100 JAHRE CELAN

Sein Leben verlief fast wie das des Weihnachtssterns: spät aufgegangen, eine zeitlang hellleuchtend, und dann wie vergessen. Seine Welt war untergegangen. Allerdings lebt Czernowitz, seine Heimatstadt, als touristische Literatenstadt auf, und die Lyrik lebt in der Werbung, in der Popkultur und im RAP.

Als ich das erste Gedicht von ihm las – in dem Osten, aus dem er kam – lebte er noch, und das ist deshalb so bemerkenswert, weil er von den hundert Jahren, die seit seiner Geburt vergangen sind, nur weniger als fünfzig gelebt hat. Und er lebte im unerreichbaren, ferner als fernen Paris, aber er übersetzte dort den erschossenen Mandelstam[1] vom russischen Totenreich auch ins Ostdeutsche. Russisch wurde uns nahegebracht, aber hat es nicht geschafft, uns jemals nahe zu sein. Er hatte es in einem Sommer gelernt und später, in Paris, betrunken, hat er russische Lieder gegrölt, genau wie wir in unserem grauen Ostberlin.

Aber das erste Gedicht, das ich von ihm las, war keine Mandelstamnachdichtung, sondern ein aus Reimen und Assonanzen bestehender Achtzeiler[2], der wie Bildhauerabfall auf dem Boden herumlag und nicht wusste, ob er Proverb oder Gesammeltes Werk werden sollte: ‚Wohin gings? Gen Unverklungen.‘ Das Gedicht stand in einem kleinen Auswahlband westdeutscher Lyrik, den es bei uns im Osten von Freund zu Freund zu leihen, aber nirgendwo zu kaufen gab. Denn bei uns im Osten hatten nicht nur die Bücher ihre Schicksale, sondern auch die Leser. Celan wurde nicht gedruckt, aber war trotzdem – als Übersetzer – wohlgelitten.

Bei uns in Ostdeutschland ‚traten keine Steine aus dem Berge‘, sondern die  Dichter und ihre Epigonen wetteiferten in Oden und Elogen, und niemandem fiel auf, das ELOGEN ein Beinahanagramm von GELOGEN war, eine Ruine des Wortes, ein Bruchstück der Wahrheit. Man muss gar nicht Becher, KuBa, Wiens und ihre Stalin- und Stasigesänge meinen, es reicht Brechts ‚Erziehung der Hirse‘ erneut zu lesen, um zu verstehen, dass das keine neue Lyrik war, sondern pseudobiblisches Interpretations- und Motivationsgeschwafel. Während man bei Diktatoren nicht sicher sein kann, ob sie nicht doch an sich und von sich glauben, dass sie das wären, was viele Menschen von ihnen glauben, weil sie es ihnen zuvor eingeredet haben, sind sich diese Dichter sicher, dass sie lügen sollen und wollen, um Geld und Ruhm zu verdienen und zu vertrinken. Ihren Phantomschmerz ertränkten sie in Kokain und Suizid.  

Celan dagegen wurde verfolgt von seinem eigenen Gefühl der Unvollkommenheit, wenn nicht sogar des Unvermögens. Er verdiente sein Geld mit kongenialen Übersetzungen und als Lehrer an einer Eliteschule. Antisemitismus und überhaupt Segregation waren damals noch so verbreitet, dass selbst die Opfer deren Wirkungen eher hinnahmen. Celan wurde verlacht, wenn er vorlas. Artur Brauner musste erleben, dass Kinos demoliert wurden, in denen sein Film, der erste, der in einem KZ spielte, gezeigt wurde. Die Nazis hatten noch die Deutungshoheit. Als die TODESFUGE schon in den Lesebüchern stand, gab es einen Deutschlehrer in Deutschland, der klappte das Buch auf, las die TODESFUGE vor, klappte das das Buch wieder zu und sagte kalt: Das kann man nicht verstehen.

Spätere Generationen von Deutschlehrern gaben – in bester Absicht – mit diesem Gedicht einem ganzen Volk die Absolution: Seht, sagten sie, so ist es gewesen, aber es ist Präteritum, auch der Rauch, der keine Metapher war, ist vergangen.  Das Grab in den Lüften wurde zum Stolperstein.

