.

Der alte Kutscher Daniel hilft auch der Mutter des Christkindes, Mariken, als sie aus ihrer Kate vertrieben wird und bei Schnee und Eis mit dem Baby in ein Vorwerk ziehen muss. Er zieht das Kind auf, nach dem Mariken stirbt oder in den Tod geht – die Umstände und die mögliche Intention sind hier kunstvoll verwoben. Und wie ein Symbol übergibt Daniel dann das Kind seinem Vater, der sich nach der 48er Revolution in seine alte Heimat zurückwagt, aber nicht, um da zu bleiben.

Beinahe noch deutlicher wird die Aktualität dieses unscheinbaren kleinen Büchleins beim zweiten von uns ausgewählten Thema, das man heute Migration nennt. Angeblich ist es dasjenige Thema, das die Gesellschaft heute am meisten spaltet. Inzwischen haben alle Parteien in den vorgeblichen Ruf des Volkes eingestimmt, dass die unkontrollierte Einwanderung gestoppt werden muss, die Populistinnen Weidel und Wagenknecht bleiben natürlich weit vorn. Aber warum sollte die Einwanderung gestoppt werden? Weder leiden wir an Geld- noch an Raummangel, im Gegenteil, wir suchen händeringend Fachkräfte. Diese kommen aber nicht, wie im Märchen die gebratenen Tauben, angeflogen. Man muss sie selbst ausbilden, und da hat Deutschland gute Karten, denn wir haben ein hervorragendes Ausbildungssystem, das sich allerdings zurzeit in derselben Krise befindet wie die Bahn, deren Schienennetz einst ebenfalls weltweit führend war. Wir sollten dringend überlegen, ob nicht unsere ständigen Abwehrdiskussionen Verdrängungen der teils bitteren tatsächlichen Krisen sind. Trotz aller Krisen und sinkenden Wachstumsraten sind wir soeben vom vierten auf den dritten Platz vorgerückt, was die Größe der Volkswirtschaft betrifft. Wir sind also nach den unterschiedlichen Giganten USA und China die dritten, der Grund ist allerdings – ich gebe es zu – das Abrutschen Japans vom dritten auf den vierten Platz. Weniger erfreulich ist, dass wir in der Ungerechtigkeitsquote gleichauf mit der fünftgrößten Volkswirtschaft liegen, nämlich Indien, das noch vor wenigen Jahren sprichwörtlich für seine Armut war. Die Schere zwischen arm und reich ist für meine Vorstellung ein nicht gelungenes Bild, weil es suggeriert, dass sich zwei gleich große Gruppen Menschen gegenüberstehen: die Reichen, die immer reicher werden, und die Armen, die immer ärmer werden. Gleich sieht man den Reichen aus der Nathanparabel[3] vor sich, der, obwohl er 99 Schafe besitzt, für seinen Gast das einzige Schaf seines armen Nachbarn schlachtet. Und da fällt uns, weil wir heute über Literatur reden, der ökonomisch dumme, rhetorisch wirksame Spruch des einst großen Bertolt Brecht ein: ‚Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an. / Da sagt der Arme bleich: / Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Aber wir ergänzen gerne: Doch der Reiche gibt zurück: Ich bin schuld? Das ist dein Glück! Tatsächlich wird die Gruppe der Superreichen, jenes sprichwörtliche eine Prozent der Bevölkerung, immer reicher[4]. Das ist die asymmetrische Schere. Unser Büchlein lamentiert nicht zum tausendsten Mal über die angeblich schädlichen und bösen Ankömmlinge, sondern zeigt in der Geschichte die Gründe für die Auswanderung: Hunger, Unterdrückung, religiöser Fanatismus der Staatskirche, Überbevölkerung durch effektivere Landwirtschaft und beginnende Industrialisierung. Zwischen 1848, genau da spielt unsere Story, und der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind mehr als sechs Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Es sind vermutlich genau dieselben sechs Millionen, die zu viel gewesen wären und die absolut erfolgreiche Industrialisierung belastet, wenn nicht gar verhindert hätten. Unser Weg auf den dritten Platz führte über die Migration! Subjektiv bleibt es natürlich falsch und böse, wenn die Adligen Mecklenburgs sagten: dann geht doch nach Amerika, wenn Honecker und Isaias Afewerki[5] sagten: wir weinen ihnen keine Träne nach und die Geldtransferleistungen der Flüchtlinge klammheimlich in die stets positive Bilanz einrechneten. Aber auch der liebevolle Knecht Johann mit seinem heiligen Zorn will nach Amerika, wo er Freiheit glaubt. Der nicht weniger liebevolle alte Kutscher Daniel dekliniert die Dialektik von Freiheit und Hüsung durch, wenn das auch sehr idealisiert wirkt, sollten wir doch überlegen, ob wir das schöne Wort ‚Hüsung‘ nicht ins Hochdeutsche migrieren können. Migrationen sind also Antworten auf Krisen, Umbrüche, Kriege, immer sind sie auch Aufbrüche, Herausforderungen. Die radikale Gruppe der Gegner der Ein- und Auswanderung – denn ein echter Nationalist kann auch nicht die Auswanderung befürworten – bleibt sich indessen immer gleich. Selbst der große Benjamin Franklin wetterte gegen diejenigen deutschen Einwanderer, die krampfhaft an ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten festhielten. Auch die französischen und wallonischen Refugiés in unserer Gegend wurden beargwöhnt und diffamiert, weil sie mehr als hundert Jahre lang nur französisch sprachen, eigene Schulen und Kirchen hatten und wirtschaftlich nicht schlecht dastanden. Die türkischen Einwanderer der Wirtschaftswunderjahre, also die dritte Generation, fangen jetzt an, in Rücksicht auf deutsche Ämter und Nachbarn, ihre Namen ohne diakritische Zeichen zu schreiben, zunächst aber bei der korrekten Aussprache zu bleiben. Henry Kissinger, ein früher Flüchtling – er war 15 Jahre alt -, blieb immer seinem Fußballverein SPVgg Fürth treu. Das beliebteste Gegenargument: das sind alles Ausnahmen, kontern wir damit, dass wir sagen: ja, die Migranten sind die Ausnahmen, ohne die es die Regel nicht gäbe.

Ehm Welk hat seine hochdeutsche Übertragung des Reuterschen Versepos sicher im Zusammenhang mit dem Drehbuch für den in Ost und West erfolgreichen DEFA-Film von 1954 gemacht. Im Film gibt es nur eine propagandistisch aufgesetzte Szene, am Schluss, als nämlich Johann aus der selbstgewählten Verbannung zurückkommt und seinen Sohn holen will. Man darf nicht übersehen, dass dieser Film zeitgleich mit dem propagandistischen Machwerk des Thälmann-Films in Babelsberg entstand. Der Anfang des Films wirkt pathetisch, aus heutiger Sicht übertrieben schauspielerisch mit viel zu alt wirkenden Schauspielern. Aber alle emotionalen Szenen sind auch heute noch frisch und anrührend. Besonders wird der schon im Buch herausragende Menschenfreund Daniel, der alte Kutscher, in einer Paraderolle von Willy A. Kleinau dargestellt. Kleinau zeigt hier Qualitäten, die zu dieser Zeit sonst nur Heinz Rühmann hatte, etwa im Hauptmann von Köpenick, der zur gleichen Zeit im Westen entstand. Es mag Zeitgeist und Zeitmode gewesen sein, Güte und Leid in dieser Weise verkoppelt darzustellen, aber es gehören dazu auch herausragende Schauspieler. Hanns Anselm Perten glänzt ebenfalls als Gutsbesitzer, der sich selbst richtet, aber tragischerweise den Knecht Johann mit hineinzieht. Dramatisch und realistisch, vom ganzen Dorf wahrgenommen, wird vorher gezeigt, wie Johann das Müllerkind aus den Flammen rettet. Das Verhältnis zwischen Mariken und Johann ist einerseits eine schöne Liebe, andererseits offenbart es aber, dass früher jeder Mann den Patriarchen spielen und jede Frau sich anlehnen musste. Der Spiegel schrieb damals: „Ehm Welk wies überzeugend nach, dass die Liebe immer noch das Brot der Armen ist und offerierte dann als volkserotisches Filmsujet die plattdeutsche Ballade ‚Kein Hüsung‘ von Fritz Reuter. Zusammen mit seiner auch schriftstellernden Ehefrau Agathe, geborene Lindner, machte Ehm Welk aus der Reuter-Dichtung einen saftigen Defa-Volltreffer.“[6]

Wenn also Karl Marx mit seinem zeitgleich zu unserer Geschichte erschienenen Manifest[7] irrte, indem er glauben machen wollte, dass man nur die ‚Expropriation der Expropriateure‘ installieren müsse und schon würde alles gut, wenn also Johann Hinrich Wichern mit seinem ebenfalls als Manifest[8] verstandenen Gedankenspiel irrte, dass Armut das Ergebnis schwindenden Glaubens sei, dann ist die Botschaft der schönen, traurigen und anrührenden Geschichte erstaunlich aktuell und wunderbar tiefgründig. Jedes neugeborene Kind sollte als Chance und Herausforderung, also als Christkind, verstanden, geachtet, geliebt und gefördert werden. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die nächsten zweitausend Jahre.  

Ich schenke dem Museum Angermünde eine Erstausgabe von Ehm Welks Nacherzählung ‚Kein Hüsung‘, VEB Historff Verlag Rostock, 1960, mit einem eingeklebten Originalbrief von Agathe Lindner-Welk. Anlässlich dieser Übergabe des ‚Objekts des Monats‘ am 06.04.2024 entstand dieser Text.  


[1] Richard Wagner

[2] Kant, Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784

[3] Bibel:  2. Samuel 12; Koran: Sure 38, 21-27

[4] Steffen Mau et al., Triggerpunkte, 2023, S.

[5] Diktator von Eritrea

[6] Der Spiegel, Nr. 21, 1953, S. 31

[7] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848

[8] Johann Hinrich Wichern, Thesen auf dem ersten evangelischen Kirchentag, 1848. Wichern verdanken wir aber wenigstens den Adventskranz und die Diakonie.

EHM UND ICH

Ehm-Welk-Literaturpreis des Landkreises Uckermark ging in diesem Jahr an mich [2010]

Ich weiß nicht mehr, was ich gedacht habe, als ich neun Jahre alt war und mit meiner Kinderheimgruppe am Haus Dammstraße 26 in Lübbenau vorbeischlurfte, an dem die Tafel angebracht war und ist, dass in diesem Haus der Dichter Ehm Welk gelebt hätte und dass er der Verfasser der ‚Heiden von Kummerow‘ gewesen wäre. Das war im Jahre 1957, ich bin 1948 geboren, er hat 1939 da gewohnt, so dass es mir – damals – wie gestern vorkam. Heute liegt eine ganze Epoche zwischen ihm und mir. Merkwürdig ist weiter, dass die Gedenktafel dort hing, obwohl der greise Dichter in Bad Doberan ja noch lebte, schrieb und das Ansehen, das er in der DDR genoss, genoss. Man kann an der Gedenktafel aber auch sehen, wie bekannt seine Bücher und seine Figuren zu seinen Lebzeiten waren. Nicht mit der DDR, wohl aber mit der Veränderung der Welt und ihrer medialen Spiegelung verschwand der Autor vom Bildschirm, mit Ausnahme der drei Städtchen Bad Doberan, wo er starb, Lübbenau, wo er schrieb, und Angermünde, wo er nicht geboren wurde.

Geboren wurde er in Biesenbrow, das heute zu Angermünde gehört. Allerdings war seine Familie aus dem Spreewald eingewandert. Die Ruhelosigkeit, die in diesem familiären Umzug sichtbar wird, hat er sein ganzes Leben beibehalten, sein längster Wohnsitz war sein letzter. Während in seinen Büchern ein geradezu altmodischer Heimatbegriff gepflegt wird, ist er selbst eigentlich eher heimatlos umhergewandert. Dabei wurde er nur einmal vertrieben, nämlich aus dem heutigen Dołuje, das damals Neuenkirchen hieß, keine zwanzig Kilometer von uns entfernt.

Wenn ich auch nicht mehr weiß, was ich als neunjähriger Knabe angesichts der verfrühten Gedenktafel gedacht habe, so habe ich sie doch nie vergessen. Und ich vermute heute, dass diese Gedenktafel für mich eine Mahntafel war, nämlich daran zu denken, dass man, wenn man ein Talent hat, auch damit wuchern soll.

Ich bin ihm also als Kind begegnet. Kurz war dann in der DDR sein Lebensbericht eines alten Mannes beliebt, die ‚Lebensuhr des Gottlieb Grambauer‘, aber mir sagte die dualistische Philosophie des Lassmann und Fassmann nie besonders zu. Interessant ist es allemal, fast ein ganzes Jahrhundert im Leben eines Menschen zu spiegeln, zumal es sich noch fragt, wer da wen spiegelt.

Nach der Wende kauften wir uns ein Haus in der Uckermark. Damit zog auch erstmals in mein Leben, das bis dahin unstet wie seines war, Ruhe ein. Und nachdem diese Ruhe eingezogen war, beschlossen wir, statt den Rasen zu mähen, ihn lieber von Schafen abfressen zu lassen. Die Schafe, die wir wollten, waren Skudden, eine ostpreußische, eigentlich schon ausgestorbene Rasse, die es damals nur in Biesenbrow gab und die wir dort auch abholten. Da fiel mir Ehm Welk wieder ein.

Merkwürdig ist es schon, dass innerhalb eines Menschenlebens ein Wert verfällt, ein Schriftsteller fast vergessen ist, obwohl er sogar durch das relativ neue Medium Film unterstützt war. Für die Umwertung aller Werte, die von Nietzsche gewünscht und befürchtet wurde, braucht es wohl ein doppeltes Menschenleben von 100 Jahren.

Vieles ist ja auch wert, dass es zugrunde geht, so lautet nicht nur ein anders berühmtes Zitat, sondern so ist es ja auch. Gerade die kohärente Dorfgemeinschaft mag heute als Idylle erscheinen, ist ja aber damals auch der Hort der Autorität und des Schreckens gewesen. Das Dorf ist zudem, darauf weist eine heute berühmte Dorfschriftstellerin, Herta Müller, hin, ein Ort fortwährenden Sterbens. In der Stadt kann der Tod verdrängt und vergessen werden, auf dem Land ist er allgegenwärtig. Der Tod betrifft hier nicht nur Käfer und Lämmer, sondern auch die Menschen. Auf dem Dorf im Banat, aber auch in dem kleinen Städtchen Lübbenau fuhr ein reichgeschmückter und gedrechselter tiefschwarzer Leichenwagen, von schwarzen, mit schwarzem Tuch behangenen Pferden gezogen, ihm voran ging der schwarze Mann, der Pfarrer: ein schwarzer Tag für die Familie. Viele schwarze Tage hatte das Jahr des Dorfes.

In jedem Dorf verkünden Kriegerdenkmale, wie man mit Stolz die Söhne in den Tod geschickt hat. Im Dreschkasten blieb ein Bein ums andere. Kinder ertrinken auch heute noch in Dorfweihern. Alkoholiker lassen sich ihre Lebern zersetzen. Das alles sieht man im Dorf und übersieht man in der Stadt. Erschien beim Welk die Familie als Zuflucht, so ist sie bei Müller einer der Gründe zur Flucht. Orte sind nicht mehr Heimat, sondern Gedanken. Ob nicht Welk, der selber ein Getriebener war, auch den Wunsch eine Heimat zu haben, als Heimat angesehen hat?

Zudem mag man heute nicht mehr Welks Volkshochschulton lesen, der belehrend und gequält unterhaltend zugleich ist. Wir wollen heute Texte, denen die Authentizität aus allen Ohren quillt. Kein Wunder, dass die artifizielle Beschreibung einer doppelt untergehenden Kultur, die der Deutschen im Banat und die der kommunistischen Diktatur, die sich wie ein Erlebnisbericht liest, mit dem Nobelpreis des vorigen Jahres geadelt wurde. Fantasy drückt von der anderen Marktseite auf die Buchseiten, und ich verhehle nicht, dass der Käufer des Hauses in meiner Geschichte nicht aus idealistischen Gründen, sondern aus Fantasy-Vorstellungen märchenprinzähnliche Züge hat. Der vielleicht tatsächlich türkische Immobilienmakler, der die Stallanlagen in dem gedachten Dorf gekauft hat, sitzt in einem trockenen, wenn auch klimatisierten Büro in Frankfurt am Main und lässt sich durch keine noch so feuchte Träne rühren.

