GIER

für cds

Vielleicht glauben so viele Menschen wirklich, dass die demografische Katastrophe in ihrem Land durch das Verbot von Homosexualität und ‚Genderwahn‘ aufzuhalten sei. Es könnte das dieselbe Frage sein, warum die Menschen früher die Hexen fürchteten, statt diejenigen, die sie verbrannten. Die Erkenntnis ist inzwischen trivial, dass wir zwar denkende Wesen sind, uns aber – in Ersparung des eigenen oder kollektiven Denkens – auch gerne einer vorgeblich allwissenden und allmächtigen Führung unterwerfen. Denn Wissen ist immer auch Verantwortung, die zu tragen unsere Sonntagsruhe stört, wie schon in Goethes Faust zu lesen ist.  

In den reichen Ländern sind vor allem – mit Ausnahme einiger weniger Erben – die Alten reich. Was gebrechlich mit Rollatoren einherkommt, ist durch teils beträchtliche Konten abgesichert. Die wieder andere Kehrseite von Alter und Reichtum ist aber Einsamkeit, weshalb in der Verbrecherwelt der Enkeltrick erfunden wurde, und, obwohl inzwischen hundertfach kolportiert und in den Zeitungen und im Fernsehen entlarvt, weiterhin erfolgreich – für die Verbrecher und Rentner  funktioniert. Er ist auch ein bisschen menschlich verständlich und es handelt sich um überschaubare, meist fünfstellige Summen, die sich für die mafiös organisierte Verbrecherseite nur in der Masse rechnen. Er geht so:  Ein alte Frau wird angerufen und hört, dass ihre Enkelin oder ihr Enkel, die oder den sie nicht kennt, in Not geraten ist. Die Gründe sind amerikanischen Filmen entnommen, die wir alle oft für Wirklichkeit halten: unwiderrufliche Inhaftierungen, Kautionen, übergriffige Polizisten. Die alte Dame geht also zur Sparkasse, hebt ihre gesamten Ersparnisse ab und übergibt sie einem Boten mit osteuropäischem Akzent. Das sieht eher nach einer verständlichen Hoffnung aus, doch noch die Enkel kennenzulernen.

Nun aber gibt es durch eine akzentfreie, wohl in der Klasse der Versicherungsvertreter angesiedelten Mafia die Möglichkeit, ganz locker in den sechsstelligen Abzockerbereich zu gelangen. Einem Ehepaar aus Nordrhein-Westfalen wurden durch ihren Versicherungsagenten Faksimiles als Geldanlage angeboten. Man muss nicht erklären, was Faksimiles sind, die im Gegensatz zu den gefakten Enkeln tatsächlich Geld kosten, denn das ist völlig irrelevant. Die reichen Rentner kauften etwas für sie unverständliches und unwichtiges und stapelten es im Schlafzimmer. Als ihre Ersparnisse von 300.000 € aufgebraucht waren, nahmen sie einen Kredit auf, um weitere Faksimiles erwerben zu können. Jetzt schämen sie sich für ihre Dummheit und geben als Motiv dafür an, dass sie ihren Enkeln etwas mehr vererben wollten.

Die eigentliche Ursache für derlei Verbrechen ist aber, dass wir alle zu viel Geld haben, das gilt nicht nur für Privatleute, sondern auch für Firmen und Staaten. Und aus dieser Inflation der Ersparnisse und der Sparmöglichkeiten ergibt sich seit altersher die Todsünde der Gier. So jedenfalls nennt es die katholische Kirche, die, weiß Gott, über Geld und Gier bescheid weiß. Aber auch außerhalb dieser antikisierenden Geldgemeinschaft wird niemand Gier gutheißen, es gibt sie, seit wir denken können und sie steht in allen alten Schriften, aber wir können nicht von ihr lassen. Die Versuchung ist zu groß, zu glauben, dass die Rücklage von Geld und Gold vor Krieg und Hunger und Pest schützt.

Die Gier ist es, die uns dazu bringt immer mehr Geld für mehr oder weniger unsinnige Projekte auszugeben, einzig mit dem Ziel, immer mehr Geld zu generieren. Zum Beispiel geben wir 100 Milliarden € zur Abwehr eines macht- und gewaltdebilen Diktators aus. Das kann man kritisieren oder gutheißen. Aber die eigentliche Katastrophe besteht darin, dass niemand auf die Idee kommt, gleichzeitig und den gleichen Betrag für die Kinder auszugeben, für deren Bildung, Betreuung und Bevorzugung. Stattdessen sehen wir zu, wie unsere Zukunft in den Banlieues, die hierzulande bisher Hartzvier hießen, verkommt.     