Vielleicht hielt er es nicht aus, in den Lesebüchern und Abituraufgaben angekommen zu sein. Vielleicht glaubte er tatsächlich, am Tod seiner Eltern mitschuldig zu sein. Vielleicht fühlte er sich aber von all den antifaschistischen Nazis in Ost und West verfolgt? Nur die engen Freunde aus seiner Jugend glaubten, dass er ein neuer Hölderlin gewesen sei. Aber letztlich verschönten auch sie ihr eigenes Leben mit dem Wissen über ihn. Wer will es ihnen verdenken? Vielleicht hatte er auch einfach nur Angst vor dem Alter, denn er wäre in seinem Todesjahr fünfzig Jahre alt geworden, wenn er geblieben wäre? Vielleicht hatte er Angst vor seinen Wahnvorstellungen, die ihm unheilbar erschienen?

Er ist in die Literaturgeschichte schwer einordbar. So wie Kafka, und ganz im Gegensatz zu Thomas Mann und Bertolt Brecht, tat er nichts für seinen Nachruhm. Er hoffte, man würde  ihn erkennen. Seine wahre Bedeutung erschließt sich nur, wenn man, Seite um Seite, in seinem Werk blättert, nicht wie bei Schiller und Brecht in verstreuten Zitaten. Er fand die Welt als Ruine vor und hat die Bruchstücke als Zutaten gesammelt. Nur dass sein Lapidarium so durcheinander blieb wie die Welt. Man muss sich auf ihn einlassen wollen, dann wird man von einem großen Werk auch wirklich eingelassen. Während Brecht mit dem Gegenständlichen rang und sich im Elogischen verlor und Kafka sich hinter der trivialen Erzählstruktur verbarg, um ungeschont und ungeschönt für die Ewigkeit reden zu können, schuf Celan aus den Splittern einer absurden Kainswelt einen Gefühlskanon, der nur dem WTC[3] von Bach vergleichbar ist. Und nicht zufällig heißen viele Gedichte von Celan Fuge, Tango, Engführung. Das Material – die Fugenthemen und Präludiencluster, die Wortkaskaden und entgrammatisierten Proverbien – lag sozusagen auf der Straße und es bedurfte eines Genies, um das lesbar zu machen, es zu analogisieren. Bach schrieb den Anfang des WTC bekanntlich in Weimarer Beugehaft. Celan dagegen war immer auf der Flucht vor dem semantischen Gefängnis.

Wer sich mit mir jetzt in das Verhältnis zwischen den Steinbrüchen von Carrara und der Kathedrale, dem Baptisterium und dem schiefen Campanile von Pisa oder den expressiven Abbildern des großen Michelangelo versetzen kann, hier die kullernden Bruchstücke im wahrsten Wortsinn, dort die reinste synthetische Kunst, das Schlechte wie Spreu hinweggeblasen, der wird auch Celan besser verstehen. Seine Wortfetzen parodieren eine Welt, die sich für perfekt hält, jedoch abgrundtief verdorben, toxisch und zerstört ist.    

Er schrieb nicht über Auschwitz oder den Sieg oder die Niederlage einer der vielen Wahrheiten, die einen Moment lang ewig waren. Er schrieb auch nicht über sich. Er schrieb, ohne dass wir es bemerkten, wenn wir nicht immer wieder lasen und lesen, über dich und mich:  ‚Vielleicht war mein Wispern schon vor meinen Lippen geboren‘. [MANDELSTAM]

WAS GESCHAH? Der Stein trat aus dem Berge.

Wer erwachte? Du und ich.

Sprache. Sprache. Mit-Stern. Neben-Erde.

Ärmer. Offen. Heimatlich.

Wohin gings? Gen Unverklungen.

Mit dem Stein gings, mit uns zwein.

Herz und Herz. Zu schwer befunden.

Schwerer werden. Leichter sein.