Immer sieht man eine Welt untergehen. Aber immer findet sich auch ein Chronist des Unterganges. Mag er auch zunächst belächelt werden, später liest man seine Chroniken, um zu erfahren, wie es war, um sich mit den Schwierigkeiten vergangener Zeiten zu unterhalten. Denn trotz aller Billigphilosophien herrscht ja doch eher Optimismus, die Dörfer haben sich neu belebt und neu bevölkert, neue Geschichten geschehen und werden aufgeschrieben, und selbst der sprichwörtlich ärmste Landkreis leistet sich einen Literaturpreis, der benannt ist nach einem sympathischen alten Volkshochschuldirektor, dessen Figuren für kurze Zeit allbekannt waren und der die Idylle auch nicht aufhalten konnte. Und heute krönt sich die zufällige Verbindung unserer beiden Lebens- und Schreibewege. Meine Großmutter, die eine große Verehrerin von Ehm Welk war, wäre heute jedenfalls stolz auf mich.

Ich danke meinen Lesern, der Uckermärkischen Literaturgesellschaft und dem Landrat für die Aufmerksamkeit!

OHNE SÜNDE SEIN

[Erster Hauptsatz]

Wer ohne Sünde ist,

werfe den ersten Stein

Yesus, Yohannes 87

Wenn jeder die Schuld bei sich suchen würde, wären die Täter schnell gefunden. Selbstverständlich ist man nicht an allem schuld, aber an viel mehr, als man anzunehmen bereit ist. Ob wir es glauben oder nicht: wir sind die Wähler der Regierung oder die Nichtwähler der anderen Regierung, wir sind die Konsumenten, wir sind auch die Produzenten. Wir sind auch die Produzenten jenes Mülls, den wir nicht vor unserer Haustür verbrennen lassen wollen. Wir sind auch die Kinder jener Eltern und die Eltern jener Kinder, deren Heim wir nicht in unserer Straße haben wollen, weil andernfalls der Wert unsrer Häuser sinkt. Es ist uns nicht klar, dass der Wert unserer Häuser unsere Kinder sind. Der Grund, dass auf der einen Seite Bausubstanz verkommt, um auf der anderen Seite Papphäuser und grauingraue Sichtbetonfassaden zu bauen, sind wir. 

Geld kann doch nur immer wieder versuchen, die Welt zu regieren, weil wir uns nicht regieren wollen. Auch Dinge eignen sich, geliebt zu werden und uns dominieren zu wollen. An Hitler mag auch unsere schlechte Erziehung schuld gewesen sein, aber haben wir uns ihr widersetzt?

Zu denken, dass die anderen schuld sind, ist nicht nur leichter zu ertragen, sondern immer auch Konsens mit den anderen, die ja wieder andere meinen. Auch hier ist es so: der Zeitgeist sind wir selbst, deshalb heißt er ja auch so.

Wenn es jetzt so scheint, dass die Botschaft zweitausend Jahre lang nicht gehört wurde, so ist dieser Eindruck doppelt falsch. Einmal ist die Kohärenz christlichen Denkens höchstens anderthalbtausend Jahre alt, wahrscheinlich denken die Menschen aber erst seit der Reformation und der Verbreitung gedruckter Bibeln und Kommentare über einzelne Sätze nach. Zum anderen, und das wird noch viel mehr und leichter übersehen, hat sich ganz viel geändert. Zwar gab es in Europa zwei dreißigjährige Kriege, aber sie sind auch eher die Ausnahme gewesen. Gleich nach dem zweiten Krieg (1914-1945) fand aber das Wunder einer krieg- und gewaltlosen Befreiung eines riesigen Volkes unter einem yesusanalogen Führer statt. Europa hat sich endlich, ohne die Herrschaft einer Staatskirche, auf seine Wurzeln als christliches Abendland besonnen. Seine Anziehung, sicher mehr aus wirtschaftlichen als politischen Gründen, ist so groß, dass die eigenen unaufgeklärten Bevölkerungen Angst vor Überfremdung haben. Dahinter steckt vielleicht die alte Angst vor dem Hunger und dem Krieg.

Die Frage ist doch, was mit Sünde gemeint sein kann, wenn man den engen kirchlich-theologischen Kontext einmal unbeachtet lässt. Ist es tatsächlich die Einhaltung von historischen Regelwerken? Immer schon gab es biologistische Ansätze, die freilich auch die Natur auf enge Formeln herunter gezoomt haben. Wer Evolution mit Konkurrenz und Mord und Totschlag gleichsetzt, kann Solidarität, Empathie und Kindchenschema nicht erkennen. Letztlich liegt in solchem Ansatz wieder nur die alte Schuldzuweisung: in mir ist das Gute, aber das Böse ist draußen. Der Wolf ist böse und das Rotkäppchen ist schutzbedürftig. Gerade am alten Feind des Menschen, am Wolf, kann man zeigen, dass ‚Feind‘ ein inneres, kein äußeres Problem ist. Feind ist nur ein anderes Wort für Angst. und weil wir alle Angst haben, ist der Wolf der beste Gefährte des Menschen geworden, seine Würde allerdings wird nicht durch seinen Nutzen gefährdet, sondern durch sein überaufmerksames und dankbares – hündisches – Wesen. Viele Menschenkinder sind schon von Wölfen aufgezogen worden, darunter auch legendäre.

Und weil wir alle Angst vor uns selbst haben, wollen wir richten, wenn jemand im Moment schlechter gehandelt hat als wir oder wenn er oder sie, anders als wir, dabei ertappt wurde, die Regeln nicht eingehalten zu haben. Aber wir alle halten die Regeln nicht ein, deshalb überholen sich Regeln auch regelmäßig. Sie sind historisch.

Wer die zurzeit geltenden Regeln nicht einhält, bestraft sich selbst. Die erste Strafe ist, dass er nicht erfolgreich handeln kann. Die Ehebrecherin – steinigen! – widerspricht der von ihr selbst oder ihrer Familie getroffenen Auswahl genetischer Folgerichtigkeit. Allerdings kann der Ehebruch auch eine Korrektur dieser Folge sein. Dann würde durch die Ermordung der Untäterin die Zukunft der Familie und der Gruppe gefährdet. Der Dieb, als zweites Beispiel, schädigt befreundete oder sogar verwandte Familien oder Gruppen und damit, gemäß dem Allmende-Dilemma, sich selbst. Aber zweitens leben die Untäter mit einem schlechten Gewissen, ohne Erfolgsfreude, zunehmend geächtet. Die Untat selbst ist die Strafe. Es bedarf keiner weiteren Strafe, schon deshalb nicht, weil sie kein Mensch verhängen kann und darf.

Die Angst, dass in der Welt, die nach diesem Satz gestaltet würde, die Mörder frei herumlaufen könnten und Wiederholungstäter ohne Ende sein könnten, ist ganz überflüssig. Natürlich können wir in einer durch Strafen und Amtsanmaßung – jedes Amt ist Anmaßung – geschädigten Welt nicht mit einer Amnestie für Mörder und Kinderschänder anfangen. Wir können gar nicht mit Amnesie anfangen, sondern im Gegenteil, wir müssen uns erinnern, woran wir schuld sind. Wir müssen lernen, dass es das Böse wahrscheinlich nicht als Substanz, als Erbmasse, genetischen Fluch oder dergleichen gibt. Wer das glaubt, ist mit dem Fingerzeigen und Steinewerfen gut beraten. Das Böse ist die Unterlassung des Guten, die Summe der Fehlentscheidungen. Wir müssen also versuchen, Prävention mit Wiedergutmachung zu koppeln. Wir dürfen nicht von unserem Nachbarn verlangen, dass er das Richtige tut. Wir müssen zunehmend von uns verlangen, dass wir weniger unterlassen: nachdenken und vielleicht noch mehr empathisch handeln. Als Wort, als Begriff der Psychologie mag Empathie relativ neu sein, als Gefühl ist es so alt wie die Menschheit. Wir sollten ab sofort nur noch an uns selbst appellieren. Durch Rache erhöht sich die Summe des Bösen, der falschen Entscheidungen, des Leids. Weil es aber Untaten gibt, kann es keine Gerechtigkeit geben. Wir müssen also Gerechtigkeit als das erkennen, was sie wahrscheinlich ist, ein Ideal, das durch unser Handeln stückweise, allerdings auch nur asymptotisch verwirklicht werden kann. Dazu können uns Religion, Philosophie und Kunst ermutigen. Den Mut müssen wir dann aber selbst entwickeln und anwenden. Noch im kommenden Jahrzwanzigst werden wir, möglicherweise durch kritische Situationen in Russland, im Iran, in Israel und in Nordkorea, die Atomwaffen abschaffen. Das wird ein gewaltiger Meilenstein zur Abschaffung der Gewalt sein. In Verwirklichung des schönen und großen Satzes wurde in den weitaus meisten Ländern der Welt die Todesstrafe abgeschafft, in der Folge sank die Anzahl der Morde. Wenn die Waffen abgeschafft werden, wird es weiniger Kriege geben. Vielleicht nennen wir diese schöne Initiative nach dem Yesus-Satz ‚Das Jesse Washington Projekt‘. 

ALLE JAHRE WIEDER….

Würde oder Leitkultur

Eine Kultur, die sowohl durch das eigene Leben als auch durch die Gesellschaft leitet, kann nur ein Regelwerk sein, das mindestens mittelfristig eine gewisse Rigidität aufweist. So muss etwa eine Regel oder Tugend hier bei uns sowohl zu Schillers Gedicht ‚Von der Glocke‘, bei dem schon die Diskrepanz zwischen deskriptiver und normativer Intention auffällt, als auch zu den Auschwitz-Mördern und später zu den Arbeitgebern der Gastarbeiter passen. Es ist schon eine sprichwörtliche Kritik am Konzept der Leitkultur, dass ein so gespreiztes Spektrum nur Sekundärtugenden enthalten kann. So muss etwa der junge Mann aus der ‚Glocke‘, der um die Liebe seines Lebens wirbt, genauso pünktlich und zuverlässig sein, wie der professionelle Mörder in Treblinka oder der Bundestagsabgeordnete der Grünen. Aber: Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Ordnung und Sauberkeit sind nicht kausal mit Deutschland verbunden. Kein Belgier oder kein Türke ist verhindert, diese und ähnliche Sekundärtugenden zu besitzen, kein Deutscher ist verpflichtet, pünktlich zu sein oder die Rechtschreibregeln außerhalb von Amt und Schule einzuhalten. Dass ein Türke oder ein Belgier, wenn er hier bei uns arbeitet, eventuell pünktlicher wird, als er bei sich zuhause war, zeigt, dass es eben gerade keine angeborene Kultur, sondern angewöhnte Wirtschaftsweise ist, pünktlich oder ordentlich zu sein. Diese Sekundärtugenden werden auch gerne ‚preußisch‘ genannt und verraten mit diesem Etikett ihre Herkunft im Protestantismus, wie Max Weber[1] annahm, und im Militarismus, der bis 1945 ebenfalls Wesensmerkmal des Deutschtums zu sein schien, dann aber plötzlich einem ausgeprägten Pazifismus wich. Der Pazifismus, der auch die – wie sich jetzt zeigt – sträfliche Vernachlässigung der Verteidigungsfähigkeit einschloss, mag seine Ursachen in der nach zwei verlorenen Weltkriegen späten Einsicht, aber auch in der Projektion des Militarismus auf die nun befreundeten Siegermächte gehabt haben. Weder der Bellizismus noch der Pazifismus sind also Bestandteile einer irreversiblen oder autochthonen Kultur, die für Ankömmlinge programmatisch oder gar verpflichtend ist. Zur Pflicht wusste schon Goethe, dass sie nicht in der Ausübung irgendwelcher Tugenden besteht, sondern in der Forderung des Tages[2].   

Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht das pandemische Auftreten der Idee der Leitkultur ein immer wieder versuchtes Remake des Autokratismus oder sogar eines tausendjährigen Reiches ist. Dabei müssen wir gar nicht nur und immer an das äußerst kurzlebige Nazireich denken, dessen eherne Werte in die Scherben zerfielen, die sie vorher selbst besungen hatten[3]. Letztlich geht jede Ideologie von einer universellen und langwährenden Wirkung aus. Schon das allein widerspricht jedem Nationalismus. Bis auf die katholische Kirche hat aber keine das 1000-Jahre-Limit geknackt. Nun aber sind auch ihre Tage gezählt. So wie eine offene Idee nicht in einem geschlossenen System überleben kann, so kann eine geschlossene Ideologie nicht in einer offenen Welt bestehen. Die Welt wird nicht nur durch Demokratie und Wohlstand immer offener, sondern auch durch eine jeden Schlupfwinkel der Welt erfassende Kommunikation. Dabei ist nicht nur das Medium selbst die Botschaft[4], sondern teils versteckt, teils offen gibt es eine wachsende Zahl von Botschaften. So wie das Christentum seine paganen Vorfahren einfach, leichtfertig und bösartig überschrieb, so erleben wir jetzt eine Metamorphose des Christentums.

Eine ‚Leitkultur‘ kann also bestenfalls der pathogene Ausfluss autokratischer Fantasien sein, der das Rad der Geschichte mit einem Kettenschloss arretieren will. Die Schubphasen der uns bekannten Geschichte, Hochkulturen, Renaissance, Aufklärung und Demokratie sind einerseits gerade durch den kulturellen Austausch bei gleichzeitiger Tendenz zum Individualismus bestimmt, andererseits und demzufolge müssen sie ein ganz anders geartetes verbindendes Element haben. Dieses Element muss die Freiheit des Einzelnen genauso intensiv schützen wie die Rechte der Gesamtheit. Anders gefragt: was hat ein Auschwitzmörder mit Albert Schweitzer gemeinsam?

 Soweit wir sehen, gibt es nur ein Konzept, das den Mörder, ohne seine Schuld zu tilgen oder gar zu vergeben, und Albert Schweitzer, ohne ihn in den Schmutz der üblen Nachrede zu ziehen, beschreibt: das der Würde.

Das erste Strafgesetzbuch, das dem Täter seine Würde beließ, ohne seine Schuld zu schmälern, stammt von Anselm Ritter von Feuerbach. Er schaffte nicht nur per Gesetz die Folter als untaugliches Mittel der Wahrheitsfindung ab, sondern begründete statt dessen die Kriminalistik als Methode der Verbrechensaufklärung. Ein Geständnis ohne Folter lässt dem Angeklagten seine Würde, gesteht er nicht, was er getan hat, verzehrt ihn sein Gewissen.

Ein solches Konzept der Würde widerspricht jedem ahistorischen Regelwerk. Dieses korrespondiert allerdings mit einem starken und erzieherisch-restriktiven Staat. Diesem Staat wird zugetraut, dass er, obwohl er die Komplexität der Welt und ihre mannigfachen Probleme offensichtlich und nachweislich nicht meistert, ebenjene Probleme selbst schafft. Am deutlichsten wird das wohl in der absurden Idee vom Großen Austausch. Keine Regierung, weder der Entsende- noch der Empfängerstaaten wird der Probleme der Migration Herr, und trotzdem verdächtigt man sie, dass sie das viel größere Projekt des Austauschs einer ganzen Bevölkerung betreiben könnten.

Die zunehmende Komplexität der Welt führt also auf der einen Seite zu einer wachsenden Ratlosigkeit mit entsprechend verwirrten Regierungen, auf der anderen Seite aber zu neuer Sehnsucht nach Autoritarismus und Kommunarität unter einem omnipotenten Führer. Diese Führer sind es, die ebenso wie alle Argumente gegen die uniformierte und uninformierte Leitkultur sprechen: ersetzen sie doch das Charisma, das sie nicht haben, durch einen pomphaften pseudoreligiösen Kult, als dessen Ziel, Zweck und Ende sie schließlich selbst dastehen. Es spricht übrigens auch gegen die guten und originären Religionen, wenn sie sich in Kulten, Kutten und leeren Ritualen verlieren, statt der Menschheit ihre menschlichen Lehren zu vermitteln, wie zum Beispiel: DU SOLLST NICHT TÖTEN. DU SOLLST ANDERE SO BEHANDELN, WIE DU VON IHNEN BEHANDELT WERDEN WILLST. DU SOLLST ALLE MENSCHEN LIEBEN, SELST DEINE FEINDE, DENN DANN HAST DU KEINE MEHR. Stattdessen zählen sie ihre Sammelgroschen und bügeln ihre Talare, in denen der Muff von tausend Jahren Nichtsnutzigkeit stinkt.

