DURCHDRINGUNG IST DAS GEGENTEIL VON KONFRONTATION

 

(Wann wir auch der Zeitpunkt kommen, da es nur Menschen geben wird?)

Nr. 384

jedes denken ist wunsch

jeder glaube ist irr

 

Das Wort ‚Irrglaube‘ beinhaltet doch schon die Konfrontation, denn es geht davon aus, dass es einen Glauben gibt, der verifizierbar und alleingültig ist und übersieht, dass es dann kein Glaube mehr ist. Genauso verhält es sich mit dem Unwissen. Es bezeichnet doch nur die Abweichung von einem definierten Wissenskanon. Kein Abiturient von heute hätte 1920 das Abitur bestehen können, kein Abiturient von 1920 würde heute das Abitur bestehen, was vielfach von denen bestritten wird, die glauben, dass früher alles besser war. Ein Dakota-Indianer vor zweihundert Jahren wusste Gigabyte mehr über die Natur als jeder heutige Nerd. Wen wir als dumm bezeichnen, kann doch mehr über ein Geheimnis wissen, von dem wir noch nie gehört haben. Und der Glaube versetzt Berge, steht an einem Haus in der Berliner Brunnenstraße, denn das Haus stand einst in einem anderen Land.

Leider haben die drei monotheistischen oder abrahamitischen Religionen am krassesten dazu beigetragen, aus jedem Glauben einen Irrglauben zu machen, einfach durch Denunziation des anderen. Wer annimmt oder verkündet, dass der Wesensinhalt von Glauben darin besteht, bestimmte Rituale minutiös einzuhalten, diskriminiert doch jeden, der sie nicht einhält mindestens als Sünder, weitestens als ungläubigen Feind.

Dabei hätte die Berufung auf den gemeinsamen Stammvater Abraham das Gegenteil bewirken müssen, zumal er derjenige war, dessen Geschichte die Ablösung der Menschenopfer durch die Tieropfer erzählt. Nach der biblischen Überlieferung befahl ihm eine Stimme, seinen sechzehnjährigen Sohn Isaak zu opfern. Er fesselte ihn auch tatsächlich und setzte das Messer an die Kehle seines angeblich geliebten Sohnes. Im letzten Moment greift Gott – wörtlich – ein und schiebt die mordende Hand beiseite. Beide opfern dann ein Schaf. Wenn man keiner der drei Religionen, die das feiern, angehört, dann kann die Botschaft lauten: man muss, um vermutete oder geglaubte transzendente Mächte zu beruhigen, keine Menschen, seien sie geliebt oder ungeliebt, schuldig oder unschuldig, gläubig oder ungläubig, ermorden. Stattdessen soll man sich an das fünfte Gebot erinnern und die noch frühere Forderung beachten, seines Bruders und seiner Schwester Hüter zu sein. Das ist allgemeinmenschlicher Konsens. Es gibt keine relevante Kultur oder Religion, die dem widerspricht. Vom Tötungsverbot erlaubte Ausnahmen dienen immer nur dem Zeitgeist: Todesstrafe, Tyrannenmord, Krieg. Komplizierter als die Gewährleistung des Lebens ist die Gewährung der Freiheit. So wird in der Utopie des später hingerichteten Thomas Morus die Sklaverei als gängige Strafe eingesetzt, die Todesstrafe jedoch verboten. Die Katholiken verehren Morus, weil er Katholik blieb und ein Kontrahent Martin Luthers war, die Anglikaner verehren ihn, weil fromm blieb, die Kommunisten verehrten ihn, weil er – theoretisch – das Eigentum abschaffte, die Politiker verehren ihn wegen seines diplomatischen Geschicks. Die Feministinnen und Feministen sollten ihn hochschätzen, da seine Tochter – dank seiner Erziehung – eine der gelehrtesten Frauen Europas war. Und was hat es ihm genützt?