CELANs TODESFUGE

Es kann ihnen und uns kein Trost sein, dass der Tod auch Meister aus anderen Ländern war, ihnen nicht, weil sie nicht auferstehen können von den Toten, uns nicht, weil unsere Vorväter die Untaten auf ihr und unser Gewissen geladen haben. Der Dichter entkam den einen Schergen und entkam den anderen Schergen knapp, aber er entkam nicht seinem Gewissen und seiner Erinnerung. Er wurde derjenige, der die törichte Frage für absurd erklärte, ob man nach Auschwitz schreiben könne, man müsse, war seine Antwort, man müsse nach Auschwitz schreiben, auf dass das nicht zu Verstehende gefühlt würde. Sein Gedicht wurde das berühmteste und auch das beste, aber der Preis dafür war sehr hoch: sein Leben.

 
Es wurde schon oft hineininterpretiert: der einzige Reim in dem Gedicht besteht aus den blauen Augen des Mörders und seinem zielgenauen Schuss. Vielleicht ist es Zufall, dass sich das Gedicht an dieser Stelle reimt. Was es zu einem großen Kunstwerk macht, ist der Gesang des schrecklichen Details, das Rezitativ der Trauer, die Banalität des bösen Briefeschreibers. Das Lager bestand nicht nur aus Schrecken und Tod, sondern auch aus diesen fortwährenden trivialen Befehlen: grabt schneller, grabt tiefer, grabt weiter an eurem Grab, eine Olympiade des Grabens, des Grauens und des Abgrunds. Dieses Gedicht zeigt, dass der Superlativ des Abgrunds nicht nur in der Größe des teuflischen Projekts lag, sondern auch in jedem einzelnen Opfer und jedem einzelnen Täter. Jeder Täter musste ein Maximum an Bösem in sich anhäufen und nach außen dringen lassen. Und jedes Opfer musste ein Maximum an Leid tragen und mit in das vor ihm liegende Grab nehmen. Darüber darf kein Gras wachsen, so nötig uns Gras sonst ist. Immer wieder gibt es Unmut darüber, dass wir, so lange danach, immer noch mit Verantwortung gestraft sind. Der Grund ist dieses unerträgliche Maximum an Leid, das die Opfer auf sich nehmen mussten. Jeder einzelne dieser Menschen hat ein Recht darauf, dass an ihn gedacht wird. In Löcknitz, einem vorpommerschen Städtchen, gab es nur zwei oder drei jüdische Familien, eine davon, die Familie Schwarzweiss, besaß das einzige Kaufhaus am Ort. Der letzte Besitzer hatte den heute peinlichen Vornamen Adolf. Eines Tages traf ich drei alte Frauen, und sie erzählten mir von dem Tag, an dem die drei Familien, voran Dolfi Schwarzweiss, aus ihren Wohnungen getrieben wurden, zum Bahnhof gehen mussten, nach Stettin gebracht wurden. Weiter wollten die drei Frauen nichts wissen. Wir wissen, dass nach Stettin das Todeslager kam, und aus dem Gedicht wissen wir, dass er, der Mörder, Briefe schrieb, dass Dolfi Schwarzweiss und seine Tochter Esther zum Graben singen mussten. Sie stehen im Totenbuch von Mecklenburg und in der Gedenkstätte Yad Vashem. Aber nur ihr Name ist erhalten. Als die Russen kamen, wurde gerade ihr Kauf- und Wohnhaus, in dem auch ein kleiner Betraum war, zerstört. Nichts erinnert mehr an die drei Familien von Löcknitz. Nur das Gedicht.

 
Dieses Gedicht ohne Satzzeichen, mit nur einem Reim, mit unerträglichem Refrain des Todes, dieses Gedicht lehrt uns, wie falsch es ist, immer noch die Sprache der Täter zu sprechen, nicht deutsch, das ist auch die Sprache der Opfer und des Dichters. Die Sprache der Täter sagt nämlich, dass dort nicht Menschen ermordet wurden, sondern angeblich eine bestimmte Gruppe von Menschen. Wer das betont, glaubt, wie wir wissen, an die Berechtigung seiner Morde. Aber wir? Wir glauben nicht an die Berechtigung zu töten. Wir lassen nur noch den Selbstmord und den Tyrannenmord als Ausnahme vom universellen Tötungsverbot bestehen.