Jede Leitkultur ist notwendig ahistorisch und gleichzeitig an die eigene Vergangenheit gefesselt. Jede Würde ist nackt und bloß der Unbill aller Unverständigen ausgesetzt und muss sich nur aus sich selbst heraus entwickeln. Geholfen wird ihr von einer Vernunft und Bildung, die nicht lediglich angetastet, sondern oft mit Füßen getreten wird. Man muss keinem Verein beitreten, um gut zu sein. Es reicht, gut zu sein. SEI GUT!


[1] Max Weber, Protestantismus und Kapitalismus

[2] Goethe, Maximen und Reflexionen

[3] ‚…wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt…‘

[4] Marshall McLuhan

FATUM IST KEIN FAKTUM

ENTSOLIDARISIERT

Vierzig Jahre lang haben sich die Ostdeutschen verraten gefühlt: vieles war in der DDR offensichtlich schlecht, falsch, lächerlich, ärmlich oder sogar verbrecherisch, selbst der Nationalismus, die letzte Notlösung aller Unglücklichen, war halbiert. Herbeigerufen wurde im Herbst 1989 die Wiedervereinigung, im Frühjahr 1990 die D-Mark. In einem absoluten Glücksfall trafen beide Erwartungen bis Herbst 1990 auch tatsächlich ein. Viel weniger Glück hatten die anderen geteilten Länder: Vietnam, Korea, Jemen, Moldawien, ganz zu schweigen von den Ländern, die sich ab 1990 teilten: Jugoslawien, Tschechoslowakei, Äthiopien, Sudan. Aber dieses Glück machte die vermeintlich verratenen Ostdeutschen nicht glücklich. Schon die übertriebene Aufregung über den Prunk und die Pracht der Führung hätte uns stutzig machen sollen: denn in Wirklichkeit lebten die Großgenossen wie die Kleinbürger, von ein paar Westartikeln in ihren Läden abgesehen. Die First Lady und Ministerin ging manchmal in der Mittagspause in einen normalen Laden in der Leipziger Straße, wo auch ihre Tochter Sonja wohnte, aber dann wurde der Laden von Sicherheitskräften abgesperrt. Haben wirklich so viele unserer Mitbürger geglaubt, dass es sich beim Politbüro um eine normale, kompetente Führungsriege gehandelt hat? Heute ziehen viele Ostdeutsche über die grüne Parteivorsitzende her, weil sie keinen Studienabschluss hat. Aber was waren denn die Honecker, Stoph, Mielke und Neumann? Im übrigen gibt es auch sehr fähige Politiker ohne einen anderen Beruf. Multitalente wie Rathenau werden in Deutschland dagegen auch gerne erschossen.     

Inzwischen werben drei Parteien um die Stimmen der kleinen Wählergruppe der Ostdeutschen. DIE LINKE ist aus der Staatspartei SED hervorgegangen, die AfD aus einer winzigen Anti-Euro-Professoren-Partei und das Bündnis Sahra Wagenknecht ist sozusagen aus sich selbst schaumgeboren, aber andererseits eine triviale Abspaltung der Linken Partei. Die linken Parteien haben sich seit eh und je gespalten und damit entkräftet, die rechten Parteien dagegen gründen sich immer neu und dementieren ihre Geschichte. Seit geraumer Zeit wird nun gerätselt, was die Ostdeutschen vom klassischen Parteienschema abhält, warum sie nicht CDU, SPD, GRÜNE oder FDP wählen.

In der Wahrnehmung derjenigen Menschen, die zunächst in den westdeutschen Konsens einstimmen konnten, gab es aber 2010 (Griechenland-Depression) oder spätestens 2015 (sogenannte Flüchtlingskrise) einen Bruch. Sie glauben, dass sie die gleichen Menschen mit den gleichen Meinungen geblieben sind, jetzt aber plötzlich als rechtsstehend verstanden werden. Dem könnten drei Missverständnisse oder Irrtümer zugrunde liegen.

1

GELD IST NICHT POOL, SONDERN FLUSS

Wir Ostdeutschen waren nach 1990 eine Zeitlang damit beschäftigt, den Fluss von Milch und Honig zu genießen. Geld war für die meisten von uns ausreichend vorhanden. Uns fehlten eher Kenntnisse vom Geld. Allerdings spalteten sich von vornherein eine kleine Verlierer- und eine große Verleugnergruppe ab. Die Verlierer, die oft keinen Berufsabschluss hatten und besonders immobil waren, ließen sich sogleich in der sozialen Hängematte nieder. Die Verleugner dagegen gingen in den Westen und Süden, es waren meist Frauen.  2010 oder 2015 merkten einige von uns, dass das Geld aus dem von ihnen geglaubten Pool nicht nur für uns da war. Was ging uns Griechenland an, fragten sie sich 2010. Was scheren uns die Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea, schrien sie schon sehr aufgebracht 2015. Auch die Kanzlerin Merkel konnte sie mit ihrem berühmten Satz, der uns viel Anerkennung in der Welt einbrachte, nur schwerlich beruhigen. Wir schaffen was?, fragten sich die Wutbürger und meinten den nicht unerschöpflichen Pool an  Geld. Wir schaffen das!, sagte die Kanzlerin und meinte Courage und Empathie. Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Land mit jeder Menge Bargeld im Juliusturm in Spandau[1]. Sie ist, wie alle reichen Länder, ein System, in das – durch Wertschöpfung, Export und Finanzwirtschaft – in jedem Moment ungeheuer viel Geld einfließt, das andererseits auch wieder abfließt. Insofern ist auch die Vorstellung, dass unsere Kinder unsere Schulden bezahlen müssen, falsch. Sie sind schon im übernächsten Jahr beglichen. Aber trotzdem bleibt unsere Gesellschaft ein Solidarsystem, das nicht nur sich selbst verantwortlich ist. Jeder, der lesen kann, muss es auch die anderen lehren. Jeder, der Brot hat, muss es auch teilen. Das ist universeller Konsens.

2

STAAT IST NICHT VATER, SONDERN VERWALTER

Die Solidarität oder Nächstenliebe tritt oft in institutionalisierter Form auf. Bei uns im Osten war SOLI ein Beitrag, glaube ich, für Vietnam. Nach der Wiedervereinigung gab es die Solidaritätsabgabe, einen Lohnsteuerbestandteil, von dem die Menschen im Westen und Süden glaubten, dass nur sie ihn für den Nordosten bezahlen müssten. Nächstenliebe[2], die christliche Variante von Solidarität, ist von den christlichen Kirchen zwar institutionalisiert bewahrt, aber andererseits auch angesichts des sündhaften und sinnlosen Reichtums der Kirchen und Religionsgemeinschaften geradezu verworfen worden. Viele sogenannte Christen halten den Teufel für Realität, Pazifismus aber für eine Metapher. Für das Solidaritätsideal steht heute der Gesellschaftsvertrag nach Rousseau, und der Generationenvertrag nach Bismarck und Erhard. Der Staat ist nicht nur eine riesige Verwaltungsmaschinerie, ich verweise auf das Heeresbeschaffungsamt der Bundeswehr, in dem 5.000 Stabsoffiziere verzögern oder sogar verhindern, dass der benötigte Gegenstand an der richtigen Stelle ankommt, sondern er erscheint vielen als der allgütige Vater, der für alles sorgt, aber auch an allem schuld ist. Linke und Rechte, Verteidiger und Verdammer der Demokratie, sie alle beten den Staat an, anstatt sich ihrer Freiheit, ihrer Würde, ihrer Bildung und ihres Wohlstands zu freuen. Noch vor ein paar Jahren war DIE MERKEL (MERKEL MUSS WEG) an allem schuld, jetzt ist es DIE AMPEL (AMPEL MUSS WEG), morgen wird es DER MERZ (MERZ MUSS WEG) sein. Nicht die Ampel – oder jede andere Regierung – ist pervers, sondern derjenige, der sich solche Schilder an seinen teuren Traktor nagelt. Schon die Vorstellung, dass der Bauer morgens um vier Uhr aufsteht, damit wir zu essen haben, ist abenteuerlich. Natürlich steht er morgens wie wir alle auf, damit er selbst zu essen hat. Denn was wäre ein Bauer, der nicht lesen, schreiben und rechnen kann, der keinen Traktor nebst dem dazugehörigen Kredit hätte, der nicht im Notfall[3] aus seinem Mördermähdrescher von einem Meisterchirurgen herausgeschnitten werden könnte? Die neue Unsitte den Staat zu fokussieren und zu verherrlichen, wo man nur selbst gemeint sein kann, wird assistiert von der vermeintlich großen Reichweite, die ein jeder und eine jede von uns hat. Wir glauben zu Milliarden von Menschen zu sprechen, wenn uns sieben zuhören und drei antworten.

3

FATUM IST KEIN FAKTUM

Durch diese tatsächliche oder auch oft nur vermeintliche Reichweitenvergrößerung erscheint vielen Menschen ihr Schicksal als tendenziell, wenn nicht programmatisch. Sie fühlen sich gemeint, wenn ihre Firma Bankrott anmeldet oder ihr Vermieter willkürlich den Zins erhöht. Das berüchtigtste Beispiel ist die Verklärung der Jugend: Weil meine Jugend mir lieb ist, muss das Umfeld richtig gewesen sein. Und obwohl schon Lessing in seinem berühmten Satz[4], dass es für mich keinen Grund gäbe, meinen Eltern weniger zu glauben als du deinen, die Frage gültig beantwortet hat, wundern wir uns, dass sowohl meine als auch deine Eltern gelogen haben könnten, nicht weil sie Lügner wären, sondern weil sie ihre Welt nicht verstehen konnten. Die Religionen und Philosophien haben leider dazu beigetragen, dass wir alle gern an Vorsehung, vorbestimmtes Schicksal, Gott als Lenker aller Ameisen, den Weltgeist oder die ‚Weisen von Zion‘ glauben oder wider besseres Wissen glauben wollen. Wir können und wollen nicht glauben, dass wir ein Teilchen in sinnloser Raumzeit sind, stattdessen glauben wir uns als a priori geliebt und wichtig, als Macher. Macher kann man werden, aber dann muss man auch erst einmal etwas machen: Bach, Benz, Bosch, Brandt.   

Aber auch auf unserer Seite gibt es einen krassen Irrtum:

4

KONSENS IST NICHT KUMULATIV

1989 glaubten wir alle, dass nun alle Menschen in den Konsens eintreten, in dem wir uns schon befanden: Demokratie, Antiautokratismus, Bildung, Wohlstand, Würde, Menschenrecht. Wie die Demokratie selbst ist auch der ihr zugrunde liegende Konsens (Rousseaus ‚einmalige Einstimmigkeit‘) ein äußerst fragiles Ringen um Gleichgewicht, das man, wenn es braucht, nicht hat, aber wenn man es hat, nicht braucht, wie schon ein Uraltsprichwort sagt.

Die faszinierende Navigation der Ameisen, die trotz Abgrund, Übermacht und Tod immer wieder die Heimat finden lässt, könnte uns hier ein besseres Leitbild sein, als die so genannte nationale Leitkultur oder ein Vater (WARUM EIGENTLICH VATER? I met God, she’s black!), der allwissend, allgütig und allmächtig ist, sei er nun Gott oder Staat.  

FA TUM
FAKTUM

[1] Alter Wehrturm in Berlin-Spandau, in dem in den 60er Jahren tatsächlich etwa 10 Milliarden DM als Bargeld eingelagert waren

[2] Markus 1231    Matthäus 544

[3] Mähdrescherunfall am 19. August 2023 bei Rostock

[4] LESSING, Nathan der Weise, III,7 [Vers 469f.]

WEIHNACHTS- UND NEUJAHRSBRIEF

2023/2024

Im vorvorigen Jahr hatten wir die nächste, im vorigen Jahr die übernächste Flüchtlingskrise. Und obwohl in der Politik heftig gestritten wurde, hat sich das WIRSINDDASVOLK-Volk beruhigt. Vielleicht ist es durch den Ukraine-Krieg oder die Inflation abgelenkt. Die Klimakrise wurde durch das Heizungsgesetz zugeschüttet oder sogar eskamotiert, so wie die Bauern ihren sicheren Untergang durch den Wegfall von durchschnittlich knapp 3000 € pro Jahr und Hof Dieselsubvention projizieren. Der Vergleich mit den Klimaklebern drängt sich auf. Über allem schwebt die Krise der schwächsten Regierung nach Ludwig Erhard als Kanzler, Kohl IV und Merkel IV. Allerdings steht sie vor weitaus größeren Herausforderungen als diese drei schlechten Regierungen. Jetzt rächt sich, was alles gedanken- und gewissenlos versäumt oder dummerweise zugestanden wurde. Mich wundert, dass sich, obwohl die Marke Deutschland im Sturm der Weltgeschichte wackelt, wenn nicht kippelt, kein Politiker, Wissenschaftler oder Dichter findet, der sagt: so jetzt fangen wir neu an, und zwar unten. Die Subvention für den Agrardiesel, die Dienstwagenpauschale oder das Ehegattensplitting sind ganz oben. Sie sind nur ein Sparpotential und keine Vision. Unten dagegen sind die Kinder, von denen ein inzwischen beträchtlicher Teil, der migrantische und anderweitig bildungsferne, zunächst Förderbedarf hat, dann aber zur Hoffnung und zu Mitarbeitern an den Visionen aufsteigt. LASST UNS ENDLICH NICHT MEHR ÜBER DIE HERKUNFT DIESER KINDER SCHWAFELN, SONDERN ÜBER IHRE ZUKUNFT REDEN. Fachkräfte wachsen nicht auf den Bäumen oder fliegen durch die Luft in die geöffneten Münder der vergreisten Nationen, sondern müssen gefördert und ausgebildet werden. Ich erinnere an Uğur Şahin, der von der Schule schon als nicht beachtenswertes Migrantenkind abgestempelt und abgetan war, aber ein Nachbar setzte sich dafür ein, dass er doch noch aufs Gymnasium konnte. Saša Stanišić dagegen wurde von seinem Deutschlehrer entdeckt, ermutigt und gefördert. Wer jetzt nicht weiß, wer Uğur Şahin und Saša Stanišić ist, gehört in die Gruppe von Lindner und Merz bis Söder und Scholz, die nicht verstanden haben, wie man Zukunft macht, die überhaupt keine Macher, sondern nur Schwätzer sind. Noch schlimmer sind allerdings Wagenknecht, Weidel, Maaßen und Aiwanger, die wissentlich das Falsche sagen, weil ihre Wähler das hören wollen. Was wir nicht hören wollen, ist, dass Entwicklung unten anfängt: bei der Bildung, beim Schienennetz und bei der Kommunikation. Schon, wenn wir diese Erneuerung von unten auf begönnen, würde sich die Strahlkraft der Demokratie erhöhen. Je perfekter die Demokratie ist, desto mehr kann sie durch reine Bürokratie ersetzt werden. Je mehr die Demokratie aber durch die Bürokratie am Laufen gehalten wird, desto mehr Anhänger verliert sie. Vielen Menschen fehlt einfach ein Gesicht des Staates. Der Diskurs braucht keine Führer, aber wir Menschen lieben Gesichter. Fast fällt einem der alte Slogan aus dem Prager Frühling ein: Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Der gelebte Sozialismus war unmenschlich, aber der Demokratie fehlt das Gesicht. Merkels Spottname ‚Mutti‘ war ein Ausdruck dessen, obwohl er anders gemeint war. Die bemerkenswerte Gesichts-, Geschichts-, Gedächtnis- und Sprachlosigkeit von Scholz verstärkt nur das Desaster der Demokratie: wenn alles schon geregelt ist, worüber soll man dann reden oder gar abstimmen. Ob nicht diese fatale Sehnsucht nach Autokraten in Wirklichkeit die Sehnsucht nach dem Gesicht ist? Dafür spricht Selenskyj, der Präsident, der sich jeden Tag an sein langsam ermüdendes Volk wendet und mindestens einmal in der Woche an der Front ist. Dagegen lässt Putin sich durch seine Propagandisten vertreten, auch in dem Punkt Hitler ähnlich, der nach Stalingrad nicht mehr in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. Die bösen Staaten China, Russland, Iran, Nordkorea halten an einer voraufgeklärten, sozialdarwinistischen, auf dem vermeintlichen Recht des Stärkeren beruhenden Staatsraison fest, Russland kann man nur zynisch zuraunen: dann muss man aber auch der Stärkere sein. Aber wir bleiben bei unserer felsenfesten Ansicht: das Böse kann und wird nicht gewinnen.  Ich weiß, dass das kein Brief, sondern ein Aufschrei ist. Auch mein Optimismus ist ins Wanken geraten, aber er behauptet sich.