Abraham hat also aus heutiger Sicht das Menschenopfer verunmöglicht, so wie Ödipus den Inzest, den er nicht bewusst und willentlich einging, verdammte. Das Inzestverbot erscheint uns heute als natürliche Ordnung, obwohl es immer wieder – allerdings statistisch nicht signifikant – überschritten und nicht in allen Ländern der Welt mit juristischen Mitteln verfolgt wird. Eine solche Erzählung scheint es gegen die Polygamie nicht zu geben, weshalb sie sich – trotz abschreckender Beispiele – als Vorstellung bis in die Gegenwart erhalten hat.

Statt also die Urgeschichten von Abraham als Band der Gemeinsamkeit zu verstehen, wurde deren unterschiedliche Auslegung als gegenseitige Definition von Glauben und Irrglauben benutzt. In dem Sinne ist jeder Glaube ein Irrglaube: von der anderen Seite her gesehen. Aber diese Kritik betrifft nur die kollektive, institutionalisierte Religionsausübung, das, was man in Europa Kirche, im arabischen Raum Umma nennt.

Zwei Arten von Glauben können dagegen nicht irren: der Glaube als Hoffnung und der Glaube als Vertrauen.

nur wer glaubt weiß

nur wer weiß glaubt

 

Wer weiß, oder besser gesagt, wer glaubt etwas zu wissen, verbindet dies oft mit der Hoffnung auf die Nützlichkeit seines Wissens als Navigation, als Überlebensstrategie, als Logistik. Das setzt voraus, dass man den Vorfahren vertraut oder glaubt, dass man sich eins weiß mit Menschen, die einem auch fremd sein könnten. Die Angst vor dem Fremden, so verständlich sie auch immer sein mag, schützt uns nicht, sondern verhindert Glauben, Vertrauen und Zuversicht. Wer das Misstrauen zur Norm erklärt, versperrt dem Vertrauen den Weg. Das heißt aber nicht, dass es kein Misstrauen gibt oder geben kann und dass es nicht auch zeitweilig berechtigt sein kann. Nichts heißt alles, das Gegenteil ist ein Irrglaube der Definitions- und Herkunftsanbeter. Definitionen sind Hypothesen, manche hoffen, andere glauben, dass sie ‚richtig‘ sind, aber man sollte wissen, dass sie immer nur zeitweilig, an bestimmten Orten oder in engen, ideologiegeführten Gruppen gelten.

 

warum soll ich dir mehr glauben als mir

so denken alle aber so ist es nicht

 

Bei Lessing, in seiner schönen Urgeschichte von Nathan, dem Weisen, sind es noch die Väter, denen wir mehr oder weniger glauben. Sieht man aber genauer hin, außerhalb der Geschichte und eines engen historischen Rahmens, so betrifft es alle sich begegnenden Individuen. Da wir, die heute lebenden Menschen, uns mehr und mehr aus festgefügten Gruppen verabschieden und lieber dem Glauben anhängen, frei und unabhängig zu sein, erscheint uns unsere Existenz individualistischer, vereinzelter. Gleichzeitig nimmt aber nicht nur die Zahl der Menschen zu, sondern auch die Arten ihrer Existenz ab. Die Lebensweisen nähern sich an. Das kommt, verkürzt gesagt, durch die Mobilität der Gedanken und Dinge. Tatsächlich haben wir wahrscheinlich Freiheit mit Mobilität verwechselt und Denken mit Kommunikation. Wir können nicht nur jeden Ort der Welt mühelos erreichen, sondern auch mit jedem der knapp acht Milliarden Menschen kommunizieren, was ja sich verbinden heißt. Niemand hat eine Botschaft für acht Milliarden Menschen, aber das Gefühl, dass wenn wir eine Botschaft hätten, sie auch mit allen unseren Mitmenschen teilen zu können, macht uns frei, hoffnungsvoll, omnipotent, alles Eigenschaften, für die unsere Vorfahren eine Projektion brauchten, ein Menetekel oder einen Gott. Die Quelle aller Hoffnung und aller Liebe war auch leider – bisher – immer die Quelle der Unterscheidung, der Angst und der Konfrontation. Wer die Begriffe Irrglauben oder Unwissen in einem selektiven Sinn benutzt, untersagt sich nicht nur Ironie, sondern auch Menschlichkeit. ‚I met God, she’s black.‘ – dieser schöne, ironische und menschliche Satz bringt so viele Menschen zur Weißglut: alle, die wissen , dass Gott ein Mann (Vater, Lord of Lords, Herrscher der himmlischen Heerscharen, König), dass er weiß oder wenigstens gelblich, wie alle Portraits, auch die afrikanischen, belegen, dass er, obwohl sie ihn gegen alle Zweifel und gegen alle Feinde behaupten, nie anzutreffen ist.