 
Das ist nicht die Folge des Gedichts, wohl aber die Folge dieser Taten, und die hat dieses Gedicht zuerst und gültig beschrieben. Zu recht wird vom Wirtschaftswunder gesprochen, schon zu unrecht wird es nur westlich der Elbe gesehen. Aber ganz unrecht ist: warum wir nicht – oder zu wenig oder zu langsam – sehen, dass es nach diesem Krieg auch ein Moralwunder gegeben hat. Die Todesstrafe ist abgeschafft, der Krieg wurde für immer geächtet:
 Nicht der andere ist uns feind, sondern der Krieg. Nicht der Fremde ist Ursache des Kriegs, sondern der Hunger oder die Gier.


Die Intoleranz steht am Pranger, alle Kinder und Jugendlichen lesen Rousseau und Kant, die Mündigkeit ist Verfassungsgebot, vielleicht am wichtigsten: alle fahren in alle Länder, also alles Fremde wird uns nah.

Fakt und Kontrafakt gehen in diesem Gedicht ineinander über wie im Leben. Wer will entscheiden, ob ‚das Grab in den Lüften’ die Metapher für das Undenkbare ist, oder das reale Bild verbrannter, zu Rauch gewordener Menschen, oder der ewige Ort, hoch oben, aller unserer Seelen?

Das Absurde kann nur im Absurden gezeigt werden, aber das Gedicht ist alles andere als surreal. Es heißt Fuge, weil es die stärkste Verdichtung des Grauens zeigt. Alle Mittel der Kunst werden ausgeschöpft, darunter erschreckend Neues, aber es liest sich trotzdem wie der Bericht eines Überlebenden. Tatsächlich hat sich Celan in die Rolle seiner Mutter versetzt, aus ihrer Sicht, die nicht überlebt hat, ist der Bericht. Er hat sich sein Leben lang Vorwürfe gemacht, dass er überlebt hat, sie nicht. Er war jung. Er ist zweimal weggelaufen, einmal vor den Deutschen, einmal vor den Russen, er, der so gut russisch konnte, dass er die Gedichte des erschossenen Mandelstam kongenial übersetzt hat und, wenn er betrunken war, russische Lieder gegrölt hat, mitten in Paris. Wie seine Heimat war er multilingual. Wie seine Heimat ist er untergegangen. Die Seine in Paris nahm ihn auf, nachdem der Pruth in Czernowitz ihn verstoßen hatte.

Eine Reihe von uns unbekannten Dichtern, die aber alle mit Celan bekannt waren, haben ähnliche Gedichte geschrieben. Celans Gedicht ist das dichteste, das deshalb zurecht das berühmteste wurde und er der berühmte Autor. Es ist schade, dass die anderen Dichter fast oder ganz vergessen sind (Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Immanuel Weissglas), aber das darf uns nicht hindern, Celan zu bewundern. Er selbst hat am meisten unter der von ihm bewusst gewählten – und von manchen Plagiat geschimpften – Intertextualität gelitten. Sein Gedicht ist eine Kompilation aus all den anderen Gedichten, aber auch das Denkmal gewordene Abbild des Schreckens. Besser als ein Geschichtsbuch lässt es uns fühlen (wer nicht hören will, muss fühlen), wie es wäre, wenn wir die Opfer oder die Mörder wären. Als einziger hat Celan es geschafft. Er litt auch darunter, dass dieses Gedicht in den Lesebüchern steht, aber da gehört es hin, zu uns.

Paul CELAN 23. November 1920 bis 20. April 1970


[1] Ossip Mandelstam, russischer Dichter, 15. Januar 1891 bis 27. Dezember 1938

[2] WAS GESCHAH? aus: Die Niemandsrose, Suhrkamp Taschenbuchausgabe, Band 1, Seite 269

[3] WTC = wohltemperiertes Klavier

GROSS IST DIE LIEBE UND SCHÖN IST DAS WORT

Gedichte von Kesanet Abraham in dem Bildband DIE LIEBE IST GROSS

Die Versuchung ist groß, den Dichter aus Eritrea, der seit 2015 in Deutschland ist und in Berlin lebt, anzurufen und zu fragen, wen er in seinem Gedicht KEIN WUNDER meint. Aber Texte leben nicht nur davon, dass sie geschrieben, sondern dass sie von allen Lesern interpretiert werden, man kann sogar sagen, wer einen Text liest, wird sein Autor.

