LOVE ME TENDER

 

oder

Wir singen schon lange global

Nr. 187

Es gibt Sätze mit einer sehr großen Halbwertzeit, wie zum Beispiel ‚All you need is love‘ oder ‚Alle Menschen sind/werden Brüder/Schwestern‘. ‚Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein‘ wird auch gut und richtig bleiben, später allerdings wird die Menge der Erklärungen zunehmen, wenn niemand mehr wissen wird, was Sünde und was Strafe ist, von Steinigung ganz zu schweigen. Andere Sätze verlieren an Bedeutung, weil nichts, was sie einst beschrieben, noch da ist: ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch‘ wird dann wie eine IKEA-Werbung klingen. Wenn man sich das riesige Bruttosozialprodukt unseres Landes im Vergleich zur geringen Zahl der Arbeitskräfte ansieht, dann weiß man, was Geisterhände sind. Dann gibt es Sätze, die werden weiter zitiert, aber nicht weiter hinterfragt. Sie klingen gut und waren wahr, warum sollten sie nicht mehr klingen? ‚Es gibt kein richtiges Leben im falschen‘, meinte Adorno angesichts des Nazi-Terrors, aber meinte er nicht auch, dass es kein Leben mehr wie früher gibt? Denn ursprünglich hatte sein Satz anders gelautet: ‚Man kann privat nicht mehr richtig leben.‘ Und das fragen wir: was soll denn ‚richtig‘ sein? Soll es heißen: wie früher, soll es heißen: wie später, soll es ideal heißen, traditionell, revolutionär? Es gibt kein richtiges Leben im falschen, weil es kein richtiges Leben gibt. Falsch dagegen scheint mir eher das Synonym für ein Leiden an der Unangepasstheit, der Überangepasstheit, dem Mangel an Kreativität, dem Gefängnis der Begriffe zu sein. Falsch ist ein burnout des Richtigen, also historisch Angepassten. Falsch heißt meistens veraltet.

Marshall McLuhan wollte dagegen mit seinem Klassiker zurecht das Fernsehen diskreditieren. Das Fernsehen ist auch heute noch das dümmste Medium. Aber aus heutiger Sicht ist sein berühmter Satz ‚Das Medium ist die Botschaft‘ zumindest veraltet.

Mehr noch durch das Internet als durch das Fernsehen sind alle großen Narrative weltweit zu jedem beliebigen Zeitpunkt frei verfügbar. Die Kehrseite, dass dadurch auch jeder Mensch transparent und kontrollierbar sei, verkommt zur Bedeutungslosigkeit, da schon die Datenmengen herkömmlicher Geheimdienste nicht zu bewältigen waren. Es ist uns überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten seit McLuhans Tod die riesige Menge an Daten bewusst geworden, die von unseren Gehirnen und Maschinen bewegt werden. Die unvorstellbar größten Zahlen (‚googolplex‘, das ist eine 1 und 10100 Nullen, nicht zu verwechseln mit der danach benannten Suchmaschine) reichen nicht aus, um mathematisch zu beschreiben, was wir denken und wissen und teilen. Schon die Zahl selber ist unvorstellbar. Um 106 Nullen darzustellen, würde ein normales Buch mit 400 Seiten reichen. Wir brauchten also noch 1094 solcher Bücher, um alle Nullen unserer schönen Zahl zu drucken. Die ganze Welt ist nicht, wie McLuhan beklagte, eine Bibliothek von Alexandria geworden. Das Buch musste seinen Rang mit einem faustkeilgroßen Universalgerät teilen, das die tatsächliche Globalisierung mehr voranbringt als die Produktion und Konsumtion aller anderen Güter zusammen. Das Wort ‚universal‘ ist hier sowohl als global wie auch als omnipotent oder universell zu verstehen. Natürlich bleiben die biotischen Fundamente Essen und Trinken sowie die sozialen Basics Obdach und Alphabet.