Während wir hier Faksimiles kaufen, um noch mehr und noch mehr Geld vererben zu können, schrumpfen in einigen Gebieten der Welt die Arbeitsbevölkerungen, sie vergreisen und verschlingen Renten, die sie nicht erarbeiten können. So ist es in Russland, in China und wahrscheinlich auch in Indien. Ob etwa Russland seine Probleme durch Expansion lösen will, werden wir erst nach dem Krieg und nach dem baldigen Ende der Putin-Herrschaft erfahren. Bisher hat Russland jedenfalls alle seine Probleme durch Extensivierung (‚NEULAND UNTERM PFLUG‘) zu lösen versucht.

Unbemerkt ist Afrika aus dem Akkumulator aller Probleme zum Vektor der Hoffnung geworden, denn es ist das einzige Weltgebiet, in dem die Bevölkerung wächst. Und damit wächst zum ersten Mal in der Weltgeschichte nicht das Elend. Wir erinnern uns: als unsere Urgroßväter das große Werk der Industrialisierung begannen, nahmen sie Millionen Massen verelendeter Arbeiter und Arbeitsloser in Kauf, so krass, dass 1848 Marx die Diktatur des Proletariats erfand, Wichern Armut mit Unglauben gleichsetzte und schließlich Nietzsche – etwas später – die Umwertung aller Werte voraussah. Allein aus Irland floh die Hälfte der Bevölkerung, auch aus Deutschland wanderten Millionen Menschen aus. Während viele Europäer, Amerikaner und Asiaten ihre antiafrikanischen Vorurteile pflegen und erkenntnistheoretisch für ausreichend halten, dergestalt, dass sie sich Afrikaner als analphabetische Skelette vorstellen, deren höchster Lebenssinn der Besitz einer Kalaschnikow ist, war schon bei der Entstehung dieses Bildes die Welt auf den Kopf gestellt: die Kalaschnikow kam aus Europa, dem Hunger haben wir mit Häme zugesehen, von bedeutenden Einzelbeispielen der sogar blockübergreifenden Hilfe, wie zum Beispiel 1984 für Äthiopien, abgesehen. Inzwischen liegt das Durchschnittsalter vieler afrikanischer Länder bei unter zwanzig Jahren, die Analphabetenquote hingegen im Durchschnitt bei unter zwanzig Prozent, nur in der Sahelzone ist sie höher. Es handelt sich – ganz im Gegenteil zu den Klischees – um eine gebildete, aufwärtsstrebende und gutgelaunte Jugend, die lebensfroh ihrer Ubuntuphilosophie folgt.

Niemand kann bekanntlich die Zukunft voraussagen. Aber es scheint so, dass die Zeiten für faksimilekaufende Rentner, autoritäre Herrscher und irre Kriege sowie Tänze um goldene Kälber langsam auf ihr Ende zugehen. Auf die Verbrechen der reichen Rentner folgen die Kreationen der jungen Innovatoren mit ihren digitalen Werkzeugen. Nicht nur goldene Kälber sind in Zukunft vermeidbar, sondern auch aufzufressende Kälber. Mit Kälbern, die schon Brecht als starke Metapher hatte (‚KÄLBERMARSCH‘), verhält es sich so wie überhaupt mit der Jugend: wer sie verachtet, verachtet sein eigenes Leben und seine eigene Zukunft. Man kann doch nicht Kinder in die Welt setzen, egal auf welchem Kontinent, um sie dann zu verachten und ihrem mäßigen Schicksal zu überlassen. Lange Zeit gab es den Spruch: in diese Welt kann man keine Kinder gebären, er war nicht nur zynisch, sondern auch schöpfungsverachtend, selbstbezogen und gierig. Wenn, wie wir inzwischen alle erkennen, die Welt nicht gut ist, müssen wir sie besser machen, ohne Gier, ohne Geiz, möglichst auch ohne Geld als Lebenssinn. Es beginnt die Stunde der Demografie und das Jahrhundert Afrikas.             