Das Gedicht beschreibt, aus meiner Sicht, die Mitverantwortung eines ganzen Volkes an seinem Diktator. Das steht in Übereinstimmung mit dem schönen Spruch: jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Ich kannte einmal einen Pfarrer, der schrieb lange Tiraden darüber, wie die böse DDR – ich glaube, sie war eher dumm – das schöne Christentum kaputt gemacht hatte, was Nero mit seiner nun wirklich grausamen Praxis, Christen als brennende Fackeln und als Löwenfraß zu ermorden, nicht geschafft hat. Und das sollte die DDR, der es nicht gelang, Bananen und Schrauben in ausreichender Menge zu beschaffen, geschafft haben? War es nicht vielmehr so, dass zu viele Pfarrer von ihrer Staatskirche geträumt haben und selbst dann nicht aufgewacht sind, als ihre Kirchen ohne ihr Zutun ein Jahr voll waren wie sonst nur zu Weihnachten? Wie schön dagegen beschreibt der junge Dichter die schweigenden Mehrheiten und jubelnden Massen, die dem Diktator erst eingesagt haben, was er ist: ein Genie, ein Feldherr, ein großer Theoretiker. Man hat an ihn geglaubt und das führte dazu, dass er sich jetzt selbst glaubt, anstatt sich zu hinterfragen. Man muss allerdings sagen, dass Isayas Afewerki den Krieg gegen das große Äthiopien tatsächlich gewonnen hat, während – zum Beispiel – Honecker nur den Schlüssel zur fertigen Machtzentrale abholen musste. Hinterher will es niemand gewesen sein, aber der junge Dichter widerspricht: ‚Wir haben ihm das gesagt.‘

DIE LIEBE IST GROSS ist eine Redewendung in der Sprache Tigrinya, die in Eritrea und in der jetzt leider im Krieg befindlichen Provinz Tigray in Norden Äthiopiens gesprochen wird. Dieses schöne Gedicht umspielt mit zarten Metaphern die Begriffe Glauben und Liebe, die sich dann auf wunderbare Weise vereint finden: Lass es! Sorge dich nicht. An die Liebe zu glauben, ist die Seligkeit selbst. Der orientalische Ton des Landes am Roten Meer mag auch solche, uns inzwischen übertrieben scheinende Hyperbeln wie flammende Feuerglut erlauben. Er greift dabei sogar die Sprache König Salomos aus dem Hohelied der Liebe auf. Aber wie oft die Dichter uns auch mahnen, dass Liebe und Glauben dasselbe seien, so folgen doch immer noch viele den berüchtigten Lügenfahnen, auf denen ein Glaube ohne Liebe verkündet wird.

DIE ZEIT DER LIEBE  führt uns die Relativität auch der Liebe vor. Nichts ist wie früher, so sehr wir es uns auch wünschen. Im Gegenteil, Konkurrenz selbst in der Liebe scheint hinzuzukommen, die Eitelkeit gewinnt Raum, aber es bleibt die Hoffnung, dass auch diese Monster des Zusammenlebens wieder verschwinden werden. Wir hätten wohl verstanden, wenn Kesanet Abraham uns bittere Gedichte präsentiert hätte, aber sie enden alle zuversichtlich. Seine Freundlichkeit strahlt auch nach innen. Das wirkliche Liebesgedicht aber, EROBERT, kommt ein wenig rational daher, als beschriebe es einen beliebigen und wiederholbaren Vorgang. Aber auch hier versöhnt uns der Schluss: Du hast mein Herz genommen. Gib Du mir Deines.

Der Dichter beklagt im Vorwort, dass er sich für manch eine Aussage noch nicht reif genug fühle. Das kann ich nicht nachvollziehen, wie ich gleich zeigen werde. Mein Einwand ist dagegen, dass die ersten Gedichte ein bisschen zu lang, zu wenig konzentriert sind. Das kann aber auch mit einer Tradition zusammenhängen, die wir nicht kennen oder sehr verallgemeinernd ‚orientalisch‘ nennen.