Beiträge zu einer universalen Sprache haben früher schon die Mathematik und die Philosophie geleistet, aber den Durchbruch brachte die Popmusik mit ihrem Vorläufer Jazz. Der Jazz nahm sowohl Elemente der polyphonen europäischen Kirchenmusik als auch, besonders vom Instrumentarium her, der von der Mehterhane geprägten Militärmusik auf und vereinigte sie zu einer weltweit wie eine neue Kultur wahrgenommenen Botschaft. Zugleich ist es der erste große Beitrag der ehemaligen Schwarzafrikaner zur Weltkultur. Am ersten weltberühmten Popsänger, der ebenfalls durch die schwarze Chorkultur geprägt war, kann man auch gleich die Botschaft der Globaliserung ablesen. Elvis Presley kam als Besatzungssoldat, also als Repräsentant einer finsteren Vergangenheit, des Krieges, nach Deutschland. Sozusagen von hier aus begann seine Weltkarriere. LOVE ME TENDER, eine Volksliedadaption, hörten zuerst gleichzeitig 54 Millionen Menschen. Trotz aller Diversifizierung der Musik, die seitdem stattgefunden hat, gibt  es, außer SILENT NIGHT, jetzt Lieder, die jeder auf der ganzen Welt kennt, ohne dass er ihre Herkunftssgeschmacksrichtung teilt.

In der Substitution des Buches, die gleichzeitig seine Einbeziehung ist, spielt der Film nach der Musik die zweite Rolle. Jeder Mensch auf der ganzen Welt kennt Charlie Chaplin. Viele glauben, da sie die Sequenz nur aus youtube kennen, dass die berühmte Rede des Friseurs im GROSSEN DIKTATOR ein Originalbeitrag zur Philosophie ist. Davon träumten die Romantiker: der Mensch wird durch Geschichten gebildet, nicht durch Belehrungen. Der Mensch lebt in Geschichten mehr als in der Welt. Die Welt des Menschen ist verwirklichtes Narrativ, von der Felszeichnung, die zur Jagd ermutigen sollte, bis zum Smartphone mit seinen unendlich vielen Sequenzen, Filmen, Fakten und Fakes.

Das Fake ist die radikale Metapher. Nur der Außenseiter der virtuellen Welt verwechselt es mit der Wirklichkeit. Niemand, der Aschenputtel gelesen hat, hackte sich den Hacken ab, um in unpassende Schuhe zu kommen. Niemand, der eine Unpässlichkeit mit seiner kleinen Welt fühlt, glaubt, dass Rothschild daran Schuld haben könnte. Rothschild ist so absurd wie der abgehackte Hacken. Rotschild ist der moderne schwarze Mann.

Indessen kommen Flüchtlinge nach Europa, nach Deutschland und auch nach Prenzlau. Wenige Prenzlauer kennen das Land, aus dem die schwarzen jungen Männer sind. Diese aber kennen das Smartboard und hören in den Pausen ihres Deutschkurses Musik aus ihrem geheimnisvollen schönen und schrecklichen Land. Und die Musik klingt so, als würde Elvis Presley singen, wenn er heute noch singen würde und aus diesem Land käme. Wir singen schon lange global.

ALLE MENSCHEN SIND/WERDEN BRÜDER/SCHWESTERN. EINE WAHRSCHAU

 