Die Gipfelpunkte des Vertrauens, das mich dir mehr glauben lässt als mir, das uns gemeinsam vorwärts zu schreiten ermöglicht, obwohl die Zeiten – wie immer – finster und aus den Fugen sind, sind die Liebe und der Fortschritt des Menschengeschlechts. Der Hunger wurde durch den Brühwürfel besiegt, die Autokratie durch das Smartphone: wir können optimistisch in die Zukunft sehen, in der es nur noch Menschen geben wird.

BTHVN-WEIHNÄCHTE

 

Nr. 383

 

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD? *

 

Es ist schwer vorstellbar, dass Beethoven Weihnachten gefeiert hat. Weihnachten beginnt auch erst so richtig im neunzehnten Jahrhundert. Trotzdem gibt es einen Anhaltspunkt: die sechste Sinfonie. Von der Natur haben wir ähnlich veridyllisierte Vorstellungen wie von Weihnachten. Das hängt mit unserer Kindheit und den dort entstandenen Idealen zusammen. Weihnachten erschien uns, als wir Kinder waren, nicht als diese völlig mit überflüssigen Geschenken und viel zu vielem Essen überladene Freizeit. Weihnachten war (und ist?) für Kinder ein mystischer Ort und eine mystische Zeit. Aus dem Lied nur kennen wir das Gehämmere des Vaters an den neuen oder rekonstruierten Spielzeugen, die dann im Licht der Stearinkerzen erstrahlten. Lichter und Weihnachtsbäume gehören allerdings zum heidnischen Inventar, das sonst von der Kirche gern als unstatthaft denunziert wird. Wir dagegen lehnen den Begriff des ‚Heiden‘ ab, weil wir uns fragen, warum ausgerechnet diejenigen Menschen, die die Natur noch als Unbill und Heil erlebten, unspiritueller gewesen sein sollen als wir mit unserem Assekuranzdenken.  Wer unsere Vorfahren als ‚Heiden‘ oder anders beschimpft, hat wohl kein Verständnis für Höhlen- und Felsmalerei entwickeln können.

Und alles, was zwischen Höhlenbildern und Weihnachten liegt, wird in der auch Pastorale genannten Sinfonie geschildert. Wie in einem Roman, der ebenfalls in dieser Zeit aufkam, entwirft Beethoven hier in einem Gemälde wie von Pieter Brueghel einen Schnitt durch Ort und Zeit. Die Natur verkam zu dieser Zeit zum Ort des Ausflugs, was auch ein metaphorisches Wort für die Scheinidentifikation des Menschen mit der Natur war. Man wanderte – lebensmäßig – in die Städte ein, am Sonntag aber aus den Städten in die Natur, aber vielleicht doch mehr in die Ausflugslokale. Beethoven reiht sich hier ein in die, vor allem romantischen, Beschreiber des Rousseauschen ‚Zurück zur Natur‘, das ja nur zeigt, wie weit sich die europäisch-nordamerikanische Menschheit schon von der Natur entfernt hatte. Rousseau war es auch, der alle bisherigen Theorien vom Menschen als bloße Distanzierung von der und Erhebung über die Natur entlarvte. Sein missgünstiger Kollege Voltaire schrieb ihm daraufhin, dass er, seit er das las, glaube, auf allen Vieren gehen zu müssen. So groß war der Abscheu selbst hochgebildeter Aufklärer vor der einfachen Tatsache der Gleichheit, die Gleichartigkeit wie die daraus folgende Gleichberechtigung meint, nicht eine geistige oder körperliche UNIFORMIERTHEIT. Jede Herabsetzung und Verächtlichmachung dieser Gleichheit beruht auf UNINFORMIERTHEIT.  Das ist der wahre Grund, warum es keine eigentliche rechte Theorie gibt: man kann Uninformiertheit nicht aufschreiben. Von Graf Gobineau über den unsäglichen Houston Stewart Chamberlain bis hin zu Oswald Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘, der  wenigstens noch in seiner Loserfantasy wortgewaltig zu schwelgen verstand, von Kubitschek als bloßem Nachplapperer  zu schweigen, steht in den Büchern mehr oder weniger nichts, nichts, das wir nicht schon wüssten und entweder aus gutem Grund abgelehnt hätten oder das sich selbst in sinnlosen Kriegen verzehrt und ausgelöscht hätte.