Alles Gute im hoffentlich besseren Jahr 2024.

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KEIN HÜSUNG

EIN VERSCHOLLENER GEDANKE

‚Kein Hüsung‘ (1857) von Fritz Reuter in der Nacherzählung (1960) von Ehm Welk

Der Parvenü-Baron verweigert dem alten Gutsarbeiter den Arzt, lässt aber für den Edelhengst, der mit Koliken liegt, per Eilboten den Tierarzt kommen. Dazu kommen idealisierte philosophische Dialoge von Gutsarbeitern, deren Unbildung und Rückständigkeit eigentlich sprichwörtlich war.  – So stellt man sich die schematische Sozialkritik in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor, aber Fritz Reuter gehörte nicht zum Vormärz und auch Ehm Welk war kein linker Scharfmacher. Beide hatten eher Biedermeier-Qualitäten, amüsante Anekdoten von Onkel Bräsig, von Durchläuchting sowie vom Nachtwächter und den Kindern des fiktiven Kummerow waren eher ihre Sache.

Indessen heißt die älteste Schule in Neubrandenburg, wo Fritz Reuter einst seine Bestimmung fand, heißen in Mecklenburg unzählige Straßen und heißt sogar eine Straße im Weltkulturerbe Hufeisensiedlung in Berlin Neukölln nach dem Buch, das früher in jedem norddeutschen Haushalt zu finden war: ‚Kein Hüsung‘, jetzt selbstverständlich ‚min…‘, ‚uns…‘ und so weiter Hüsung. Hüsung war das Niederlassungsrecht für nicht mehr leibeigene, aber doch noch sehr abhängige Gutsarbeiter in Mecklenburg und Pommern. Der Grundkonflikt und der Titel des Buches beschreiben die Verweigerung des grundsätzlichen Rechtes jedes Menschen auf eine Wohnstatt, Wohnung, Behausung, niederdeutsch Hüsung. Im Hochdeutschen gibt es jedoch einen feinen Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit,  Obdachlosigkeit und Unbehaustheit. Wenn es dem anrührenden Liebespaar des Versepos gelungen wäre, nach Amerika oder in die Großstadt zu entkommen, wie es Johann mehrfach vorschlug, dann wäre es nicht mehr obdachlos, aber trotzdem unbehaust gewesen, nämlich ohne eine vorher absehbare und garantierte Zugehörigkeit. Und genau das ist es, worunter heutige Kommunitarier leiden oder vorgeben zu leiden: dass heutige Menschen nicht mehr vorhersehbar zu traditionellen Gruppen gehören und gehören wollen. Die Kommunitarier sind getriggert vom Gendern, von Veganern und dritten Geschlechtern, von Parteien, die es ihrer Meinung nach gar nicht geben dürfte. Es geht ihnen im Gegensatz zu den Liberalen darum, zu einer Gruppe zu gehören, eben kein Individuum zu sein, das auf Rechte Anspruch hat, die sich nur aus seinem Menschsein ergeben. Der Liberale ist der Meinung, dass Deutsch eine Sprache ist, der Kommunitarier dagegen hält Deutsch für einen Zustand, eine vererbbare Zugehörigkeit, Qualität, Kultur und sogar Leitkultur, die weit über die Sprache hinausgehen: DEUTSCHSEIN HEISST, EINE SACHE UM IHRER SELBST WILLEN TUN[1]. Aber Achtung: auch der krasseste Individualist gehört zu einer Gruppe, nämlich zu den krassen Individualisten. Und auch der krasseste Kommunitarier mit seinem schönen und stolzen Nationalbewusstsein fährt wenigstens nach Holland zur Tulpenpracht und isst Kiwi aus Neuseeland oder Kartoffeln aus Israel.

Darüber streitet die Gegenwart, aber erstaunlicherweise ist diese Gegenwart in dem längst vergessenen, ja fast verschollenen Büchlein vorgeformt. 

Nicht nur der herz- und geistlose Pfarrer, vor allem auch der Kirchenpatron und seine extrem bigotte Gattin treiben die Verweltlichung, die Säkularisierung voran. Jahrhunderte und Jahrtausende als Staatskirche haben die Kirche zu einem Appendix jeden Staates gemacht, zu einem Werkzeug des Bösen, wenn der Staat auch böse war. Das gilt für jede Religion, in dem Punkt sind sie sich einig. Merkwürdigerweise gibt es Kirchenleute, die ausgerechnet den atheistischen Staat für den Niedergang von Kirche und Religion verantwortlich machen wollen. Dagegen war der Impuls für die Entstehung der Religionen gerade Hunger und Repression. Wer also behauptet, der Atheismus sei stärker als der Theismus, der kreuzigt Yesus und Bonhoeffer und Martin Luther King noch einmal. Umgekehrt ist es wohl: erscheinen Unterdrückung, Hunger, Diskriminierung am größten, so sind Glaube und Wissen Navigator und Helfer. Im Dunklen hilft nur das Licht. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit[2]. Jedoch geht es in unserem Büchlein nicht um die Theorie, sondern um die Praxis der Menschlichkeit. Es zeigt sich, dass der alte Kutscher Daniel diesen Humanismus als Gen mitbekommen hat und weitergibt: Er hilft dem starken und stolzen Knecht Johann, der vorher das Kind der Müllerwitwe aus der brennenden Mühle errettete, als der im Zorn über die himmelschreiende Ungerechtigkeit den selbstsüchtigen Baron mit der Mistforke (!) ersticht. Der Kommentar des aufgeklärten Freiherrn von Maltzan hingegen lautet: ‚Sein Tod ist Ergebnis seiner Borniertheit.‘ Das Gleiche, können wir heute sagen, gilt auch für die Kirche und die Monarchie. Es gilt übrigens auch, und das sollte uns froh und optimistisch machen, für Diktaturen und Autokratien: sie gehen an ihrer eigenen Borniertheit zugrunde! Umgekehrt schleppt das Gute immer den Bonus seiner Güte mit sich herum, was ihm einen Vorteil, einen manchmal minimalen Vorsprung, eine oft nur winzige Mehrheit sichert. Deshalb wird die Welt auch dann immer ein bisschen besser, wenn es schlecht um sie bestellt zu sein scheint. Wenn die Welt immer schlechter würde, wenn der Mensch nur aus Neid, Missgunst, dem vermeintlichen Recht des Stärkeren bestünde, dann gäbe es inzwischen weder die Welt noch den Menschen. Fritz Reuters schöner Spruch ‚Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl.‘ heißt doch nicht, dass man sich nichts vornehmen soll, damit einem nichts fehlschlägt, sondern dass man, wenn man sich viel vornimmt, auch damit rechnen muss, dass nicht alles gelingt. Der Großteil der Fehlurteile und Fehler beruht nicht nur auf Theologie, wenn sie meint, Recht und Vorrechte zu haben, sondern auch auf Teleologie, die hinter den Ereignissen und Erscheinungen Zwecke vermutet, die sie letztendlich niemandem zuschreiben kann. Ein Artefakt hat einen Zweck, ein Fakt hat möglicherweise einen Sinn, den wir ihm zuordnen können. Am schwersten ist es vielleicht bei uns Menschen zu verstehen: ist der Lebenssinn uns mitgegeben als göttliches oder fatalistisches Etikett oder müssen wir ihn suchen und im besten Fall finden? Der berühmte Lebenssinn hat, soweit ich sehe, nur eine einzige Bedingung: das Leben desjenigen Menschen ist sinnvoll, das sich auf andere richtet.

Der alte Kutscher Daniel hilft auch der Mutter des Christkindes, Mariken, als sie aus ihrer Kate vertrieben wird und bei Schnee und Eis mit dem Baby in ein Vorwerk ziehen muss. Er zieht das Kind auf, nach dem Mariken stirbt oder in den Tod geht – die Umstände und die mögliche Intention sind hier kunstvoll verwoben. Und wie ein Symbol übergibt Daniel dann das Kind seinem Vater, der sich nach der 48er Revolution in seine alte Heimat zurückwagt, aber nicht, um da zu bleiben.

Beinahe noch deutlicher wird die Aktualität dieses unscheinbaren kleinen Büchleins beim zweiten von uns ausgewählten Thema, das man heute Migration nennt. Angeblich ist es dasjenige Thema, das die Gesellschaft heute am meisten spaltet. Inzwischen haben alle Parteien in den vorgeblichen Ruf des Volkes eingestimmt, dass die unkontrollierte Einwanderung gestoppt werden muss, die Populistinnen Weidel und Wagenknecht bleiben natürlich weit vorn. Aber warum sollte die Einwanderung gestoppt werden? Weder leiden wir an Geld- noch an Raummangel, im Gegenteil, wir suchen händeringend Fachkräfte. Diese kommen aber nicht, wie im Märchen die gebratenen Tauben, angeflogen. Man muss sie selbst ausbilden, und da hat Deutschland gute Karten, denn wir haben ein hervorragendes Ausbildungssystem, das sich allerdings zurzeit in derselben Krise befindet wie die Bahn, deren Schienennetz einst ebenfalls weltweit führend war. Wir sollten dringend überlegen, ob nicht unsere ständigen Abwehrdiskussionen Verdrängungen der teils bitteren tatsächlichen Krisen sind. Trotz aller Krisen und sinkenden Wachstumsraten sind wir soeben vom vierten auf den dritten Platz vorgerückt, was die Größe der Volkswirtschaft betrifft. Wir sind also nach den unterschiedlichen Giganten USA und China die dritten, der Grund ist allerdings – ich gebe es zu – das Abrutschen Japans vom dritten auf den vierten Platz. Weniger erfreulich ist, dass wir in der Ungerechtigkeitsquote gleichauf mit der fünftgrößten Volkswirtschaft liegen, nämlich Indien, das noch vor wenigen Jahren sprichwörtlich für seine Armut war. Die Schere zwischen arm und reich ist für meine Vorstellung ein nicht gelungenes Bild, weil es suggeriert, dass sich zwei gleich große Gruppen Menschen gegenüberstehen: die Reichen, die immer reicher werden, und die Armen, die immer ärmer werden. Gleich sieht man den Reichen aus der Nathanparabel[3] vor sich, der, obwohl er 99 Schafe besitzt, für seinen Gast das einzige Schaf seines armen Nachbarn schlachtet. Und da fällt uns, weil wir heute über Literatur reden, der ökonomisch dumme, rhetorisch wirksame Spruch des einst großen Bertolt Brecht ein: ‚Reicher Mann und armer Mann / standen da und sahn sich an. / Da sagt der Arme bleich: / Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.‘ Aber wir ergänzen gerne: Doch der Reiche gibt zurück: Ich bin schuld? Das ist dein Glück! Tatsächlich wird die Gruppe der Superreichen, jenes sprichwörtliche eine Prozent der Bevölkerung, immer reicher[4]. Das ist die asymmetrische Schere. Unser Büchlein lamentiert nicht zum tausendsten Mal über die angeblich schädlichen und bösen Ankömmlinge, sondern zeigt in der Geschichte die Gründe für die Auswanderung: Hunger, Unterdrückung, religiöser Fanatismus der Staatskirche, Überbevölkerung durch effektivere Landwirtschaft und beginnende Industrialisierung. Zwischen 1848, genau da spielt unsere Story, und der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind mehr als sechs Millionen Menschen aus Deutschland nach Amerika ausgewandert. Es sind vermutlich genau dieselben sechs Millionen, die zu viel gewesen wären und die absolut erfolgreiche Industrialisierung belastet, wenn nicht gar verhindert hätten. Unser Weg auf den dritten Platz führte über die Migration! Subjektiv bleibt es natürlich falsch und böse, wenn die Adligen Mecklenburgs sagten: dann geht doch nach Amerika, wenn Honecker und Isaias Afewerki[5] sagten: wir weinen ihnen keine Träne nach und die Geldtransferleistungen der Flüchtlinge klammheimlich in die stets positive Bilanz einrechneten. Aber auch der liebevolle Knecht Johann mit seinem heiligen Zorn will nach Amerika, wo er Freiheit glaubt. Der nicht weniger liebevolle alte Kutscher Daniel dekliniert die Dialektik von Freiheit und Hüsung durch, wenn das auch sehr idealisiert wirkt, sollten wir doch überlegen, ob wir das schöne Wort ‚Hüsung‘ nicht ins Hochdeutsche migrieren können. Migrationen sind also Antworten auf Krisen, Umbrüche, Kriege, immer sind sie auch Aufbrüche, Herausforderungen. Die radikale Gruppe der Gegner der Ein- und Auswanderung – denn ein echter Nationalist kann auch nicht die Auswanderung befürworten – bleibt sich indessen immer gleich. Selbst der große Benjamin Franklin wetterte gegen diejenigen deutschen Einwanderer, die krampfhaft an ihrer Sprache und ihren Gewohnheiten festhielten. Auch die französischen und wallonischen Refugiés in unserer Gegend wurden beargwöhnt und diffamiert, weil sie mehr als hundert Jahre lang nur französisch sprachen, eigene Schulen und Kirchen hatten und wirtschaftlich nicht schlecht dastanden. Die türkischen Einwanderer der Wirtschaftswunderjahre, also die dritte Generation, fangen jetzt an, in Rücksicht auf deutsche Ämter und Nachbarn, ihre Namen ohne diakritische Zeichen zu schreiben, zunächst aber bei der korrekten Aussprache zu bleiben. Henry Kissinger, ein früher Flüchtling – er war 15 Jahre alt -, blieb immer seinem Fußballverein SPVgg Fürth treu. Das beliebteste Gegenargument: das sind alles Ausnahmen, kontern wir damit, dass wir sagen: ja, die Migranten sind die Ausnahmen, ohne die es die Regel nicht gäbe.

Ehm Welk hat seine hochdeutsche Übertragung des Reuterschen Versepos sicher im Zusammenhang mit dem Drehbuch für den in Ost und West erfolgreichen DEFA-Film von 1954 gemacht. Im Film gibt es nur eine propagandistisch aufgesetzte Szene, am Schluss, als nämlich Johann aus der selbstgewählten Verbannung zurückkommt und seinen Sohn holen will. Man darf nicht übersehen, dass dieser Film zeitgleich mit dem propagandistischen Machwerk des Thälmann-Films in Babelsberg entstand. Der Anfang des Films wirkt pathetisch, aus heutiger Sicht übertrieben schauspielerisch mit viel zu alt wirkenden Schauspielern. Aber alle emotionalen Szenen sind auch heute noch frisch und anrührend. Besonders wird der schon im Buch herausragende Menschenfreund Daniel, der alte Kutscher, in einer Paraderolle von Willy A. Kleinau dargestellt. Kleinau zeigt hier Qualitäten, die zu dieser Zeit sonst nur Heinz Rühmann hatte, etwa im Hauptmann von Köpenick, der zur gleichen Zeit im Westen entstand. Es mag Zeitgeist und Zeitmode gewesen sein, Güte und Leid in dieser Weise verkoppelt darzustellen, aber es gehören dazu auch herausragende Schauspieler. Hanns Anselm Perten glänzt ebenfalls als Gutsbesitzer, der sich selbst richtet, aber tragischerweise den Knecht Johann mit hineinzieht. Dramatisch und realistisch, vom ganzen Dorf wahrgenommen, wird vorher gezeigt, wie Johann das Müllerkind aus den Flammen rettet. Das Verhältnis zwischen Mariken und Johann ist einerseits eine schöne Liebe, andererseits offenbart es aber, dass damals jeder Mann den Patriarchen spielen und jede Frau sich anlehnen musste. Der Spiegel schrieb damals: „Ehm Welk wies überzeugend nach, dass die Liebe immer noch das Brot der Armen ist und offerierte dann als volkserotisches Filmsujet die plattdeutsche Ballade ‚Kein Hüsung‘ von Fritz Reuter. Zusammen mit seiner auch schriftstellernden Ehefrau Agathe, geborene Lindner, machte Ehm Welk aus der Reuter-Dichtung einen saftigen Defa-Volltreffer.“[6]

Wenn also Karl Marx mit seinem zeitgleich zu unserer Geschichte erschienenen Manifest[7] irrte, indem er glauben machen wollte, dass man nur die ‚Expropriation der Expropriateure‘ installieren müsse und schon würde alles gut, wenn also Johann Hinrich Wichern mit seinem ebenfalls als Manifest[8] verstandenen Gedankenspiel irrte, dass Armut das Ergebnis schwindenden Glaubens sei, dann ist die Botschaft der schönen, traurigen und anrührenden Geschichte erstaunlich aktuell und wunderbar tiefgründig. Jedes neugeborene Kind sollte als Chance und Herausforderung, also als Christkind, verstanden, geachtet, geliebt und gefördert werden. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für die nächsten zweitausend Jahre.  