Nr. 186

Nichts ist so, wie es ist oder gar nur scheint. Phänomenologisch sind wir durch die Arbeitsteilung und die vielfältigen Absicherungen, vom Konservenglas bis zum Kindergarten, fast untauglich oder jedenfalls blind geworden. Und wir können es uns leisten. Dieser Tage wird besonders unsere Abhängigkeit vom bis zu 99% überflüssigen Nachrichtenbetrieb diskutiert. Auf Segelschiffen und bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hieß der Ausguck Wahrschau, obwohl auch damals die Unwahrschau die Regel gewesen sein muss, denn der unbeliebte Platz verzerrte den Blick, Alkohol, Fehlsichtigkeit, Müdigkeit, Abgelenktheit, Hunger, Sexualität trugen zur Trübung bei. Niemand sieht, was er sieht. Man sieht eher, was man glaubt, als dass man glaubt, was man sieht. Keiner kennt alle zur Erkenntnis nötigen Details. Niemand kennt die tausend Gründe, warum etwas geschieht oder nicht geschieht. Der Grund wird zum Abgrund. Unsere Erwartung wird enttäuscht und verkommt zur Hoffnung, diese wird diskreditiert. Die Realisten behaupten, dass sie, weil von Hoffnung, Trauer, Liebe, Sehnsucht, Schmerz, Freude, Selbstsicherheit, Selbstlosigkeit, Selbstbewusstsein oder Unsicherheit nicht ablenkt, die wahren Seher sind. Jeder von uns kennt dagegen Realisten, die nichts weiter als un- oder eingebildete oder ent- oder getäuschte Zyniker sind. Sie sagen immer das gleiche. Die Befürworter nennen das Klartext, weil es gegen den Mainstream oder gegen die Vision gerichtet ist, die Gegner nennen es Populismus, weil es nicht auf Beobachtung und schon gar nicht auf Nachdenken beruht, sondern auf Gefallenwollen, Beachtetseinwollen, Bewundertseinwollen und mit dem zu beobachtenden Fakt meist nichts zu tun hat. Die Flüchtlingskrise hat beispielsweise, selbst wenn die Aufnahme und beginnende Integration um die zehn Milliarden Euro pro Jahr kosten sollte, nichts mit Geld zu tun, sondern mit Kapazität, Europa, Belastbarkeit, Parteipolitik, Wählerverhalten und wahrscheinlich noch weit mehr Faktoren. Gemessen an den Sozialleistungen aus dem Staatshaushalt von bis zu 150 Milliarden Euro pro Jahr fällt das nicht ins Gewicht, zumal steuerliche, konjunkturelle und investitive Rückkopplungen sofort wirksam werden. Es wird Geld ausgegeben und in den Wirtschaftskreislauf eingefügt, das sonst irgendwo herumliegen würde.

Unser metaphorisches Schiff braucht also nicht nur Kapitän und Kompass, Autorität und Aufklärung, sondern auch die Wahrschau vom höchsten Punkt des Mastes aus, die nicht nur, und vielleicht sogar weniger, Fakten erkennt und weitergibt, sondern Hoffnung, Appell, eventuell auch die Gewissheit des Endes. Im antiken Griechenland wurde der Bote der schlechten Nachricht getötet, und wir sollten uns den Verzerrungsgrad jeder Nachricht nach zweiundvierzig Kilometern Todesangst vorstellen können.

Der Schiffsjunge im Mastkorb muss über den Nebel hinaus sehen können, er muss aufklären, was ohne ihn im Dunkeln bliebe. Sein Ruf erlöste aus der Todesangst oder war das Todesurteil, sein Ruf war der Beginn einer neuen Menschheitsepoche oder der Verbleib in der Verdammnis.

Das christliche Abendland ist nicht nur durch das Christentum geprägt. Das ist übrigens eine Erkenntnis, die jeder einzelne Muslim oder Buddhist oder Atheist, der zu uns kommt, selbst macht. Das christliche Abendland ist nicht nur durch die Himmelsrichtung geprägt. Das christliche Abendland hat sich aber andererseits auch nicht nur auf den Kompass der Aufklärung verlassen, sondern genauso auf die Hoffnung und Zuversicht, auf die Menschlichkeit, die jedem Individuum, jeder Kultur, jeder Nation, jeder Dorfgemeinschaft innewohnt.