Der zweite Weg, uns von der Natur zu entfernen, ist unsere Ernährung, der Brühwürfel als Metapher und Inbegriff zwar ausreichender, aber naturferner und substituierter** Sättigung. Justus von Liebig und Julius Maggi haben zwar einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung des Hungers geleistet, Liebig sogar doppelt durch die elementare Düngung, aber gleichzeitig auch zur Industrialisierung der Landwirtschaft und damit der Natur.  Heute stellen pervertierte Landwirte Kreuze in die Landschaft, die sie unter ihren Feldern nicht mehr erkennen, nicht etwa um auf das Artensterben hinzuweisen, sondern auf die Minderung ihres Profits. Das Christentum hat scheinbar nicht nur die Deutungshoheit über Weihnachten und Ostern verloren, sondern auch über das makabre Symbol des Kreuzes. Die mechanische und chemische Einwirkung auf den Boden hat seither in automatischen Maschinen, die Mälzels Schachautomaten schon von der Funktion her in den Schatten stellen, gigantische Ausmaße angenommen. Man könnte, um den Begriff der Megamaschine aufzugreifen, der geschaffen wurde, um zu erklären, wie riesige Steine zu Megalithgräbern aufgehäuft werden konnten, von einer solchen gigantischen Maschine sprechen, die sich anschickt, global alles zu vernichten, über und unter dem Wasser- und Erdspiegel. Wir werden Beethoven nicht missbrauchen, um in die Partei des Dystopien, der sich selbst als realistisch bezeichnenden Untergangs- und Loserfantasien einzutreten, im Gegenteil wollen wir auf den selbstverschuldeten Werteverfall hinweisen, der sich aus der Lösung der gravierenden drei Probleme der Menschheit ergab: Hunger, Krieg und Pest. Der Jubel über das Überleben übertönte sie Sorge über den möglichen Untergang nicht etwa des Abendlandes, sondern aller Länder. Es bleibt, nebenbei bemerkt, völlig unverständlich, wie man angesichts solcher schwerwiegenden Probleme annehmen kann, dass das völlig in Problemen und Ruinen versunkene Morgenland sich anschicken könnte, das Abendland zu usurpieren. Weder wird es irgendeine Religion noch einmal zur Weltherrschaft schaffen noch ein Land, das nicht kann als seine eigenen Bewohner in Gefängnisse zu stecken und die Erde ohne Rücksicht auf ihren Verlust auszubeuten.