Ich schenke dem Museum Angermünde eine Erstausgabe von Ehm Welks Nacherzählung ‚Kein Hüsung‘, VEB Hinstorff Verlag Rostock, 1960, mit einem eingeklebten Originalbrief von Agathe Lindner-Welk. Anlässlich dieser Übergabe des ‚Objekts des Monats‘ am 22.03.2024, 15.00 Uhr, entstand dieser Text.  


[1] Richard Wagner

[2] Kant, Was ist Aufklärung? Berlinische Monatsschrift, 1784

[3] Bibel:  2. Samuel 12; Koran: Sure 38, 21-27

[4] Steffen Mau et al., Triggerpunkte, Suhrkamp Berlin 2023, S. 71

[5] Diktator von Eritrea

[6] Der Spiegel, Nr. 21, 1953, S. 31

[7] Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, London 1848

[8] Johann Hinrich Wichern, Thesen auf dem ersten evangelischen Kirchentag, 1848. Wichern verdanken wir aber wenigstens den Adventskranz und die Diakonie.

GRÜNSPAN ALS FANAL

Dieser Text wird jedes Jahr am 8. November veröffentlicht

TATEN SIND VERWIRKLICHTE TRÄUME * TRÄUME SIND VERWIRKLICHTE TATEN

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Woher wusste er, dass seine Tat schon am nächsten Tag in den Schlagzeilen aller europäischen Zeitungen stehen würde? Die Zeit ist nicht nur manchmal reif für Erfindungen oder Kriege, sondern auch für Fanale. Nicht alle Fanale jedoch werden gehört und gesehen. Sein Fanal ist von den Nazis willig aufgegriffen, von allen anderen, Europäern und Amerikanern, aber ignoriert worden. Die Nazis hatten endlich einen Beweis und die anderen, wer weiß, sahen sich in einem Vorurteil bestätigt. Aber in welchem? Wir alle wissen heute, dass es eine Verschwörung der Menschen aus dem schtetl[1] nicht gegeben haben kann. Vielmehr ist Grünspan ein Vorbote der Schulversagergeneration. Allerdings zählt dazu leider auch Hitler. Während man früher als Schulversager keine Chance hatte, ist das Widersetzen gegen die Welt der Erwachsenen bei manchen ein Synonym für Innovation, die, wie im Falle Hitlers aber auch ein Rückgriff sein kann. Grünspan dagegen wollte ein Signal dagegen setzen, dass der Staat sich das Recht anmaßen kann zu bestimmen, wer wo und wann sein darf oder soll. Die Freizügigkeit gehört zur Demokratie wie die Freiheit überhaupt, die Selbstbestimmtheit und die Intimsphäre. Er sah etwas verletzt, was zum Menschen gehört, aber damals noch nicht Allgemeingut war. Die Länder, die nicht so antisemitisch wie Deutschland und Polen waren, öffneten sich aber auch nicht sofort und vollständig für den zu erwartenden Flüchtlingsstrom, sondern gaben den Deutschen insgeheim Recht: ein Jude aus Polen zu sein bedeutete damals nichts Gutes. Fügt man dann noch Frau und Linkshänder hinzu, werden alle Vorurteile durch den Namen Curie hinweggefegt. Grünspan wollte zeigen, dass es unrecht ist, dass man erst zweifacher Nobelpreisträger sein muss, um überall geduldet zu werden. Dulden ist auch das falsche Wort. Jeder Mensch muss überall ganz selbstverständlich sein, dann wird die Welt bewohnbar. Der Streit zwischen Freiheit und Ordnung darf nicht Menschen opfern. Loyalität schließt den Tod nicht ein. Hätte Grünspan die heute zugängliche Literatur gelesen, so hätte er wissen können, dass in diesem Sinne seine Tat auch ‚falsch‘ war. Selbst wenn Tyrannenmord als Ausnahme vom Tötungsverbot bestehen bleibt, so kann man sich nicht beliebige Projektionsopfer wählen. Töten ist immer falsch, aber die Schuld am Töten kann man jetzt nicht Grünspan aufbürden, der intelligent genug war, aber nicht genug Zeit hatte, darüber nachzudenken. Grünspan wollte nicht gezwungenermaßen staatenlos sein, aber auch nicht freiwillig tatenlos. In bezug auf die Wahl seiner Mittel ist Grünspan ein Opfer des Zeitgeistes, aber für das, was er tat, gehört er auf die Liste der Weltinnovatoren. Grünspan ist der Vorkämpfer gegen jede Willkür der Behörden, die schon Hiob und Hamlet beklagten und die auch heute noch so viel Schaden anrichtet, obwohl die Behörden wissen können, dass sie Diener und nicht Herrscher sind. Auch ist er das letzte mögliche Signal gegen den Racheimpuls, der in jedem von uns als archaisches Element steckt, dem von Goebbels schon einen Tag nach Grünpans Tat brutal und alttestamentarisch nachgegeben wurde, der aber für immer geächtet ist durch die Unverhältnismäßigkeit. Das Leid wird durch Rache immer verstärkt, vergrößert. Dagegen verbessert sich das Gesamtsystem, wenn man etwas für andere tut. Das gilt sogar auch für die Grünspan-Initiative. Denn wir wissen heute, dass man Menschen nicht hindern darf, dahin zu gehen, wohin sie wollen. Leben – und wieviel mehr fliehen – heißt aber immer Risiko. Man kann das Leben genauso wenig optimieren wie Märkte, Regierungen und Wasserströme. Auch dafür ist Grünspan ein Zeuge. Er ging mit fünfzehn Jahren ohne Schulabschluss von seinen Eltern weg und es ist ihm alles gescheitert, außer in die Geschichte als leuchtendes Fanal einzugehen. In dem Punkt ähnelt er Gavrilo Princip. Auf den wenigen Fotos, die es gibt, sieht er nicht glücklich aus. Er ist gerade von der französischen Polizei verhaftet worden. Glücklichsein scheint nicht der Sinn des menschlichen Lebens zu sein, nur zu leben, ohne etwas zu tun, aber auch nicht.

Niemand von uns kann die Konsequenzen seines Handelns absehen, nur machen die meisten so wenig, dass man die Folgen vernachlässigen kann. Es wäre also fatal, wollte man die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath als voraussehbares Signal zum Holocaust deuten. Also etwa so: Hitler hätte sich nicht getraut sechs Millionen Menschen umzubringen, wenn Grynszpan[2] nicht vorher den Botschaftssekretär erschossen hätte. Das ist absurd, so kann es nicht gewesen sein, vielleicht war es nicht einmal so, dass die Nazioberen auf ein Signal gewartet haben. Dafür dass sie gewartet haben, spricht eigentlich nur der erste September 1939, wo sie den Anlass, das Signal auf perfide Weise selbst geschaffen haben. Auch zum neunten November 1938 kann man annehmen, dass Goebbels nachgeholfen hat, denn der Legationssekretär hatte außer den Schussverletzungen auch eine Krankheit, die er sich durch homosexuellen Geschlechtsverkehr zugezogen hatte. Wenn man ihn sterben ließ, und dafür spricht einiges, hatte man nicht nur einen Märtyrer mehr, sondern einen schwulen Nazi weniger. Indessen war Ernst vom Rath genauso wenig Nazi wie Grynszpan von der jüdischen Weltverschwörung beauftragt.  Vom Rath orientierte sich an seinem Onkel Köster, dem deutschen Botschafter in Paris, mit seiner kritischen Sicht auf die Nazis. Dieser Köster wurde wahrscheinlich von Hitler in Paris belassen, um dem Naziregime einen pluralistischen Anschein zu geben. Später wurde er ermordet. Grynszpan wurde von der Verzweiflung seiner ausweglosen Lage getrieben. Er hatte nirgendwo eine Aufenthaltsgenehmigung. Als er hörte, dass seine Eltern und Geschwister nach Polen ausgewiesen worden waren, kaufte er sich vom ersparten Geld eine Waffe und ging in die deutsche Botschaft. Wahrscheinlich hat vom Rath ihn empfangen, weil er das genau so sah. Grynszpan ist ein Vorkämpfer der Freizügigkeit. Eigentlich wollte er dagegen protestieren, dass seine Eltern in ein Land ihrer Unwahl abgeschoben wurden, er aber nirgendwohin konnte, denn er war auch keine Pole mehr, Deutscher schon gar nicht, in Brüssel zeitweilig geduldet, in Paris illegal. Er war ein Europäer aus Hannover, der sich nach Geborgenheit sehnte, denn als er nach dem Einmarsch der Deutschen zufällig frei kam, begab er sich in die Obhut der französischen Behörden. Er war kein Anarchist. Was mag er dann im deutschen Gefängnis und im KZ Sachsenhausen getan und gedacht haben? Er folgte jedenfalls der Strategie seines französischen Verteidigers, indem er darauf bestand, dass er gar nicht hätte ausgeliefert werden dürfen und dass er vom Rath aus homosexuellen Kreisen kannte. Das rettete ihn vor einem Schauprozess mit Todesstrafe. Rettete ihm diese Argumentation auch das Leben? Vielleicht war es aber noch ganz anders. Grynszpan hatte sich eine Waffe gekauft, um den deutschen Botschafter zu erschießen. In der deutschen Botschaft angekommen, traf er auf Rath, den er kannte und der sich das Leben nehmen wollte, weil er diese furchtbare Krankheit hatte. Rath riet ihm, ihn zu erschießen und den Botschafter zu verschonen. So haben sie beide in einem letzten Einvernehmen ihre Probleme gelöst. Wäre Grynszpan die Reinkarnation von Hiob, so hätte er überlebt. Er wäre vielleicht der US-Finanzminister geworden oder gewesen. Später glaubte er nicht mehr an Fanal und Rache, sondern an Worte. Er sagte zum Beispiel: Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meine. Er war in Satzkonstruktionen geflüchtet, denen niemand folgen konnte und sie deshalb lieber bewunderte als kritisierte. Er hatte erkannt, dass Zinsen, Schulden und Wachstum nicht nur rein quantitative Parameter sind, sondern auch durch die Qualität der dahinter stehenden Leistungen und Waren bestimmt sind. Das alles hätte er nicht wissen können, wenn er nicht an jenem siebten November den Mann erschossen hätte, der erschossen werden wollte, aber damit gelichzeitig das Fanal für die Würde des Menschen geliefert hat. Er war der moderne Hiob, der Hüter der Brüder.

[1] jiddisch für jüdischen Wohnplatz

[2] polnische Schreibweise

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HIOB ALS BOTSCHAFT

Hiob gehört zu den großen Erzählungen, die uns gleichzeitig bewegen und trösten sollen und auch können. Hiob sieht seinen Erfolg übertrieben groß und sein Leid erdrückt ihn. Sein Erfolg ist – mit Ausnahme seiner Kinder – Haben und sein Leid ist Krieg und Krankheit, also für die Zeit, in der er lebt: Sein. Er findet sich auserwählt für übergroße Not und Ungerechtigkeit. Aber er ist nicht auserwählt. Keiner ist auserwählt. Da er, wie wir alle, alles richtig gemacht hat, trifft ihn jede Strafe zu unrecht. Überhaupt: warum glaubt er denn, dass er bestraft wird. Oder: glaubt nicht jeder an seine Unschuld? Würde jeder die Schuld bei sich suchen, wären die Täter schnell gefunden.

Jede Strafe ist unrecht. Die spiegelnden Strafen waren bloße Rache, sie vermehrten das Leid, statt es zu vermindern. Auch heute noch glaubt eine knappe Mehrheit, dass Strafe gerecht sei. Daraus, dass die Untat ungerecht ist, folgt nicht, dass die Strafe gerecht sei.  Gerecht wäre vorbeugendes Verhindern  der Untat und liebevolle Wiedereingliederung des Täters. Wenn eine Wiedergutmachung am Opfer nicht möglich ist, so erhöht sie doch die Bilanz des Guten in einer Gesellschaft. Das universelle Tötungsverbot muss noch mehr  durch Waffenverbote und -ächtung unterstützt werden. In Europa und Japan nimmt die Zahl dieser Untaten drastisch ab, während sie in Ländern mit Armut und Waffen erschreckend  und fast antik hoch bleibt.

So ist es auch mit dem Lohn, dem Verdienst oder Gewinn, den man sich aus seinen Taten erhofft. Wir würden alle Hiob sozusagen überwinden, wenn wir  es verstünden, Gutes zu tun, um es sofort zu vergessen. Stattdessen erwarten wir Dank und Lohn. Es schmerzt, wenn der Verdienst zum Bettler gemacht wird. Aber der wirkliche Gewinn liegt immer im Zugewinn an Seelenfrieden. All die dilemmatischen, schier unlösbaren Probleme der Menschheit, sie nähern sich mikrometermäßig ihren Lösungen, wenn wir anderen helfen, ohne zu fragen und ohne Lohn zu erwarten. Es gibt keinen böseren Verdienst als Finderlohn. Der Lohn der Treppe ist das oben, nicht noch etwas.

 Die höchste Instanz zur Beurteilung unseres Lebens ist Gott, aber er gab uns ein Gewissen. Und deshalb muss ein jeder Mensch mit seiner Schuld leben. Niemand kann sie ihm nehmen und niemand nimmt sie ihm. In den griechischen Tragödien, die zur gleichen Zeit entstanden wie das Buch Hiob, geraten die Menschen unschuldig in schuld. Auch Hiobs Leid geht auf die Wette Gottes mit seinem Widersacher, dem Satan, zurück, liegt also nicht in Hiobs Leben. Viele Täter erschrecken vor ihrer Untat. Sie wissen nicht, wie sie dazu gekommen sind. Es gibt immer nicht nur einen Grund, warum etwas geschieht. Vielmehr benötigt man, um ein Ereignis zu erklären, mehr Gründe als man je finden kann. Das geht soweit, dass man eigentlich gar keine Warumfragen stellen kann: niemand kann sie beantworten. Zu groß ist die Masse der Gründe und Gegengründe, der Tatsachen und Rechtfertigungen.

Wir müssen in diesem Geflecht von Taten und Untaten, von Schuld und Sühne leben, wir haben keinen anderen Ort als diese Welt. So gesehen gehören Hiob und Grünspan in die große Reihe der Märtyrer. Das sind Menschen, die standhalten, obwohl sie wissen, dass sie scheitern, unter der Last fremder Schuld zusammenbrechen werden, die     das auf sich nehmen, was andere ganz offensichtlich falsch machen. Aber die anderen sind das herrschende System, sie glauben erst recht Recht zu haben. In diesem Netzwerk von Taten und Untaten hat niemand recht. Der Fehler ist nicht die einzelne Tat, sondern das bestehen auf ihr, das Rechthabenwollen, gefolgt vom Wahrheitpachten. Dann kommen schon die Kreuzzüge und dreißigjährigen          Weltkriege. Gott ist keine Burg, in der man Recht hat. Gott ist innen, nicht außen.