migrant

Dass die Menschheit wenige Wege, aber Millionen Irrwege gegangen ist, darf uns nicht abhalten, weiter nach gangbaren Möglichkeiten zu suchen. Einerseits sind wir Teil der Natur, wie man durch den Atavismus der wilden Kinder überdeutlich sehen kann oder an unserer Schonungslosigkeit. Wie eine Herde Rehe fressen wir alles ab, auch die zukunftsträchtigsten Bäume, um uns dann über die Leere und den Tod zu wundern. Andererseits sind wir nach unserem Selbstverständnis mit einer Kraft begabt, die uns den Vorausblick, die Wahrschau, das Einfügen in größere Zusammenhänge ermöglicht. Immer wieder halten wir an und suchen Perspektiven, die uns von vergangener Schuld zwar nicht erlösen können, aber sie in Zukunft vermeidbarer machen.

So kann und sollte man die Aufforderung verstehen, nicht zu richten, weil man auch selbst gerichtet wird. Es ist überhaupt müßig, nach der Schuld zu fragen, weil das die Rache näher legt als die Besserung. Der Glaube an Gerechtigkeit scheint der wahre Irrglaube zu sein. Gerechtigkeit wäre ein Gleichgewicht, ein Hundertprozentzustand, die Klarheit und Reinheit ohne jede Nebenwirkung und Kollaterale, ohne die wir zum Infarkt verurteilt wären. Die Frage nach dem Warum ist eine wissenschaftliche, keine Alltagsfrage, weil sie im Alltag nicht beantwortbar ist und in der Wissenschaft jede Antwort Hypothese bleibt.

Der Wahrschauruf LANDINSICHT ist, wie wir schon gesehen haben, bei weitem nicht nur ein Fakt, wenn er nicht sowieso ein Fake ist. Er ist auch immer ein Appell, und auch der Appell ist nur dann wirkungsmächtig, wenn gleichzeitig auch mindestens einen minimalen Wahrheitsgehalt hat. Schillers Glückssatz, dass alle Menschen Brüder und Schwestern werden, beruht auf Lessings fast didaktisch daherkommenden Erkenntnis, dass wir alle Brüder und Schwestern sind. Vielleicht sind die Muslime Arianer und die Christen Essener, dann würde derselbe Gott endlich auch das Ende des Kopftuchstreits und des Rechthabenwollens bedeuten.

Dass die Menschen sich schon so oft wie Feinde benommen haben, Mauern errichtet, Kriege geführt, sich gegenseitig umgebracht, geglaubt oder gehofft haben, Recht zu haben oder recht zu sein und den jeweils Fremden als falsch, sinister, tierisch, teuflisch, ungläubig, böse bezeichnet zu haben, darf uns nicht hindern, zu sehen, dass auch und schon immer die Ameise unserer Bruder war, und das endlich alle Menschen Brüder werden. Noch vor hundert Jahren wusste jeder, dass ein Schwarzer faul und ungebildet, ein Wal ein Fisch, die Erde eine Scheibe, die Hierarchie Natur, der Mann intelligenter als die Frau ist, Gott Kriege nicht nur will, sondern auch führt, der Staat und die Kirche morden darf. All das darf uns doch nicht hindern, besser zu werden, auf Besserung nicht nur zu hoffen, die großen Sätze an die Kirchtürme und Minarette zu nageln: WER OHNE SÜNDE IST, WERFE DEN ERSTEN STEIN oder/und ALLE MENSCHEN SIND/WERDEN BRÜDER/SCHWESTERN.