Beethoven konnte das alles nicht wissen, als er 1808 seine sechste Sinfonie schrieb, aber er wusste, was Hunger ist, weshalb sein kleines Lied von dem hungrigen Savoyarden mit dem Murmeltier genauso eindrücklich ist wie seine romanhafte Beschreibung der Natur. Aber er beschreibt keine Idylle, sondern ein Ziel: zurück zur Natur. Wir können nicht glauben, dass die Entwicklung immer größerer und immer naturfernerer Megastädte etwas anderes sein kann als steingewordene Dystopie. Umgekehrt ist die sechste Sinfonie klanggewordener Jubel über die Vielfalt und Schönheit der Natur. Sobald man sie geldwert umrechnet, wird sie selbst zum Feind: fünfzig Millionen Küken werden jährlich in Deutschland geschreddert, Millionen Ferkel ohne Betäubung kastriert, ein Kalb kostet im Moment neun Euro, ein anderthalbjähriger Zuchtbulle dagegen 100.000 €. Das ist alles Ausdruck widernatürlicher Gier und Perversion von uns allen, die wir nicht zurückfinden können zur Natur des Menschen, der irgendwo in der Natur liegen muss. Aber vielleicht ist das auch schon eine Dystopie.

 

*Brief an Struve 1795

**durch Hilfsstoffe wie zum Beispiel Geschmacksverstärker ersetzt

DIE BTHVN EMANZIPATION

Nr. 382

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?*

 

Als der junge Beethoven 1792 von Bonn nach Wien zu einem Studienaufenthalt aufbrach, von dem er übrigens nie zurückkam, brach die europäische Menschheit zu einer ähnlich dimensionierten Veränderung des gesamten Lebens auf, wie wir sie heute erleben. Wir können deshalb gut verstehen, dass und wie den Menschen das Staunen im Halse steckenblieb. Damals ging es auf der einen Seite um das, was wir heute Menschenrechte nennen, auf der anderen Seite um eine beinahe nicht vorstellbare Technisierung der menschlichen Existenz.

Beethoven war mit einem der großen Erfinder seiner Zeit eng befreundet, Nepomuk Mälzel. Wir kennen ihn als den Konstrukteur des Metronoms, eines einfachen mechanischen Uhrwerks, das den Takt der Musik misst oder antizipiert. György Ligeti, der 1967 den Beethovenpreis der Stadt Bonn erhielt, schrieb 1962 ein Poem für 100 Metronome, das zeigt, dass alle Präzisionsinstrumente falsch gehen. Es gibt keine Gleichzeitigkeit. Es gibt keine Hierarchie. Mälzel konstruierte aber auch einen Schachautomaten, der ein mechanisch-kommunikatives Meisterwerk, aber gleichzeitig ein double fake war, indem Mälzel die Urkonstruktion gekauft und nur verbessert hatte und indem in dem Apparat ein Schachspieler verborgen war, was viel später Edgar Allan Poe nur durch Beobachtung und Argumentation nachweisen konnte, ein seltener Fall der Kraft der Worte. Die damaligen Menschen begegneten Maschinen, die sie nicht verstanden, sie standen einer Welt gegenüber, wie Professor Hegel in Berlin verkündete, die sie selbst nicht gemacht hatten. Es verband sich auch am Beginn des mechanisch-industriellen Zeitalters der moderne Begriff der Maschine mit dem des Dämons. Ganz so hatten die alten Griechen auf ihrem Theater unliebsame Probleme durch den deus ex machina, den Gott aus der (Theater-)Maschine lösen lassen.

Beethoven erlebte – und vielleicht erklärt von Nepomuk Mälzel, übrigens weltberühmt durch seine Automaten, die keine fakes waren, er war im gleichen Jahr wie Beethoven nach Wien gekommen – den Beginn der Eisenbahn, der Dampfschifffahrt, der Luftschifffahrt, des Liverpool-Kapitalismus und der Verkündung der Menschenrechte durch die amerikanische und französische Revolution. So wie heute waren das zunächst Ereignisse, die nur in den – ebenfalls soeben erst erfundenen – Zeitungen verkündet wurden und die man im täglichen Leben vergebens suchte, andererseits war jedem denkenden Menschen klar, dass sich die Welt soeben tatsächlich änderte.