Das Leben folgt keiner Rechenkunst. Kein Kalkül ist möglich. Während der Pest müssen die Uhrmacher schweigen. Wir werden von dem, was wir Glück nennen, genauso überrascht, wie von dem, was uns Unglück scheint. Jähe Wendungen des Lebens sind genauso wenig vorhersehbar wie lange Strecken der Langeweile. Deshalb brauchen wir Hoffnung, Erzählung, Schlaf, Droge, Ablenkung, Trost. Die Hoffnung wird am meisten kritisiert, manche glauben gar, dass nur Narren hoffen. Hoffen hängt mit Wahrscheinlichkeit zusammen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn ist zum Glück genau so klein wie für den Blitzschlag. Die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass wir jemanden erfreuen können, ist groß, wenn  wir nur genug dafür tun. Jeder hofft zurecht, dass er ein besserer Mensch werden kann. Niemand wird zum Narren, der hofft und harrt, erzählt und tröstet, schläft oder sich betäubt, wenn die Schläge des Schicksals zu hart scheinen. Wenn Sinus das Kreuz des Lebens ist, dann ist Cosinus die Lust des Strebens.

Das Leben ist kein Kalkül. Es hat demzufolge mit Zahl und Geld nichts zu tun. Das Geld ist nur eine Projektion der Zeit, die wir zur Verfügung haben und für     etwas ausgeben. Genauso wenig ist das Leben digital abbildbar, wenn uns das     auch   Netz und Filme und Spiele immer wieder suggerieren wollen. Das Leben bleibt das Leben aus Fleisch und Blut, fragil, verletzlich, kostbar. Das Leben hat     Würde und muss seine Würde behaupten, nur die Dinge haben einen Preis. Die besten Dinge aber sind die Geschenke, die Gaben, die ebenfalls keinen Preis, sondern eine Würde haben. Der schönste Satz, den ein Mensch zu einem anderen sagen kann, ist deshalb: du musst dich nicht bedanken, denn du bist das Geschenk. Das Leben ist kein Kalkül, und das einzige, was keine Inflation hat, ist das Wunder.  

Liebe ist die weiteste und größte Lösung aller unserer Probleme und unseres Schicksals. Sie eröffnet neue, weite Horizonte, weil sie sich anderen Menschen zuwendet.  Wenn die maximale Kommunikation dadurch zustande kommt, dass ein liebendes Paar in einem leeren Zimmer schweigt, dann schließt dies aber auch die gesamte Menschheit aus. Deshalb ist Liebe, wie jeder weiß, mehr als die individuelle Liebe zwischen zwei Menschen. Liebe, die die Menschheit einbezieht, ist Nächstenliebe oder Solidarität. Jedem Menschen ist das Kindchenschema eingeboren, viele haben das Helfersyndrom. Wer kalt ist, wird erfrieren. Wem kalt ist, wird geholfen. So funktioniert Gemeinschaft, ohne die wir nicht sein können. Gehe in ein fremdes Dorf irgendwo auf der Welt: man wird dir Tee bringen und deine Schuhe trocknen! Alles, was du brauchst, um keine Angst zu haben, ist Liebe, aber alles, was du brauchst, um zu lieben, ist, keine Angst zu haben. Liebe ist aber auch geben, ohne nehmen zu wollen. Nicht zufällig stammt einer der schönsten Sätze des Weltdenkens aus einer Liebestragödie: the more i give, the more i have: je mehr ich geb, je mehr ich hab. [Shakespeare, Romeo und Julia]

Die tiefste Lösung aber für den Menschen ist der Glaube. Mit ihm und sich ist der Mensch allein. Wir glauben an etwas, das größer ist als wir, und wir bauen Häuser, die mehr sind als Schutz vor Regen und Sonne. Mit dem Tod aber können wir nur leben, weil wir nicht an ihn glauben. Es ist nicht wichtig, wie wir das, woran wir glauben, nennen, wenn es nur größer ist als wir selbst und die Summe von unseresgleichen. Hiob und Grünspan stellen sich einen Gott vor, den es nicht geben kann, der ihr Leben verwettet und verspielt. Das ist menschlich, aber nicht göttlich. Nur Ultraorthodoxe können sich den Teufel als Tatsache, aber den Frieden  als bloße Metapher vorstellen. Tiefer Friede kommt aus tiefem Glauben. Das ist die Tiefe des Menschen. Glaube ist immer einsam. Gruppe dagegen ist Therapie und auch oft nötig. Die Frage, ob Hiob wirklich glaubt oder nur aus opportunistischen Gründen seinen Glauben bekennt, ist ebenso unbeantwortbar wie universell und unnütz. Wir wissen letztlich nicht, ob jemand, der sagt, dass er uns liebt, nicht sich und seine Befriedigung meint. Wir müssen es glauben, wir wollen es glauben, wir sollen es glauben. Aber genauso wenig wissen wir, wenn wir annehmen, dass wir glauben, ob wir uns nicht Vorteile bloß von der Einhaltung der Regeln, der Traditionen und Rituale versprechen. Wer – außer Grünspan – wäre kein Opportunist?

Hiob ist die Parabel für die Inflation schlechter Nachrichten. Aber sind es auch schlechte Dinge? Ist Hiob zum Schluss nicht stark und demütig, und ist freiwillige Demut nicht der Stärke gleichzusetzen? Hiob belehrt uns, aber wir wollen ihm nicht nacheifern, im bösen nicht, aber auch im guten nicht. Aber jeder von uns kennt einen: der den Schmerz ausgehalten hat, der das böse Schicksal angenommen hat, genauso wie vorher das gute. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, der unser Leben verwetten könnte, wenn er wollte, und der den Weg jeder einzelnen Ameise vorbestimmt. Aber wir wissen und glauben, dass es unsere Aufgabe ist, nicht aufzugeben, wieder aufzustehen, dem Nachbarn zu helfen, Gutes zu tun. Es ist gleich gültig, ob wir die Aufgabe als von Gott gegeben annehmen oder mit der Muttermilch der Menschlichkeit in der Vatersprache der Güte aufgenommen oder sogar beides, das ist gleich gültig, wenn wir nur mehr tun als haben zu wollen und sein zu sollen. Wir müssen mehr sein wollen: Geber und Gabe gleichzeitig.

DIE LEHRERZIMMER

Dass die Lehrerzimmer samt ihren Schulen der Gesellschaft den Spiegel vors Gesicht halten, die Gesellschaft aber allzu gern und allzu lang die Augen verschließt, das ist trivial, wird aber seit Melanchthons Zeiten fast täglich beklagt. Doch darüber bemerkenswerte Kunstwerke zu machen, die ihrerseits den Schulen Spiegel sind und uns vielleicht, vielleicht zu besseren Eltern, Schülern und Lehrern machen, das ist so selten wie wünschenswert. İlker Çataks Drama ‚Das Lehrerzimmer‘ gehört auf jeden Fall dazu. Die junge Carla Nowak, topfit und engagiert, lehrt an einem Gymnasium Mathematik und Sport, hört, dass an ihrer neuen Schule gestohlen wird, sieht jemanden Geld aus der Kaffeekasse entnehmen und hat eine Idee aus dem neunzehnten Jahrhundert: den Täter in flagranti zu überführen. Sie präpariert ihr Portemonnaie und ihren Laptop und die Täterin geht in die Falle. Aber wir sind nicht mehr in der Vergangenheit. Die vermutliche Täterin, die Sekretärin Friederike Kuhn, verschanzt sich hinter ihrer Würde und dem Mangel an Beweisen. Sie inszeniert sich nicht als die arme Täterin, die Not leidet und Essen für ihre Kinder braucht, sondern als die gestresste, böswillig verleumdete Unschuldslämmin. Sie kann aber auch Psychopathin oder Kleptomanin sein, die nur durch die Existenz ihres Sohnes gebremst wird. Sohn Oskar, Mathe-As und Lieblingsschüler von Frau Nowak, entfaltet durch sein bloßes Dasein das Dilemma der überforschen und sichtlich überforderten Lehrerin samt ihrer Direktorin Dr. Bohm. Fast wie aus dem Baukasten erscheinen der cholerische Zyniker Liebenwerda, der vorauseilend gehorsame, überangepasste stellvertretende Direktor und die empathische Kollegin, die immer im richtigen Moment zur Stelle ist. Aber dieser Baukasten erinnert uns nur daran, dass Geschichten eben konstruiert sind, das Leben dagegen wie ein neuronales Netz von tausend Inputs getrieben, tausend nicht vorhersehbare Outputs produziert, pro Millisekunde, versteht sich. Das Schicksal in unserer Geschichte nimmt seinen Lauf, indem der kleine Oskar, es handelt sich um eine siebte Klasse, emotional auf der Seite seiner Mutter steht, bis zum Verbrechen, motivational aber auf der Seite seiner Lehrerin, denn in ihr sieht er seine Zukunft. Er genießt ihre Zuwendung, aber er misstraut ihrer Loyalität.

Das hat mit Schule nichts zu tun, die Schule ist hier nur das Abbild oder Paradigma jeder sozialen Gruppe oder gar gesellschaftlichen Gesamtheit. Selbst im Klassiker aller vermeintlichen Schulfilme, dem ‚Club der toten Dichter‘, geht es nur vordergründig um Schule und Unterrichtsmethoden, denn die beziehen sich auf Gegenstände, hier speziell auf Poesie und Prosa. Aber schnell wird klar, dass die Vater-Sohn-Tragödie von Neil, der Schauspieler werden will, aber vom Geist seines marionettenhaften Vaters in den Tod getrieben wird, die Lehrmethoden an Wichtigkeit weit übertrifft. Selbst die ein bisschen überromantische und klischeehafte Liebesgeschichte überragt die Schule, und es scheint so, als ob der zunächst nur tappende und suchende Todd Anderson, der dann mit seinem Rap über sich selbst hinauswächst, ein autobiografisches Bild des Verfassers Tom Schulman und der eigentliche Anlass für die Entstehung dieses Meisterwerks gewesen sein könnte. Die Gesellschaftskritik dieses Films steht soweit über der Schulkritik, dass man sich heute fragen kann, wie überhaupt die Vereinigten Staaten ein so innovatives, hocheffektives und uneinholbares Land geworden und geblieben sein können, mit so einem erstarrten, an Großbritannien angelehnten Elitenschulsystem. Kurz könnte man glauben, dass es doch auf Autorität und Faktenvermittlung ankäme. Aber diese Sicht ignoriert, dass es sich um eine Eliteschule handelt, dass fast alle Schüler aus Familien stammen, die ihren Kindern auch weiterhin alle Wege offenhalten können und dass der individuelle Spielraum schon allein aus der Tatsache erhellt, dass einer der Absolventen ein solch gültiges, fast schon klassisches Kunstwerk daraus zaubern konnte. So wie Goethes Werther trat auch dieses Meisterwerk zum exakt richtigen Zeitpunkt seine Reise in die Herzen der Menschen an: am Ende des Kalten Krieges, an dem wir alle, wenn nicht an das Ende der Geschichte, so doch allzu gern an den ewigen Frieden glauben wollten. Vor allem aber wollten wir an einen Bruch mit den verstaubten Traditionen glauben, alles würde sich bessern und auf Dauer gut werden. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und des gesamten Ostblocks wies den Weg in eine lichte Zukunft, aber wir übersahen dabei, dass dieser Zusammenbruch auch ein Sieg der anderen Seite war: ‚Mr. Gorbachev, tear down this wall‘ und die Mauern brachen und Millionen jubelten, aber andere Millionen sannen auf Rache,  Revanche und Revision. Ein kleiner Oberstleutnant fuchtelte in Dresden mit seiner Pistole in der Weltgeschichte herum, und schon zehn Jahre später, von uns im Freiheitstaumel unbemerkt, hatte er es geschafft, in seinem korrupten Riesenreich zu herrschen und alles umkehren zu wollen.

Aber wir hatten noch etwas anderes übersehen: Wenn wir Freiheit ernst meinen, dann müssen wir auch eine wirklich offene Gesellschaft sein. Arbeitskräfte, Asylsuchende und Freiheitsträumer waren und sind uns willkommen, bringen aber nicht nur den schönen Götterfunken der Freude mit. Von diesen Problemen handelt ein weiterer, leider wenig beachteter Schulfilm, ‚Die Klasse‘ von Laurent Cantet. Er belichtet das Problem der Demokratie. Gerade der Lehrer, der sich am meisten öffnet, der das Chaos einer Multikulti-Klasse am besten erträgt, wird das Opfer verletzter Emanzipation. Souleyman aus Mali, der nicht glauben kann, dass sein Lehrer seine Fotos wirklich gut findet und als Selbstportrait akzeptiert, kann den Widerspruch zwischen seiner ihn liebenden Mutter, seinem streng traditionellen Vater und der Demokratie und Freiheit der Schule nicht anders lösen, als er es aus seinen bisherigen Konfliktlösungen kennt: mit brutaler Gewalt, mit dem Recht des Stärkeren, der in dieser Szene eben er ist und nicht sein Vater und schon gar nicht sein Lehrer. Auch die Schulkonferenz lastet dem Lehrer sein Fehlverhalten an, das darin bestand, zwei Schülervertreterinnen als schlampig im Sinne von unordentlich bezeichnet zu haben, was diese selbstverständlich in ihre Sprache übersetzen: Prostituierte oder Promiskuitive. Dieser Film zeigt die teils harte, aber auch wieder nicht unwitzige Realität in einer Pariser (oder Berliner) Problemschule. Manchmal dringt der Lehrer kaum durch, dann wieder erreicht er einen Teil der Klasse mit seinen guten Aufgaben und seiner verständnisvollen Zuwendung. Auch seine Geduld ist bewundernswert. Aber zum Schluss wird er als ein Vertreter des ungeliebten Systems verraten und geopfert. Es gibt jedoch eine versöhnliche Schlussszene: am letzten Schultag freut sich der multikulturelle Haufen über die liebevoll gedruckten und gebundenen Arbeitsergebnisse. Man spielt zusammen Fußball.

Die Verrechtlichung und demokratische Codifizierung fast jeden Handelns  verbirgt die Tragödien und Begabungen. Der Mensch tritt hinter dem Gesetz und der Regel zurück, die er für sich, zu seinem Schutz geschaffen hat. Inzwischen verstehen auch immer weniger Menschen, Schüler, Lehrer, Eltern, Großeltern die Sprache dieser justiziablen Codifizierung. Das wird in den beiden jüngeren Filmen durch die tatsächliche Mehrsprachigkeit, besonders der Eltern, deutlich. Souleyman muss seiner Mutter die Worte des Lehrers und dem Lehrer die Worte der Mutter übersetzen und man sieht in seinem Gesicht das Ringen mit der und um die Wahrheit. Translation ist immer eine Chance zur Neuinterpretation. Alis Vater, der mit dem Verdacht gegen seinen Sohn, er wäre der Dieb, nur in seiner Muttersprache Türkisch fertig werden kann, muss erst aufgefordert werden, ins Deutsche zu wechseln, und da sagt er, und niemand ist erschrockener als sein Sohn: Ali klaut nicht. Und wenn er klaut, breche ich ihm die Beine.

Dagegen wirkt die kleine zierliche Hatice wie die personifizierte leidende Vernunft, die es jedem, auch der Mathematik, recht machen will, aber nicht kann. Sie ist eine wunderbare Metapher für unseren Gewinn durch Migration.

‚Das Lehrerzimmer‘ zeigt die Gleichzeitigkeit des Kollaterals der Ereignisse linear umgestülpt in achtzehn Schritten, die jeder traditionellen Dramatik wider-, aber der Wirklichkeit entsprechen: Es wird immer schlimmer. Schon als Frau Kuhn unter vier Augen zur Rede gestellt wird, zeigt sich der Schrecken. Sie springt in eine anscheinend vorgeübte psychische Rolle. Die Schulleiterin erkennt: Oskar ist glasklar, wir sind die Verwirrten. Ja, wir haben die Wirklichkeit mit unserem Netz von Gesetzen, Regeln, Handlungsanweisungen, Arbeitskreisen, überhaupt Gremien überzogen und verwirrt. Kaum einer traut noch seinen Gefühlen oder spontanen Intentionen. Es gibt kaum noch Initiativen und wenn, werden sie zerredet und bis zur Unkenntlichkeit verschriftlicht, schon das Wort, genauso wie ‚beschult‘ oder ‚bestuhlt‘, ist ein Ungetüm. Lehrkraft, Elternteil, Ortsteil all das sind die sprachlichen Opfer der Verrechtlichung. Kommt es dann doch zu empathischen Reaktionen wie durch die Lehrerin Carla Nowak gegenüber dem begabten Oskar, dann findet sich gleich ein wohlmeinender Kollege, der warnt: ‚Du musst den Jungen vergessen!‘

Die schönste Metapher in İlker Çataks Meisterwerk und bestem Schülerfilm seit dem ‚Club der toten Dichter‘ ist, neben Hatice, der Zauberwürfel, der perfekte Trost für einen verletzten Mathematiker. Interessant, dass noch vor dreißig Jahren Poesie als Lösung galt, jetzt aber Mathematik, vor allem in der Anwendung als IT. Aber der Schein trügt: was uns hilft sind die Geschichten im Buch, im Theater und im Kino. Danke dafür!