DER KLAVIERSPIELER IM GREIFSWALDER DOM

Ein Manifest

Sie spielen doch auch? Wie spielen Sie das denn? Man kann es so oder so spielen. Ich spiele es so. Wie spielen Sie es? Sie sind doch aus Nordrhein-Westfalen? Aus Brandenburg? Das Brandenburger Tor hat Sie auch kaputt gemacht. Das Brandenburger Tor haben sie auch kaputt gemacht, einfach abgerissen, das Brandenburger und das Friedländer Tor. Es gibt kein Friedland mehr. Es gibt doch ein Brandenburger Tor? Oder wurde es abgerissen? Das macht etwas mit uns. Wie war es damals bei – jetzt weiß ich den Namen nicht mehr. Haben Sie den Maler gesehen? Er hat dort eine unordentliche Ausstellung. Der ganze Dom ist so unordentlich. Gestern traf ich den Herrn Habakuk, und er sagte, dass auch die Steine in den Mauern schreien und die Balken antworten werden. Da braucht man diese Bilder und diese Musik, wegen der fehlenden Ordnung. Überall in der Stadt hängen so kleine Zettel, die angeklebt sind. Darauf steht MAUTE LUSIK. MAUTE LUSIK, Sie verstehen, das ist nicht lustig? Das ist so wie diese Bilder, die hier so unordentlich angenagelt sind. Eines heißt: DER FLÜCHTLING. Aber wir fliehen doch alle, wenn die MAUTE LUSIK beginnt. Noch schlimmer sind all die Listen, auf denen die Namen stehen, die wir vergessen haben. Auch an den Häusern und auf den Bürgersteigen stehen die Namen der Toten. Heute ist Gorbatschow gestorben und auch er hat gesagt: das schlimmste, was er damals vorgefunden hat, waren alle diese Listen, auf denen die Namen standen, die wir vergessen sollen. Und die hat der Maler gemalt. Der Flüchtling liest einen Brief. Darin steht seine ABSCHIEBUNG. Es gibt auch ein Bild mit dem Brandenburger Tor, das abgerissen wurde. Auf dem Bild sehen Sie alle die Bilder, die verboten wurden. Das macht etwas mit uns. Bilder kann man verbieten, MAUTE LUSIK nicht. Sie sehen ja, ich spiele hier, und niemand widerspricht. Der Musik kann man nicht widersprechen. Die ist uns über, obwohl wir sie gemacht haben. Sehen Sie, da kommen immer neue Leute herein, die eigentlich schon tot sein müssten, die auf den Listen standen, die auf den Bildern gemalt waren. Aber sie leben noch, sie kommen hier hereinspaziert, das Eis noch in der Hand, die ihnen abfallen müsste, und fotografieren sich mit ihren Telefonen. Und schicken die Fotos gleich in die Welt. Und die Welt ist heute nur noch der Kommentar der Telefone, und der Zeitungen, und der Fernseher, und der Computer. Aber ich sitze hier jeden Tag an dem Klavier. Und die Steine in den Mauern schreien und ich antworte. Ich schiebe die dicke Kunstlederdecke weg, klappe den Flügel auf, und spiele so, wie die Welt ist, so wieder Maler mit den angenagelten Bildern sie auch gesehen hat. Ich höre sie, die Welt, nicht die Kommentare. Wer hört schon noch die Welt, wer sieht schon noch die Welt? Jeder Blinde tastet besser, als der Rest sieht. Das macht etwas mit uns. Der Flüchtling betrachtet den Globus und weiß nicht, wohin. Der Globus betrachtet den Flüchtling und weiß nicht, wohin mit ihm. Welt und Flüchtling, das passt nicht zusammen, also schieben wir sie ab, lassen wir sie auf dem Mittelmeer ertrinken, schenken wir sie den libyschen Sklavenhändlern oder der Putin-Armee, die braucht dringend Verstärkung. Aber sie wird zu Weihnachten untergehen. Bis Weihnachten werden wir frieren, aber dann wird alles besser. Dann wird alles besser. Das macht etwas mit uns. Uns verfolgen die Phrasen wie früher die Häscher des Herodes,  als wir zwei Jahre alt waren. Herodes metzelte die Babys, Hitler den Maler, der dort angenagelt ist, und Putin metzelt die Ukrainer. Aber er wird verlieren wie Falkenhayn. Kennen Sie Falkenhayn? Er stand in Verdun, da wo jetzt eine Million Kreuze stehen, und schlachtete eine Million Soldaten. Da kommt Putin nicht mit. Aber verlieren wird er wie Falkenhayn. Und wie Hitler und wie die alle heißen. Oh, losers, ich habe eure Namen vergessen! Die Namen gehören auf die Listen der Namen, die wir vergessen sollten. Das macht etwas mit uns. Früher war der Dom zum Beten da. Aber seit keiner mehr beten will, wird hier alles abgestellt. Da sehen Sie die angenagelten Bilder, im Turm sind Faces aus Tansania gefangen. Das ist gut, aber niemand weiß, warum, niemand weiß, wohin. Und dann das Kinderspielzeug. Müssen die Kinder hier spielen? Gibt es überhaupt noch Kinder? Fahren nicht die meisten Menschen schon ihre Hunde spazieren auf ihren Fahrradanhängern? Der tote Maler, wenn er noch leben würde, würde das malen: die Menschen auf den Fahrrädern und in den Anhängern die staunenden Hunde. Aber er stand auf der Liste. Ich muss jetzt weiter spielen. Einer muss weiter spielen oder wenigstens malen. Wenn sie nur das Brandenburger Tor hätten stehen lassen. Aber es ist kaputt für immer. Was macht das mit uns? Was macht das mit uns? Was machen wir mit uns? Was machen wir mit uns?   Die Steine in den Mauern werden schreien und niemand antwortet.