Das intensivste Gedicht ist dasjenige über die Mutter, welches einen Schnittpunkt zwischen den Liebes- und den Fluchtgedichten darstellt. Unter dieser unterbrochenen einst engen Verbindung zur Mutter leiden fast alle Flüchtlinge. Und dieses Leid wird in dem Text WIEDERSEHEN verdichtet und verwoben und verklärt. Gleichzeitig zeigt sich aber auch das Dilemma der Mutter, die ihrem Sohn das Beste wünscht und dieses Beste nur erreicht sieht, wenn er sie verlässt. Das ist anrührend, bewegend, herzzerreißend. Das Geheimnis der Geburt ist Trennung.  Und man muss befürchten, dass es kein Wiedersehen geben wird.

Die stärkste Metapher, das tiefste Bild des kleinen sympathischen Buches findet sich in dem Gedicht MEINE KRAFT. Wer erst fünf Jahre in Europa lebt, kann nicht tausende von Buch- und Filmtiteln kennen. Dass das Alleinsein, die Isolation – und nicht wie bei Rainer Werner Fassbinder die Angst – die Seele aufzuessen scheint, ist also wohl kein Zitat, sondern genauso Eigenschöpfung wie das Heimweh, das Frösteln macht. Die Sonne ist tatsächlich weg, als Tatsache und als innere Kraft. Und es stellt sich heraus, dass die Flucht ein Friedhof ist, nicht nur der Hoffnungen und vieler Weggefährten, auch der Zurückgelassenen, der Geschwister, der Mütter und Väter, der Communities an den Busstationen. Und wie könnte es anders sein – im Gedicht anders als im Leben: schließlich muss man aus der Flucht fliehen, ankommen, sich integrieren. Vielleicht bleiben Injera, das allgegenwärtige Fladenbrot, und der gelegentliche Besuch der gespaltenen Kirche die letzten Überbleibsel der Vergangenheit. Aber wenn dein ganzer Background die Gegenwart ist, das Hier und Heute und Jetzt, dann, ja dann ist nur noch dein Gesicht deine Vergangenheit.    

fast alle Gedichte standen schon vorher in der Zeitschrift von kulturTür Berlin Schöneberg

ERDBEBEN ODER FIXISMUS

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Wir haben schon auf den offensichtlichen Grundwiderspruch der menschlichen Gesellschaft hingewiesen. Bevor es menschliche Gesellschaften gab, werden wohl der bloße Überlebenswillen und die Nahrungssuche übermächtig stark an Reflexionen gehindert haben. Gesellschaft heißt Arbeitsteilung und Arbeitsteilung heißt immer auch Streit, Neid und Gier. An einem Bauernhof eines Nachbardorfes hing bestimmt ein Jahr lang ein Schild, dass Bauer der wichtigste Beruf sei. Die Arbeitsteilung und die allmähliche Institutionalisierung führte indes zu dem heute noch währenden Grundwiderspruch und Streit zwischen Freiheit und Ordnung. Man kann sich das sehr schön an der Domestizierung des Wolfes vorstellen: um die Schafe zu schützen, bedurfte es einer ebenso starken Gewalt wie es der Wolf war. Und der erste Hütejunge, der auf die Idee kam, dass das nur der Wolf selbst sein kann, sollte ebenso gefeiert werden, wie die Wölfin, die Romulus und Remus säugte. Das Symbol für Kraft, Gewalt und Sicherheit kam zustande durch Zuwendung, Einfühlung und Geborgenheit. Übrigens enthält diese schöne Legende viele Elemente von anderen Legenden, was meine Ansicht vom Mangel an Differenz zwischen den Kulturen stützt.

1915 erschien ein in der Fachwelt eher verlachtes Buch eines damals sehr berühmten Forschers, Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Berühmt war er für seine Grönlandexpeditionen, deren letzte ihm dann auch den Tod brachte. Wenn man durch die Gegend fährt, in der er aufgewachsen ist, dann sieht man – aus heutiger Sicht – seine Theorie schon vorgeformt: Seen, Moore und Rinnsale, die in ständiger Bewegung sind. Da sein Vater ein bedeutender Altphilologe war, wird ihm der schöne Spruch panta rhei geläufig gewesen sein. Aber dass auch die Kontinente fließen sollen, konnte sich in der Fachwelt nur Otto Hahn vorstellen.

Erbeben treten dort auf, wo sich tektonische Platten reiben. Die vor Wegener herrschende Theorie nannte sich Fixismus, alles ist tief gegründet und bleibt immer so, wie es ist. In Island und im Großen Afrikanischen Grabenbruch kann man gut erkennen, dass nichts so bleibt, wie es ist.