Und was passiert in den realen Lehrerzimmern?

In Deutschland gab es im zwanzigsten Jahrhundert einige, teils heftige Paradigmenwechsel. Sowohl 1918 als auch 1945 nannten die Menschen den Systemwechsel ‚Zusammenbruch‘ statt Aufbruch. Trotzdem ging das Leben weiter. Am erstaunlichsten war, und das zeigt die Trägheit jedes Systems, dass wenige Wochen nach der absoluten militärischen und politischen Niederlage erstens die Rentenzahlungen wieder aufgenommen werden konnten, und zweitens aber der Schulunterricht. 1945 gab es sogar zwei verschiedene Modelle: im Osten wurden alle belasteten Lehrer, soweit sie erkennbar waren, entlassen und so genannte Neulehrer im Schnellverfahren ausgebildet, im Westen dagegen setzte man auf den angeborenen Opportunismus der Beamten. Aber auch die Aufbrüche von 1933 und 1989 sind in ihrer Tiefe nicht zu unterschätzen. Die Lehrerschaft hängt zwar finanziell und geistig am jeweiligen Staat, hat aber auf der anderen Seite ein lebendiges, stets fragendes, auf Zuwendung und Sicherheit angewiesenes Gegenüber, die Schüler. Ohne Eid und Schwur kümmern sich zu allen Zeiten die Lehrerinnen und Lehrer überall um die ihnen anvertrauten Kinder. Dies gilt auch in Perioden der Kritik. Selbst die völlige Verkehrung des Eltern-Lehrer-Kinder-Verhältnisses durch staatliche Übergriffe (Honecker-Effekt) oder Helikoptereltern (double income, one kid) können an dem insgesamt positiven Bild kaum etwas ändern. Es gab immer auch verheerende Beispiele schwarzer Pädagogik wie Prügelorgien, Demütigungen und Suizide auf beiden Seiten der didaktischen Barrikade. Und trotzdem: trotz wachsender Weltbevölkerung und in einigen Ländern wachsender Zuwanderung bleibt das Gesamtklima der Schule stabil. In Deutschland leiden wir zusätzlich noch unter quälender Untätigkeit der im Föderalismus gefangenen Bildungspolitik, deren Wahn zu glauben, dass Bildungsreform gleich Schulreform ist, nur dazu führte, dass es inzwischen etwa siebzig Schultypen gibt. Auch das seit der Zeit vor dem ersten Weltkrieg mehr als umgekehrte Verhältnis der Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern besonders in der Grundschule ändert nichts an der positiven Grundierung der Schule.

Sie beruht vermutlich auf dem von Konrad Lorenz 1943 entdeckten Fürsorgeprinzip, dessen Auslöser er Kindchenschema nannte. Entgegen seinen teilweise sozialdarwinistischen Ansichten aus der Nazizeit beschrieb er an der berühmten Graugans eher antirassistisches und solidarisches Verhalten, wofür er 1973 den Nobelpreis erhielt. Dagegen ist die von ihm befürchtete ‚Verhausschweinung‘ des Menschen, seine Verwahrlosung und Kriminalisierung nicht nur nicht eingetreten, sondern hat sich als Nachkriegsverhalten herausgestellt, das dem Wohlstand, der Demokratisierung und Liberalisierung wich.  

Auch in frühen Gesellschaften gab es schon eine Fürsorge-Delegierung etwa in der Großfamilie, bei der Jagd oder bei Initiationsriten. Schule ist so gesehen eine uralte Institution. Niemand wird bestreiten, dass die Schule für extrem Begabte und extrem Unbegabte teilweise schwierig zu durchlaufen ist, so dass diese Minderheiten oft trotz und nicht wegen der Schule das Leben bestehen. Niemand wird bestreiten, dass es unbeliebte, inkompetente und böswillige Lehrerinnen und Lehrer gibt. Aber ebenso wird kaum jemand bestreiten, dass er oder sie einen Lieblingslehrer und/oder eine Lieblingslehrerin hatte. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass in der Schule, in welcher Form auch immer, ein zweites, ebenfalls von Konrad Lorenz entdecktes, imprinting stattfindet. Da Schule meist in der Jugend stattfindet, verbinden sich die Erinnerungen an die Schule symbiotisch mit den typischen Jugenderlebnissen und werden oft als sehr positiv empfunden. Selbst so scharf ablehnende und schulkritische coming-of-age-Romane wie ‚Unterm Rad‘ und ‚Der Fänger im Roggen‘ beruhen auf dem klassischen bürgerlichen Bildungsideal, davon abgesehen, dass sie nicht etwa outlaw-Lektüre, sondern absolute Klassiker des Bücherkanons sind.

Deshalb sollte bei allem erkannten Reformstau und bei aller Kritiknotwendigkeit nicht übersehen werden, dass die Schule nicht nur ein bewährtes Mittel der Bildung, sondern ein Motor der Gesellschaft ist, dass Milliarden Kinder weltweit in die Schule gehen und dort nicht etwa nur Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch Toleranz, Solidarität, Empathie, Inklusion, Ehrfurcht vor dem Leben, Demut und Mut lernen. Das wird tagein, tagaus von Millionen Lehrerinnen und Lehrern motiviert, gemanagt und beaufsichtigt. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die zehn oder zwanzig Kilometer Fußweg zur Schule täglich absolvieren, und es gibt nach wie vor Lehrer, die es schaffen fünfzig oder gar achtzig Schülerinnen und Schüler bei guter Laune zu erhalten.

Vor einiger Zeit hingen in Mecklenburg-Vorpommern überall Plakate, auf denen stand, dass Bauer der wichtigste Beruf der Erde sei. Aber irgendwo hat der Bauer auch schreiben gelernt, irgendwohin geht er, wenn er krank ist, irgendjemand holt seinen Müll. Solche rankings sind natürlich unsinnig. Aber es ist schon sinnvoll, wenn wir uns, besonders durch Geschichten, hin und wieder an unsere und unseres Nachbarn Stellung in der Arbeitsteilung erinnern.

Insofern ist der kleine Oskar aus der siebten Klasse des Gymnasiums im Film ‚Das Lehrerzimmer‘, dessen Titel eine Fortsetzung von ‚Frau Müller muss weg‘ befürchten ließ, die Metapher für die neuen Widersprüche und die alten Stärken der Uralteinrichtung Schule. So zerrissen das Lehrerkollegium auch erscheinen mag – und in der Realität auch oft ist -, so zeigt sich doch: Ziel des Tuns der oft verächtlich ‚Lehrkräfte‘ genannten Wunderheiler ist der Schüler Oskar. Er wird seine Mutter durchschauen oder im besten Fall sogar bessern. Die Geschichte zeigt auch, dass wir oft, meist sogar, nur einen Bruchteil eines Vorgangs erkennen können. Er wird, sollte er Mathematiker werden, ab seinem siebzehnten Lebensjahr nicht mehr mit uns kommunizieren können, aber mit siebenundzwanzig den berühmten Satz des… bewiesen oder widerlegt oder entdeckt haben. Ziel ist aber auch Hatice, dieses liebenswürdige Geschöpf des Ausgleichs und des sozusagen ewigen Friedens. Aber auch mit den zeitweilig als Ekel erscheinenden Mitmenschen müssen wir auskommen, und viele Lehrer sind da leuchtende Vorbilder. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, die Schule ist der sprechendste Ort für diese These.

Der Film ‚Das Lehrerzimmer‘ lässt sie alle sprechen. Eine Geschichte bricht das Schweigen der Dinge und Prozesse. Aber eine Geschichte ist oft auch nur ein Blitzlicht auf einem weißen Blatt. Wir gehen nach Hause und überlegen von diesem Moment an neu.

DAS PIUS-PARADOXON

Vielleicht ist das ganze Leben nichts anderes als ein Wechselbad von Regeln und Freiheitssehnsucht. Jedenfalls glauben die Fanatiker an die Ordnung, die sie eben damit zerstören, und die Freidenker nehmen die Ordnung hin, obwohl sie die Freiheit behindert. So geht der Kampf seit Jahrhunderten hin und her.

Dabei kommt es immer wieder zu kontroversen Konstellationen: das Gedankenwerk des größt-denkbaren Freidenkers (‚wenn du deine Feinde liebst, hast du keine mehr‘, ‚wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‘) wird in riesige Kathedralen und auf morsche Katheder verbannt und von einer krakenartigen Hierarchie steinalter Männer verwaltet. Solange sie die Macht und Kraft dazu hatte, verbrannte und erwürgte sie jeden einzelnen Gegner. 1209 wurden die Katharer aus Carcassonne vertrieben und erschlagen, 1336 wurden in der uckermärkischen Kleinstadt Angermünde Waldenser verbrannt, die Bogumilen in Bosnien gingen spätestens 1481 im Islam der türkischen Eroberer auf. Mit dem Aufscheinen der Moderne im neunzehnten Jahrhundert stand der altertümlich an der alten Ordnung festhaltende Klerus vor einer neuen Herausforderung, und seine Antwort war paradigmatisch und hieß Pius IX. Er war kein Visionär, noch nicht einmal im negativen Sinne, kein Fanatiker. Aber er glaubte fest an alles Alte. Gott spielte dabei eigentlich keine Rolle. Er setzte das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der Maria durch. Statt also endlich die Kirche aus dem Bett herauszuhalten, schob er sie tiefer hinein. Das Ergebnis ist der massenhafte Missbrauch. Weiter, und noch wichtiger, prügelte er gegen eine schweigende Mehrheit das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes zusammen mit dem Jurisdiktionsprimat durch. Gemeint war zwar nur die theologische Lehrmeinung, aber sein Satz, dass, wer dem widerspräche, ausgeschlossen würde, ist zum Programm der Ordnungsfanatiker geworden. All die Lager und Gefängnisse des zwanzigsten Jahrhunderts sind Orte der Exkommunikation. Auf der anderen Seite: wer alle ausschließt, steht zum Schluss alleine da. Uns sollte nicht die Pervertierung des Christentums kümmern, die darin begründet liegt: Ausschluss statt Integration, sondern überhaupt die Desintegration als die verkehrtest mögliche Methode zur Aufrechterhaltung der Ordnung.

Die Ordnung macht nur Sinn und ist nur aufrechthaltbar, wenn sie freiwillig ist. Peitsche und Freiheit schließen sich aus, ja sogar schon Peitsche und Leben. Schwarze Pädagogik kann nur in einer Welt der Gefängnisaufseher enden. Kleriker, Mathematiker und Karussellbetreiber können die Welt nicht verstehen oder gar lenken, weil sie Regelwerke und Wegweiser und letztlich Gefängnisse bauen und sich mit ihnen im Kreise drehen. 

Die gegenwärtige Hochkonjunktur des Autoritarismus ist eine Fehlwahrnehmung. Die sagenhafte Urordnung mag Freiheit gewesen sein, das Paradies. Aber alle sichtbaren Ordnungen vor uns sind hierarchisch und autoritär, weshalb die Ordnungsfanatiker glauben, dass der Urzustand Ordnung war. Aber das ist evolutionär kaum denkbar. Die Frage ist also, ist Freiheit Fiktion, Fakt oder Ideal? Die Ordnung kann kein Ideal sein, weil das jede Entwicklung und Widersprüchlichkeit, die Konkurrenz, den Wettbewerb, letztlich die Fiktion ausschlösse. Erfindung und Tatsache sind im Ideal vereint, das der Findung dient, aber nicht mit ihr identisch ist. Das Ideal ist der Wegweiser, der Weg aber ist Freiheit. Das lehrt schon die Gemeine Stubenfliege (musca domestica) am Fenster.

Was hat nun dieser unsägliche und selbstverständlich unselige Papst mit uns zu tun? Er kann uns triumphieren lassen: die Tage der Diktatoren sind gezählt, wenn auch leider nur einzeln. Die Autokraten, die Beherrscher lediglich der Regeln und der Zitate, schädigen bedauerlicherweise nicht nur ihre vermeintlichen Feinde, sondern erfreulicherweise auch sich. So wie Pius IX. ausdrücklich den Ausgang aus der Kirche öffnete, so zerstören alle Autokraten und Hierarchen den inneren Zusammenhalt der Gesellschaften, denen zu dienen sie lediglich vorgeben. Tatsächlich hat keiner aus dieser Klasse ein tausendjähriges Reich begründet, wovon sie aber alle geträumt haben. Alexander Dugin zum Beispiel, der Hausphilosoph Putins, glaubt, dass die chinesische Zivilisation ‚den Triumph des Klans, des Volkes, der Ordnung und Struktur über jegliche Individualität‘* darstellt. Aber ein paar Seiten später wird Russland zum ‚bedeutendsten Pol des großen Erwachens‘, das seine imperiale Mission wiederentdecken muss. Wir zitieren das nur, um die eigenartige, personalisierte Geschichtsauffassung autoritärer Herrschaft zu zeigen. Einerseits schreibt Dugin, dass der russische Kollektivgeist sich bewusst für den Byzantinismus entschieden hat und bemerkt nicht die unfreiwillige Ironie. Andererseits beschwört er die wiederum bewusste Entscheidung für eine entliberalisierte und entglobalisierte russische Welt. Dugin glaubt sich als Lenin der Gegenwart, vergisst aber dessen Schicksal.

Im Gegensatz zu den Despoten und ihren Zitateverwaltern können wir nicht die Zukunft voraussagen. Wir sehen aber ein deutliches Auf und Ab und Hin und Her zwischen Ordnung und Freiheit, Autokratie, die Allwissenheit voraussetzt und imitiert – man beachte die handschriftlichen Notierer, die dem genialen Führer des nordkoreanischen Volkes, Kim Jong Un, auf dem Fuße folgen -, und Liberalismus, der bisher immer mit Wohlstand, Bildung und Demokratie einherging. Das wirtschaftliche Versagen aller Diktaturen rührt aus dem Mangel an Freiheit, der der Feind jeder Idee ist. Wer Kollektivismus zur Staatsdoktrin macht, muss sich über Orwellschen Überwachungswahn und kollektiven Schlendrian nicht wundern. Die Mängel der Demokratie – Langsamkeit, Entscheidungsschwäche, Unübersichtlichkeit – resultieren aus ihrem Erfolg. Der Despot muss schnell zurückschlagen und kann alle Fehler (mit neuen Fehlern) korrigieren. Die Demokratie muss es sich leisten, mehr als hundert Jahre an einem Gesetz zu arbeiten, denn sie will alle mitnehmen. In einer Krise ist das allerdings gefährlich. Wenn man beklagt, dass der Demokratie Menschen als Wähler oder Befürworter verloren gehen, dann muss man aber auch bedenken, dass in fast allen Autokratien Menschen erschossen oder vergiftet, hingerichtet oder wenigstens inhaftiert werden.

Papst Pius IX. ließ übrigens im Vatikan vermeintliche Spione hinrichten, er deckte den letzten Raub eines jüdischen Kindes, das zwangsgetauft wurde. Dabei blieb er ein freundlicher alter Mann, aber eben auch der oberste Katholik, der so böse war. Es wird immer ein Rätsel bleiben, wie man behaupten kann, an Yesus zu glauben und dann zum Vorbild für Despoten und Schlächter zu werden. In meiner Bibel steht: VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN. Aber der böse Pius muss wohl eine andere Bibel gehabt haben.      