 

Anmerkung: Wir haben einem befreundeten Rapper eine Materialsammlung zu Schillers Satz geschrieben und im Gedichtblog veröffentlicht. Einer von diesen fäkalverliebten selbsternannten Realisten schrieb darunter, dass Schiller Scheiße bliebe, solange die Menschheit mehr der eigenen Art umgebracht hätte als jede andere Art. Er schlägt also vor, erst die Vergangenheit zu ändern und dann die Zukunft. Dies ist mein Antwortversuch.  

schillers rap an die freude

FRIEDRICH DER ZWEITE DACHTE

 

Nr. 185

Obwohl er den berüchtigten, fast tödlichen Konflikt mit seinem jähzornigen Vater hatte und man verstehen könnte , dass er alles anders machen will, hat Friedrich ein gutes Verhältnis zu einer Tradition gefunden, die alles andere als rational war. Sein Vater hat ganz auf die Armee, die Vorsicht und den berechtigten Zorn gesetzt. Er hatte eine große, ungeheuer teure Armee, aber er hat sie nicht eingesetzt. Sein Verhältnis zum Menschen war mehr als patriarchalisch. Er fühlte sich als Sklavenhalter und von Gott dazu berufen, auf seine Mitmenschen einzuprügeln. Katte musste sterben und Friedrich dabei zusehen, obwohl Friedrich die Flucht geplant hatte und nicht Katte. Friedrich war gerade einmal achtzehn Jahre alt.

Friedrich schätzte und nutzte trotz des falschen, schändlichen und zurecht verhassten Verhaltens seines Vaters dessen traditionell auf das Wohl des Landes ausgerichtete Einwanderungspolitik.

Zweitens aber tat er, was damals mit Ausnahme seiner Erzfeindin Maria Theresia niemand tat, er setzte auf die Aufklärung, und zwar in einem ganz praktischen Sinn. Während er vielleicht Schlesien eroberte, um Maria Theresia zu ärgern, was wir heute ganz vehement ablehnen, hat er sich mit der Kartoffel und der vorsichtig versuchten Gewaltenteilung einen Dauerbonus in der Geschichte verschafft. Die Kartoffel war und ist so nachhaltig, dass die heutigen Migranten uns sogar so nennen.

Friedrich, sein Vater und sein Großvater sagten nicht nur ‚Bienvenue aux réfugiés‘ und ‚Wir schaffen das‘, sondern sie schufen ein auch wirtschaftlich günstiges Klima. Wer heute von Neulietzgöricke im Oderbruch bis Bagemühl in der Uckermark fährt, sieht immer noch viele Dutzende französische Kolonistenhäuser. Manche sind in der zwölften Generation liebevoll restauriert, andere sind vom Verfall bedroht.

Der Verfall hat indes nichts mit Ein- oder Auswanderung zu tun, er ist das Ergebnis bedauerlicher und heilloser Überalterung und Kinderlosigkeit, kurz demografischer Wandel genannt, denn wir lieben Metaphern und Euphemismen.

Warum stellen wir nicht interessierten Flüchtlingen verfallene oder verfallende Häuser zur Verfügung, dazu Baumaterialgutscheine, Steuerfreiheit, ein zinsloses Darlehen für startups und dazu braucht man in Deutschland leider auch bürokratische Hilfe. In anderen Ländern kauft man sich einfach ein Schild, auf dem die Firma, die man gegründet hat, steht, und schon steht die Firma. Aber dafür haben andere Länder andere Nachteile, die zum Teil nicht hinnehmbar sind. Wer sich ernsthaft einen solchen Präsidenten vorstellen kann, den kann man nicht mehr ernstnehmen.

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Der Vorschlag staatlich geförderter Hausbesetzungen ist relativ leicht umzusetzen. Wenn auch nur ein Viertel der Flüchtlinge auf diese Weise unterkäme, könnte doch mit größerer Streuwirkung gerechnet werden. Aber was sollen die Flüchtlinge, die nun Neubürger und Hausbesitzer sind, tun, um Geld zu verdienen.