Mir scheint das nun ein sehr gutes Gleichnis zu den Plattenverschiebungen zu sein, die die Gesellschaft immer wieder erschüttern. Was bei heutigen Demonstrationen auffällt, ist nicht Staatsversagen, sondern Plattenverschiebung. Die Platte der Autokratie und die Platte der Demokratie reiben sich solange, bis sie wieder einen ein, zwei Jahrhunderte währenden Kompromiss gefunden haben. Auch Sieg und Niederlage des Trumpismus scheint mir kein Unfall der Geschichte zu sein, sondern ein Erdbeben. Der Unterschied zur Plattentektonik ist nur der, dass in der Geschichte Menschen mit Gefühl, Verstand und Absichten agieren. Und die neue Kommentarfunktion der Weltgeschichte erlaubt jedem einzelnen Bürger, recht zu haben. Gruppen sind nicht mehr Kirchen und Parteien, sondern Kommentarkreise, die sich gegenseitig bestätigen. Allerdings gilt für sie auch das eherne Gruppengesetz: Trennung, Scheidung, Schisma.

Sehen wir uns die zum Glück sang- und klanglos untergegangene Trump-Administration an: heute ist man Vertrauter, morgen ist man im Knast oder bei der Staatsanwaltschaft. Auch die AfD und die vergleichbaren Bewegungen in Europa beschäftigen sich ZU UNSER ALLER GLÜCK am meisten mit sich selbst. Meine Großmutter hatte dafür den schönen Spruch: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, und der Vorteil dieses schönen Spruchs war, dass sein Sprecher und seine Sprecherin außen vor blieben, er hatte die Wahrheit gepachtet. Vielleicht sollten wir aufhören, unsere Mitbürger als Pack zu denken und zu bezeichnen.

Die Kontinentaldrift und die kapitolinische Wölfin zeigen uns: es kommt immer anders als man denkt, weil es mehr Gründe gibt, als man denken kann. Solche Parteien des Fixismus tragen monokausale Monster und Monstranzen vor sich her. Oft gibt es auch den einen Grund, aber immer hat er tausend Schwestern und Brüder.           

LISTIGE FEMINISTINNEN

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Neulich geriet ich in eine Diskussion über feministische Linguistik. Die Unterdrückung der Frau sei bis in die Syntax hinein nachweisbar. Ich selbst gab mich früher gern als Feminist aus und wollte damit meine absolute Solidarität ausdrücke, und bemerkte nun aber, dass ich eines nicht bin: Feministin. Die Diskussion lief letztlich auf zwei Fragen hinaus, und die sind allemal interessanter als alles, was die anticoronistischen Heulsusen und Heulfritzen im Angebot haben, wenn sie wöchentlich einmal vom Akkordeon begleitet um die Protestlinde tänzeln.

Die erste Frage ging nach der Männlichkeit der deutschen Sprache. Wir kennen alle diese Diskussion: Deutschland hat die schlimmste Bürokratie, Deutschland hat die meisten Gesetze und die höchsten Steuern. Diese Art Nestbeschmutzung brauchen viele, zum Beispiel die gesamte AfD, um es in der Heimat aushalten zu können. Es ist dies die immer gleiche Verwechslung des Focus mit der Weltsicht. Ein Linguist oder eine Linguistin, die – sagen wir – fünfzig Sprachen beherrscht hat durch Erfahrung Einsicht in vielleicht weitere fünfzig Sprachen, das wäre ein Achtel aller afrikanischen Sprachen, könnte die Frage, welche Sprache männlich und welche weiblich sei, besser beantworten als wir alle. Trotz dieser strukturbedingten Inkompetenz wage ich die These, dass der männliche Focus der Sprachen durch das Patriarchat zustande kam und keine Frage der Sprachen selbst ist. In jeder Sprache wird es aber auch weibliche Formen geben, die, wenn sie nicht den Ausgleich brachten, doch den Versuch zeigen. Mein Geschreibsel hat natürlich nicht die Spur wissenschaftlichen Nachweises oder auch nur Denkens in sich. Aber wenn ein einfacher Gedanke, dass im Englischen die Schauspielerin actor und der Mensch sogar man heißt, ausreicht um ein linguistisches und feministisches und wissenschaftliches Kartenhaus zum Einstürzen zu bringen, dann kann es damit nicht weit her sein. Insofern ist es gut, dass Luise F. Pusch keine Professur erhielt, aber eine Ikone des Feminismus wurde.