Während das neunzehnte Jahrhundert in Beethoven den genialen Nerd sah, der auf seinen Flügeln, die damals noch Pianoforte hießen, sempre forte herumhämmerte und im täglichen Leben zum Scheitern verurteilt war, unterstützt wurde diese Lebensuntüchtigkeit durch seinen extremen Alkoholismus und die dadurch – mit – verursachte Taubheit, sehen wir heute eher den emanzipierten Bürger.

Mit Ausnahme weniger Denker, etwa Rousseau und Alexander von Humboldt, ging man von einer natürlichen hierarchischen Ordnung aus, die qualitative und vor allem unveränderbare Unterschiede beschrieb. Demzufolge war der Bürger ein besserer Handwerker, wenn nicht überhaupt der Handwerker, der dem Adel zu dienen hatte. Allerdings gab es immer Ausnahmen, Adlige, wie Friedrich II. von Preußen oder eben Humboldt, die das anders sahen, oder Bürgerliche wie Goethe, denen es gelang, ganz nach oben zu kommen. Aber noch Beethoven haderte mit dem kleinen Buchstabenunterschied seiner Herkunft, er wäre gern ein von Beethoven gewesen. Schließlich hat er den fehlenden Buchstaben durch Selbstbewusstsein ersetzt. Der Bürger ist also jemand, der Herkunft durch Leistung ersetzt. Das ganze folgende neunzehnte Jahrhundert würde zeigen, dass die bedeutendsten Denkfehler der Menschheit Identität und Definition sind. Rousseau zeigte den Wilden, so nannte man damals die nichteuropäischen Menschen, als moralisch höherstehend, Darwin zeigte Wal und Fledermaus als Säugetiere und das Säugetier Mensch als Teil und nicht Vorstand der Natur. Napoleon riss, wir hören es heute nicht mehr so gerne, die Standesschranken nieder und erklärte alle Menschen für Brüder, was Schiller dann für die Neuzeit kodifizierte und Beethoven in die allgemeingültige Form goss.

Der Bürger war ein riesiger Brocken im Emanzipationskuchen, an dem seit der Renaissance gebacken wurde. Bonner Freunde berichteten Beethoven sicherlich von einem anderen Schritt zur Verbrüderung: erfreute Bürger schlugen mit Beilen das Tor zum Bonner Ghetto ein, nachdem die französische Besatzung die Juden zu freien Bürgern erklärt hatte. Im benachbarten Frankfurt stieg nicht nur Bürger Goethe auf, sondern auch die ein Jahrhundert lang finanzmächtige Familie Rothschild, vor der die Neurechten heute noch zittern, so mächtig war ihr Ruf.

Beethoven hat die Widmung seiner dritten Sinfonie** rückgängig gemacht, als ihr Namensgeber, der Bürgergeneral, sich als Kaiser definierte. Aber solche Bezeichnungen – Eroica, die Heldenhafte – und solche Widmungen sind ohnehin Zeitgeist und nicht Grundlage der Interpretation. Die rechte Interpretation ist das, was wir hören. Man muss nicht Musik oder Wissenschaft studieren, um Musik zu verstehen: Rap kam aus den New Yorker Ghettos und ist heute so populär wie damals in Wien Beethoven. Verdi griff einem Leierkastenmann in die Kurbel, weil ihm das Tempo nicht gefiel, und heute kann jeder Mensch auf der Welt ALL YOU NEED IS LOVE pfeifen.

Heute kann man sich zuhause ganz sicher fünfzig verschiedene Aufnahmen der dritten Sinfonie anhören und man denkt bestimmt nicht an Napoleon oder Nichtnapoleon. Vielleicht hört man im vierten Satz zwei Themen oder Motive miteinander abwechseln. Sie werden beide ausgeführt, das starke, strahlende, große und das softe Thema, das den Menschen weichzeichnet, fragil, empathisch. Dann donnert wieder die Emphase dazwischen: sei Held, Held, Held. Aber das kleine weiche Thema summt: bleib Mensch, bleib Mensch, bleib Mensch. Der afrodeutsche Rapper Filimon Mbrhatu rappt: Mensch ist Mensch und Papier ist Papier. Er meint seinen nicht vorhandenen Pass, obwohl er doch offensichtlich vorhanden ist. Wo ist der Unterschied zu Beethoven?