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*DUGIN, Das große Erwachen gegen den Great Reset, London 2021, S. 42

NEUE WELT PRENZLAU

Vor fünfhundert Jahren wurden die fünftausend Prenzlauer von über hundert Geistlichen betreut. Das waren natürlich nicht nur liturgische Dienste, sondern auch erzieherische, soziale und seelsorgerische. Prenzlau hatte damals, nach der Stadt Brandenburg, die höchste Anzahl von Kirchen im Land Brandenburg, nämlich sieben. Die Institution Kirche war einst das, was heute der Sozialstaat, das Bildungswesen, Kunst und Kultur sind. Trotzdem und obwohl es keine größere Einwanderung gab, war die Bevölkerung nicht homogen. Seit 1244 gab es in Brandenburg Juden, in Prenzlau seit 1309, die als fremd angesehen wurden, weil sie einen anderen Glauben hatten und eine fremde, wenn auch sehr verwandte Sprache benutzten. Es gab Roma, die ihre fremdländischen Sitten geradezu feierten und in deren Händen der Pferdehandel, die Kesselflickerei und die Unterhaltungsmusik lagen. Es gab die Jenischen und die Sinti, wenn auch mehr im Süden und in der Schweiz. Und es gab Rotwelsche, das waren outlaws, die sich ebenfalls einer Geheimsprache, eben des Rotwelschen bedienten. Sie traten als Landstreicher und in Räuberbanden auf. An die Häuser machten sie geheime Zeichen, die Zinken, die ihren Nachfolgern mitteilten, ob etwas durch Betteln oder Stehlen zu holen sei. Auch die Straßentheaterleute, die Spieler und Gaukler, waren fahrendes Volk. Sie alle wurden als Wohltat und als Bedrohung wahrgenommen. So wie heute auch alle Fremden.   

Die Welt mischt sich immer wieder einmal neu. In Prenzlau befand sich wenige Meter von der Marienkirche entfernt, ungefähr da, wo die immer noch vom letzten Krieg gezeichnete Jakobikirche heute eine Fahrradwerkstatt für Flüchtlinge aus der ganzen Welt unterhält, ein slawisches Heiligtum. Mal nahm man an, dass die Slawen sich dem einwandernden Deutschtum willig assimilierten, weil sie es als technisch überlegen erlebten, dann wieder überwog die Ansicht, dass sich die Slawen erbittert der deutschen Ostexpansion und der damit verbundenen Zwangschristianisierung widersetzen. Kein Mensch kam bisher auf die Idee, dass es weder die Slawen noch die Deutschen gegeben hat. Es gab ganz sicher Slawen, die mit den Deutschen kooperierten, es gab die Anführer des großen Slawenaufstandes von 948 sowie die weinenden Mütter am Straßenrand, und es gab ganz sicher Slawen, denen alles ganz egal war. Es gab Deutsche, die den Osten kolonisieren und christianisieren wollten, was sich nach christlicher Ansicht ausschließt, es gab Deutsche, die einfach vor ihrem gewalttätigen Vater geflohen sind, andere wieder fanden die Mädchen der Slawen attraktiv, es gab Deutsche, die waren gar keine Christen, andere wieder waren gar keine Deutschen. Das war die Lage vor tausend Jahren.

Am Ende des zweiten Weltkriegs brennt die Marienkirche, einer der wuchtigsten und schönsten Kirchenbauten Nordeuropas, nieder, nicht von alliierten Bombern getroffen, sondern sozusagen mit diffuser Täterschaft entzündet. So wie auch viele Dorfkirchen in der Umgebung kann die einheimische Bevölkerung, ähnlich wie die Massenselbstmorde vor allem von Frauen in Demmin, in einer Mischung aus Angst und Selbstbestrafung, die Kirche als mächtigstes Symbol der gesamten Vergangenheit (außer der slawischen) selbst in Brand gesteckt haben. Wahrscheinlicher ist natürlich, dass SS oder HJ oder beide die Kirche als letzte Selbstverteidigung geopfert haben. Das wäre sinnlos gewesen, aber der ganze Krieg war sinnlos. Anklam wurde am selben Tag von der Nazi-Luftwaffe zerstört, weil es sich kampflos ergeben wollte wie die Nachbarstadt Greifswald, warum soll nicht Prenzlau von der SS geopfert oder bestraft worden sein? Jahrzehntelang wurde behauptet, dass die ankommenden Russen die Kirche und die Stadt nicht ertragen konnten und sie deshalb sinnlos (sinnlos?) zerstört haben. In der Zwischenzeit lebten in Prenzlau neben der assimilierten ehemaligen slawischen Bevölkerung natürlich die Deutschen, aber auch zeitweilig fast ein Viertel Juden, dann aber im achtzehnten Jahrhundert auch ein Drittel Franzosen. Immer gab es viele Polen, denn Polen war nicht nur nie verloren, sondern immer auch ganz nah, ob nun mit oder ohne Grenze. 1929 kam eine große Gruppe von wolgadeutschen Mennoniten, die auf dem Roten Platz in Moskau so lange demonstriert hatten, bis sie nach Deutschland ausreisen konnten. Sie kamen ausgehungert und verwahrlost in Prenzlau an und die Überlebenden wanderten weiter nach Paraguay aus. Nach dem letzten Krieg kamen viele Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, zu Fuß auch solche aus der Batschka, der deutschen Insel in Kroatien. Bevorzugt kamen auch Siebenbürger Sachsen und Rumänen nach Prenzlau. In den neunziger Jahren gab es so viele Russlanddeutsche in Prenzlau, dass der Zeitungskiosk im Kaufland zwölf russischsprachige Zeitungen führte. Im Jahr 2015 hat Prenzlau ziemlich geordnet und fast vorbildlich etwa 1000 Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen, untergebracht, in der deutschen Sprache unterrichtet und ihnen den einen oder anderen Sinn für ihre Freizeit und Freiheit gegeben.

Wer definiert jetzt bitte, wer oder was ein Prenzlauer oder ein Deutscher ist? Jedes Land ist ein ständiges Auf und Ab, ein Kommen und Gehen, so wie es in einer Familie auch ist. Ernest Renan, ein eher rechter Autor, nannte die Nation ein fortwährendes Plebiszit.

Viel merkwürdiger als die verschiedenen Gruppen der Alt- und Neubürger – inzwischen sind die Stettiner und Batschkadeutschen Altbürger und Salinger, eine Familie auf dem vorbildlichen jüdischen Friedhof im Süßen Grund, das klingt gut, ist aber zwischen der Bahnlinie und der Bundeswehrkaserne, die – ich finde es falsch, das so zu nennen – laut Uckermarkkurier – eine transsexuelle Kommandeurin hat, Salinger ist ein weltberühmter, toter, äußerst skurriler Dichter in den USA, viel merkwürdiger sind die neuen Nationalisten, die ständig auf ihr Land kotzen möchten. Es ist zu vermuten, dass sie sich auf das berühmte Zitat eines berühmten Berliner Juden beziehen, der, als die Nazis die Macht übernahmen, gesagt hat, dass er nicht so viel essen könne, wie er kotzen möchte. Er hat es wohl eher als Berliner gesagt, aber vielleicht als Jude gedacht. Es ist schwer zu glauben, dass er ein jüdischer Maler war, denn er hat keine jüdischen Sujets gemalt. Die Bundeswehrkommandeurin ist auch nicht in Prenzlau, um sexuelle Abenteuer zu erleben – das dürfte auch sehr schwer werden -, sondern um die NATO-Dienststellen in Stettin mit Nachrichtentechnik zu versorgen. Es werden neuerdings Attribute verteilt, die nicht mitteilungsrelevant sind.

Die neuen Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, sondern die Vergangenheit, haben genau die tausend Jahre als Richtschnur gewählt, die auch Hitler und Himmler vorschwebten. Wie wir alle wissen, haben sie dieses Ziel verfehlt. Der Krieg ging verloren, wir sagen zum Glück, aber selbst wer es als Unglück empfindet, muss es eingestehen. Demzufolge muss man doch fragen dürfen, welche Vergangenheit sich die Nationalisten, die ihr Land nicht lieben, zurückwünschen. Im Kaiserreich gab es bittere Not, Hunger und Kinderreichtum, von dem die neuen Nationalisten annehmen, dass er ein Geschäftsmodell der Flüchtlinge sei. Die Neudeutschen haben nicht nur keine Kinder mehr, einige von ihnen halten Kinder auch nicht für etwas beglückend Schönes, einen Lebenssinn vor allen anderen, sondern für ein Geschäftsmodell. Gleichzeitig schimpfen sie auf den Kapitalismus. Sie halten uns – als Deutsche – für dumm, obwohl unsere Volkswirtschaft die viertstärkste der Welt ist. Ständig preisen sie Polizeistaaten mit ihren Unrechtssystemen und fordern strenge Bestrafungen nach dem Vorbild Saudi Arabiens, Irans und Chinas, obwohl sie und wir alle in einem der sichersten Länder der Welt mit sinkender Kriminalität leben. Die Kriminalität sank auch 2015 und vor allem 2016 weiter, obwohl angeblich so viele potenziell kriminelle Neubürger hinzukamen.

Nach der neuerlichen Aufzählung der Menschen, die in einer relativ kleinen Stadt wie Prenzlau in den letzten tausend Jahren hinzukamen und wegwanderten – ich erinnere an New Prenzlau in Queensland und die superreiche Familie Salinger -, kommt man eher zu dem Schluss, dass die ständige neue Mischung von Menschen normal und wünschenswert ist, jedesmal aber mit Vehemenz von einer winzigen verbohrten Minderheit vergeblich bekämpft wird. Natürlich kann man Nörgeln nicht verbieten, Polizeistaaten versuchen es immer wieder, aber man kann es als lästig empfinden. Die mutigen Menschen leben in den Flüchtlingsheimen, nicht draußen.

Nach acht Jahren sind alle Voraussagen eingetroffen: die weltweite Migration hält an, und ein sehr kleiner Teil davon betrifft auch die Festung Europa, die sich ungerne aufstören lässt in ihrem Reichtum, in ihrer Bequemlichkeit, die schnell zur Behäbigkeit wird. Die ultralinken Kapitalismuskritiker, also die Kinder der behäbigen Europäer, schreiben gerne mal an die Bahnhofswände: your comfort zone will kill you. Nun wird bei uns in Deutschland wieder der Platz knapp, in Berlin werden abermals Turnhallen geopfert. In der kleinen Stadt Prenzlau steht ein Bürogebäude fast leer. Es mag nicht besonders gut geeignet sein als Erstaufnahmeeinrichtung. Aber die Gelegenheit, das neben dem Asylbewerberheim gelegene Kasernengebäude am Südend, damals vor mehr als zwanzig Jahren gleich mit zu erwerben und langsam zu sanieren, dann stünde es jetzt zur Verfügung, diese Gelegenheit ist verpasst worden. Gern warten die Staatsbürokraten auf die Spekulanten, um sich von ihnen dann vorführen zu lassen. Was nun vorgebracht wird, sind keine wirklichen Argumente, sondern die seit dem Mittelalter virulenten Ängste und Vorurteile. Zum Beispiel soll es in der Grabowschule, die es sicher schwer hat, Klassen mit einem Ausländeranteil von 70% geben. Das ist für die Lehrer herausfordernd. In solchen Klassen müssten mindestens zwei Lehrer oder die Klassen müssten geteilt sein. Aber komischerweise kommt niemand von den Obernationalisten auf die Idee, dass es bei 30% Schülern die Klasse und wahrscheinlich die ganze Schule gar nicht mehr geben würde. Ein paar Dörfer weiter gibt es einen sehr schönen Spielplatz. An seiner Stelle stand da einst eine Plattenbauschule. Und die Dorfbewohner entblöden sich nicht zu jammern, dass man ihnen die Schule genommen hätte, obwohl man von diesem Spielplatz den Schulbus kommen sehen kann. Ihm entsteigen vier Kinder, im nächsten Bus vielleicht noch einmal vier. Der Zusammenhang wird – nicht böswillig, sondern leichtfertig und absolut gedankenlos – geleugnet. Der Merksatz dafür scheint zu lauten: Damals war alles richtig. Heute ist alles falsch. Und die Partei, die genau das sagt, wird gewählt. Es ist nicht schwer vorauszusehen, dass die Wagenknechtpartei mit ihrem Programm KONZERNEZERSCHLAGEN&MIGRATIONSTOPPEN ebenfalls Erfolg haben könnte. Allerdings glaube ich, dass Wagenknecht, deren rhetorische Fähigkeiten man früher mit dem Titel Maulheldin qualifizierte, erneut an den organisatorischen Schwierigkeiten scheitern wird. Irgendwann geht das Paar Lafontaine-Wagenknecht ins Guinness-Buch der Rekorde mit den meisten zerschlagenen Parteien pro Kopf ein. Statt in talk shows sind sie dann nur noch in Satiresendungen zu sehen. Auch die AfD hat zehn Jahre und fünf Führer gebraucht, um das heutige Niveau zu erreichen.

Obwohl der größte, widerlichste und verbrecherischste Sozialdarwinist gescheitert und suizidal geendet ist, haben weiterhin alle Autokratien und auch die Parteien, die eine Autokratie anstreben, die Vorstellung von der sozusagen automatischen demografischen Lösung aller Probleme. Obwohl sich immer wieder zeigt, dass die meisten demografischen Herausforderungen Bildungsprobleme sind, obwohl selbst die intendiert gutwilligsten und gleichzeitig praktisch böswilligsten Eingriffe in die Demografie – Indira Gandhis Zwangssterilisationen und Deng Xiaopings Einkindehe – katastrophal gescheitert sind, gibt es weder bei den Autokraten noch bei ihren Nachplapperern ein Einsehen. Fast jeder Mensch ist gut bildbar, man muss ihn nur genügend und effektiv fördern. Ich halte den berühmten Spruch ‚fördern und fordern‘ für zumindest verkürzt, wenn nicht falsch. Immer wieder zeigt sich, dass ein Kind für seine Entwicklung maximale Förderung braucht. In Südkorea, einem äußerst reichen und sehr erfolgreichen Land, zerbricht die relativ größte Anzahl Jugendlicher an vielleicht gutgemeinten, aber weit überzogenen Forderungen. Die beste Förderung von Kindern ist LEGO & LESEN.

Indessen ist Prenzlau nicht der Mittelpunkt der Welt, deren Probleme hier auch nicht gelöst werden können. Der Bundespolitik muss man vorwerfen, dass sie zu wenig unternimmt, um den Kommunen, Landkreisen und Ländern zu helfen. Unter helfen darf man nicht nur Geld, sondern muss man auch Geist verstehen, Argumente, Erklärungen, die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten. Dann würde endlich dem Eindruck widersprochen, dass auch die gegenwärtige Bundesregierung den Dingen einfach ihren Lauf lässt, in Analogie zu Kohls und Merkels ‚aussitzen‘. Allerdings darf man die Motivation von Merkels Satz ‚Wir schaffen das‘ nicht unterschätzen, er hat leider auch die Gegenkräfte zum Gegenteil ermuntert. Aber besteht der allgemeinste Irrtum nicht darin, stets das Gegenteil nicht genügend mitzudenken? Die Weltpolitik scheint im Moment nicht zu koordiniertem Verhalten befähigt. Sie ist, wie im Kalten Krieg, nun aber mehrfach gespalten: G7, G20, Brics, EU, AU, NATO. Zwar gibt es viele Überschneidungen, aber auch harte Abgrenzungen. Nur die Schwäche Russlands verhindert höchstwahrscheinlich einen dritten Weltkrieg.

Neuerdings gibt es in Prenzlau auch Ukrainerinnen und Ukrainer, im Gymnasium gibt es sogar eine ukrainische Klasse. Sie werden noch weniger angefeindet als die Flüchtlinge von 2015/2016. Das ist ganz im Sinn der alten Migrationstradition dieser kleinen Stadt, die sich endlich auch aus dem Grauingrau der DDR erhoben hat. Selbst der Dreke-Ring wird bunt. Dagegen wehrt sich die WIRWOLLENNACHGESTERN-Partei. Aber das Rad der Geschichte lässt sich bekanntlich nicht aufhalten. Es dreht sich wie das Mühlrad aus dem Lied: di redern drejen sich, di joren gejen sich…, das vielleicht Nathan Mamlock aus der Steinstraße 15 vor sich hin gesummt hat, als er wieder einmal von seinen Mitbürgern, die gern bei ihm im Hinterstübchen ein Glas zu viel tranken, denunziert worden war.      

Foto: rochusthal

Neue Prenzlauer vor den slawisch-deutsch-christlich-jüdisch-französisch-polnischen-russland- und batschkadeutschen Orten, deren Ururenkel womöglich einst Meier oder Schmidt heißen werden.

Der Text von 2016 wurde überarbeitet, aktualisiert und erweitert.