Es gab einst einen schönen Werbespruch von ESSO, der sagte, dass es viel zu tun gäbe und man es nur anpacken müsste. Man könnte einerseits eine Expertenkommission einsetzen, die zu prüfen hätte, woran es uns fehlt. Viele denken, dass es uns an nichts fehlt, aber das ist eine Frage der Perspektive. Es fehlt uns an Pflegekräften. Wir müssen endlich Pflegekräfte besser bezahlen und ihnen viel mehr Zeit einräumen. Es fehlt uns an innovativer Implementierung vielfältiger Computertechnik. Es fehlt uns an Fußballtrainern, Feuerwehrleuten, Erziehern und Sozialarbeitern. Es fehlt uns an Dichtern und Mathematikern, die die Leistungsgesellschaft schrittweise in eine poesie- und computergestützte Idylle verwandeln. Die Expertenkommission dürfte auch gerne einen Wettbewerb ausschreiben.

Auf der anderen Seite kann man einfach abwarten: was werden die hausbesitzenden Neubürger als nächstes tun? Sobald sie etwas Gemeinnütziges auch nur vorhaben, muss man ihre Vorhaben finanziell und logistisch unterstützen. Es wird sich zeigen, dass bei dem einen oder anderen Projekt die Neugierde über die Fremdenangst siegen wird. Über den maroden Zaun hinweg wird Deutsch gelernt und Innovation. Es werden langsam, Schritt für Schritt, auch Altbürger einbezogen werden, die zu Transferleistungsbeziehern degradiert wurden, nicht von jemandem, sondern durch die Eigendynamik einer einerseits höchstleistenden, andererseits aber auch sozialen Gesellschaft. Es ist billig und populistisch, die Erhöhung der Sozialleistungen auf ein, wie es heißt, menschenwürdiges Niveau zu fordern. Menschwürdig ist es allein, sich selbst – wenn auch mit Hilfe – zu unterhalten. Selbsthilfewerkstätten, Dorf- und Kleinstadtzentren, in denen geplant und gewerkelt werden kann, könnten das Ergebnis dieser neuartigen Zusammenarbeit sein.

Nun sind die Flüchtlinge, selbst die gut gebildeten syrischen, keineswegs alle genügend qualifiziert oder gar überqualifiziert, um solch ein gigantisches Werk zu vollbringen. Aber sie haben alle einen Unterdruck an Aktionismus und Innovation. Sie kommen alle aus repressiven oder wenigstens autoritären Mangelwirtschaften, so dass sie jede finanzielle, logistische und liebevolle Hilfe dankbar annehmen. Sie wissen Bildung als hohes, oft unerreichbares Gut zu schätzen. Statt ihnen schon wieder einfach nur Geld zum Konsumieren zu geben, sollten wir jede Idee, jede Tat und jede Gemeinnützigkeit belohnen. Wir haben schon wieder Monate mit solchen Fragen zugebracht: Sind alle oder doch einige Flüchtlinge Terroristen? Darf man mit einem Kopftuch schwimmen/kochen/helfen? Was ist der Unterschied zwischen einem Kirchturm und einem Minarett?

Die Chancen für ein funktionierendes Miteinander sind in den Dörfern und Kleinstädten größer als in den Großstädten. Die Gefahr der Ghettoisierung auf beiden Seiten ist geringer. Wenn du immer nur die Gruppe ändern willst, zu der du gar nicht gehörst, wirst du nichts ändern! Lasst uns Spielräume schaffen und nicht Geld verteilen! Öffnen wir unsere Häuser und unsere Köpfe!

Der Staat und die Gesellschaft, und wer soll das sein, wenn nicht wir, sollten sich endlich auf ihre Großen besinnen: Friedrich und sein hochproduktives Verhältnis zu Tradition und Fortschritt. Was wir brauchen, ist eine Innovation von der Dimension der Kartoffel.