Beethoven hat die beiden Themen dann so zusammengeführt, übereinander gelegt, wie es vor ihm – aber ganz anders – nur Bach konnte. Der Mensch ist nicht definierbar, reduzierbar, schon gar nicht durch seine Identität oder Herkunft. In seinem Inneren widerstreiten immer verschiedene Prinzipien oder Geiste. Wir erleben es gerade jetzt: das Analoge lässt sich durch das Digitale nicht austreiben. Im Mittelalter sang man: so treiben wir den Winter aus, durch unsre Stadt zum Tor hinaus, aber wir wissen und auch Beethoven wusste, dass es leider nicht geht, denn er hatte das Jahr ohne Sommer, 1815, miterlebt. Der Osten lässt sich durch den Westen nicht vertreiben, so schallt es aus Sachsen. Die Autoritären, die Menschen töten, bekämpfen die Liberalen, die auf Einsicht hoffen. Und so ist immer alles offen: Beethoven, dritte Sinfonie, vierter Satz.

 

*1795, Brief an Struve

**opus 55, Es-Dur, 1805

DER POP BTHVN

 

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD.[1]

Nr. 381

Man wüsste heute wohl kaum, wo Savoyen liegt, wenn es nicht ein berühmtes Skigebiet wäre und ein nicht weniger berühmter Prinz aus dem Hause Savoyen einst die Türken aus Europa vertrieben hätte und schließlich in einem früher sehr bekannten Lied von den kleinen Jungen aus Savoyen berichtet würde, die sich mit ihren dressierten Murmeltieren durch Europa bettelten.  Goethe soll sich in so einen verlausten und verkrätzten Jungen dichterisch verguckt haben, so dass er ihn in seine Komödie ‚Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern‘ auch mit dem Namen seines Murmeltieres aufnahm. Beethoven wiederum las den Text und schrieb, ebenso wie zu der Tragödie Egmont die Schauspielmusik[2]. Das Lied ging in den Volksliedschatz ein, später in das Repertoire der Jugendbewegung und Lebensreformer um die 19. Jahrhundertwende. Dann tauchte es mit seiner schelmischen Sozialkritik ein bisher letztes Mal in der Friedens- und Singer-Songwriter-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf. Wer nicht glauben kann, dass die Melodie von Beethoven stammt, höre zum Vergleich den dritten Satz des ersten Klavierkonzerts, wo er mit dem gleichen slawisch-romantischen Wechsel zwischen Dur und Moll spielt. Eine ganz kleine Ecke von Beethoven ahnt also eine Winzigkeit von Tschaikowski voraus.  Wer nicht glauben kann, dass die Melodie von Beethoven stammt, überprüfe in diesem Jahr sein Beethovenbild.