Die zweite Frage war, ob Frauen militaristische Begriffe verweiblichen und sich typische männliche Grundfehler wegen der Gleichberechtigung einverleiben sollten. Die große Feministin sagte im Interview, dass es darauf ankäme irgendetwas auf Vorderfrau zu bringen. Das soll das feministische Gegenstück zum Vordermann sein. Ich halte den Vordermann für einen militaristischen Begriff und seinen heutigen Gebrauch für einen Beweis der langen Beibehaltung der Militär- und der Tätersprache. Nach wie vor wird von der obersten Heeresleitung gesprochen, vom Frontverlauf, studentische Hilfskräfte werden HIWIS genannt, aus dem Tritt kommen, so schnell schießen die Preußen nicht, in Visier nehmen, Ruhe im Glied, das alles wird täglich benutzt. Ich verstehe, dass frau sich über männliche Sprache aufregt. Aber frau kann nicht auf Verständnis hoffen, wenn sie militaristische oder gar Täterbegriffe verweiblichen und vereinnahmen will.

Soweit die sprachliche Seite. Dann ging es aber darum, ob Frauen die Wahl haben, ob sie Pazifistinnen oder Bellizistinnen werden wollen. Ich muss gleich sagen: ich empfinde schon die Fragestellung als obszön. Natürlich hat es immer auch Bellizistinnen gegeben. Aber sind sie wirklich das Ideal einiger Frauen? Dadurch dass der Krieg in 99% der Fälle Männersache war, die Sache alter Männer, die junge Männer in Krieg und Tod schickten, dadurch richtete er sich nicht nur gegen den bewaffneten Feind, sondern gegen Frauen, Kinder und Greise, also den unbewaffneten Teil der Bevölkerung. Frauen sind in allen Kriegen vergewaltigt und abgeschlachtet worden, ihre Kinder sind vor ihren Augen aufgespießt oder an die Wände geworfen worden, ihre Söhne waren die Mörder. Und jetzt wollen sie die Wahl haben, ob sie lieber Pazifistinnen bleiben oder Bellizistinnen werden sollen, Befürworterinnen von Kriegen, die weitgehend abgeschafft und befriedet werden. Zum Glück gibt es nur noch kleine Bürgerkriege, die auch Stellvertreterkriege sein können, die aber niemals mehr die Dimensionen des dreißigjährigen Krieges, der beiden Weltkriege, des Vietnam- oder Algerienkrieges haben. Statt die Bundeswehr abzuschaffen, erste Gelegenheit 1955, zweite 1989, dritte 2020, wird sie wegen der gleichberechtigten Teilnahme für Frauen geöffnet. Natürlich führt die Bundeswehr keinen Krieg, das kann sie gar nicht, das verhindert schon das Bundeswehrbeschaffungsamt in Koblenz, aber sie steht, obwohl sie demokratische kontrolliert wird, in der Tradition der Kriege. Selbst wenn eine Kaserne nach Stauffenberg benannt wurde, heißt sie nicht nur nach dem mutigen und höchst bewundernswerten Hitler-Attentäter, sondern auch nach dem Generalstabschef des Ersatzheeres. Über einen anderen Oberst der Wehrmacht wurde in Rotenburg an der Wümme gestritten: er schoss 111 ‚feindliche‘ Flugzeuge ab, aber Stadt- und Kasernenrat hielten den toten Oberst bis zum Juni 2020 für einen missbrauchten Mitläufer. Und nun wollen auch die Frauen militärische Mitläuferinnen gewesen sein? Diese Art feministische Diskussion verläuft so wie die Stadtratssitzungen in Rotenburg zum Thema Lent: schoss er tatsächlich Feinde ab oder wurden diejenigen erst dadurch zu Feinden, dass er sie abschoss?

Zwar kann niemand mehr eine Enzyklopädie oder zwölf Bände Hegel schreiben, aber man kann nicht bei der Beantwortung einer Frage alle anderen schon möglichen Antworten ignorieren.