Goethes Schwank oder Posse wirkt heute etwas verstaubt, am lebendigsten sind noch das Mädchen, das Eier und Milch verkauft und um das sich der Zigeunerhauptmann und sein Bursche streiten, und der Knabe Marmotte [ICH KOMME SCHON DURCH MANCHE LAND], der die Menschen auf dem Jahrmarkt mit seinem Lied und mit seinen Kunststücken erfreut. Er ist so eindringlich, obwohl sein Auftritt in der Weltliteratur winzigst ist, dass es im neunzehnten Jahrhundert ein Standardsujet für Gemälde gab, auf dem seine Tränen, nicht aber seine Krätze dargestellt waren. Die Reichen verkitschen sogar das Elend der Armen, während die Armen in den Hochglanzmagazinen die Allüren der Reichen bewundern. Trotzdem ist es erstaunlich, welch langwährende Wirkung ein so kleines, allerdings auch sehr schönes Lied haben kann. Es spielt mit dem Hunger, gleich zweimal mit der Erotik einer Jungfer und genauso mit Dur und Moll. Beethoven ist eben nicht der Held auf einem Sockel, wenn er auch nicht der Gelegenheitskomponist war wie Bach, Händel oder gar Scarlatti und Haydn.  Trotz der sechsundfünfzig Wohnungen in dreißig Wiener Jahren ist er nicht das ungehobelte Genie gewesen, das im Leben nicht zurechtkam. Er hatte viele Freunde, aber vor allem auch Freundinnen, Briefwechselpartner, Mäzene, Kollegen, allein bei der Uraufführung der siebten Sinfonie spielte ein Dutzend berühmter Musiker aus ganz Europa mit! Und er hat eben nicht nur tiefgründige Großmeisterwerke, sondern auch sehr schöne Petitessen wie dieses Lied geschrieben, das immerhin auch nach mehr als zweihundert Jahren weit bekannter ist als das ziemlich veraltete und vergessene Theaterstück seines Kollegen Goethe, dem es entstammt. Goethe und Beethoven haben sich im Kurpark von Teplitz getroffen und dort promenierte auch die kaiserliche Familie, Beethoven ging mittendurch und ließ sich grüßen, Goethe katzbuckelte am Rande mit gezogenem Hut. Aber obwohl Beethoven der Meinung war, dass es genügend Adlige, dagegen nur einen Beethoven gäbe, hat er zeitlebens bedauert nur van und nicht von zu heißen. Andererseits hatte Goethe in seinem Großherzog nicht nur einen Gönner, sondern auch einen gleichrangigen Freund gefunden, der ihn und Schiller sogar auch noch mit dem von belohnte.

Weithin wird Beethoven auf seine Vertonung der Worte Schillers aus dessen Ode an die Freude reduziert. Sie wird inflationär zu Staatsanlässen und neuen Jahren gespielt, dient außerdem als Europahymne.  Das ist das KLEINENACHTMUSIK- oder KREUZIMGEBIRGESYNDROM.  Manche Kunstwerke verkommen zu Postkarten oder Erkennungsmelodien. Dafür können die Kunstwerke nichts.

Wir hören die neunte Sinfonie nicht als Sinfonie, sondern als dreisätziges Vorspiel zur Ode, und die Ode als Hauptbestandteil des vierten Satzes. Aber so ist es nicht. Jeder der drei Sätze ist eine eigene Sinfonie über ein Element des vierten Satzes. Und der vierte Satz ist ein Gesamtkunstwerk, das Beethoven hier gemeinsam mit Schiller, der leider schon lange tot war, entworfen hat. Die Millionen stürzen nieder, weil sie eben nicht die Freude als die mögliche Triebfeder und Tochter aus dem Elysium, dem vorchristlichen Paradies, erkennen und den Schöpfer der Welt – ein Prinzip, kein Mensch – auch nicht einmal ahnen wollen. Diese Erkenntnisse waren für Beethoven nicht neu, als er sich an die Verwirklichung seines lang gehegten Plans machte, den Schillertext zu vertonen. Schon 1795, also fünfundzwanzigjährig, schrieb er an einen Jugendfreund aus der Bonner Zeit, der inzwischen als Diplomat nach Russland aufbrach, dass er auf die Zeit hoffe, in der es nur Menschen geben wird.

Heute haben wir den kleinen Jungen namens Marmotte, er heißt so wie sein tanzendes Murmeltier, als Stellvertreter der Menschheit benannt. In den nächsten zweiundfünfzig Wochen wollen wir weitere Menschen in Beziehung zur Musik von Beethoven setzen.

Es ist zu befürchten, dass das neuerliche Beethovenjahr, sein 250. Geburtstag im Dezember, zu einer weiteren Inflation führen wird. Was uns früher alles fern war, ist uns heute näher als nah, und was und früher alles rar war, verkommt zur Inflation. Ob man dieser Inflation ausgerechnet mit einer neuen Textfolge wird entgegensteuern können, mag bezweifelt werden, aber nicht, bevor es probiert wurde.

[1] Brief an Heinrich von Struve, 17. September 1795

[2] Opus 52 Nr. 7