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TAUTOLOGISMUS

Nr. 184

quasi modo geniti infantes rationabile sine dolo lac concupiscite*         1. petrusbrief 22

Die Rohstoffe früherer Zeiten waren namen- und sinngebend für ganze Epochen der Menschheit: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, aber auch das Industriezeitalter mit seiner unseligen Triade Eisen, Kohle, Stahl, denn der Eiffelturm und das Kreuzbergdenkmal mögen uns rührend und anmutig vorkommen, sie sind aber auch harte Kennzeichen der gnadenlosen Ausbeutung der Natur, die wir jetzt distanziert Umwelt nennen. In diesem Industriezeitalter sind die großen Städte entstanden. Die größten Städte sind aber entstanden, als die Verteilung der Industrieproduktion schon längst abgeschlossen war und die Menschen in den weniger entwickelten Ländern trotzdem in die Städte drängten, weil sie dort auf das gleiche bessere Leben hofften wie die Menschen, die um 1800 nach Liverpool oder Wuppertal gingen. Statt des besseren Lebens ist ein Kult um den Müll entstanden. Der Wohlstand ruft, aber die Abfälle antworten. Kinder, jene reinen Wesen der Hoffnung und der Neugier, müssen gerade da zuhauf vegetieren, wo die Hoffnungslosigkeit herrscht. Zwar hungern jetzt weit weniger Menschen als 1950 oder 1900, aber je mehr wir von der Welt wissen, desto mehr erschreckt uns die althergebrachte Ungerechtigkeit. Unser Focus ist auf das Leid gerichtet. Das ist auf der einen Seite natürlich gut und stärkt unsere Empathie und zum Beispiel auch Spendenbereitschaft, auf der anderen Seite stärkt es aber auch den Abschottungsreflex, der aus der Angst entspringt, morgen wieder mit bloßen Händen dazustehen. Dabei sollten uns die Ruinen des Römischen Reiches daran erinnern, wie lange Reichtum vorhält, weit über den Untergang hinaus. Wer bereit ist, auch das immaterielle Erbe mitzuzählen, der wird im lateinischen Alphabet und in der lateinischen Sprache den Reichtum des Römischen Reiches sogar fortleben sehen. Wir müssen uns also keine Sorgen um uns machen. Wir werden schon nicht verschwinden.

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Da in der Stadt Politik und Kunst gemacht werden, aber auch fast alle Gegenstände, erscheint es dem Städter so, als ob die Stadt mit sich selbst leben könnte. Kein Städter glaubt, dass außerhalb der Stadtmauern etwas Wichtiges passiert. Er kennt die Natur vom Spaziergang und vom Urlaub, aber er hält sie nicht für notwendig. Die wichtigen Events finden in der Stadt statt. Unter einem Event versteht der Städter aber nicht, wenn in seiner Nachbarschaft ein Blogger ein neues Wort gefunden hat und in die Welt hinaus sendet, oder ein Physikprofessor einen neuen Botenstoff für das Smartphone gefunden zu haben glaubt. Der Physikprofessor ist für den Städter vielmehr jener Veganer, der in einen Gummimantel gehüllt auf einem zehntausend Euro teuren Fahrrad fährt und als einziger in der Straße eine durch drei Etagen gehende Achtraumwohnung hat, in der zwei Steinwayflügel stehen. Unter einem Event versteht der Städter vielmehr ein Vergnügen, das er sich selbst bereitet, indem er in große Stadien zu Ballspielen und Konzerten geht, indem er stundenlang nach Karten ansteht, um in Riesendiskotheken die Nähe zu suchen, die ihm zuhause fehlt. Selbst Fernsehsendungen hält er für ein tatsächliches Ereignis. Wir leben, es ist fast trivial zu sagen, zu mehr als der Hälfte in Filmen statt in der Realität. Zählt man zu den Filmen noch die Videosequenzen, so ist ihre fast totale Wirkung besonders auf die natives – die mit ihnen aufgewachsenen – nicht zu überschätzen. Die Stadt befasst sich also fast nur noch mit sich selbst. Sie ist ein tautologischer Ort, aber kein unbekannter. Ihre Entdeckung folgt den filmischen Spuren, die vorher schon gelegt waren. Schon vor Jahrzahnten gab es in abgelegenen afrikanischen Dörfern Fernseher, die mit Notstromaggregaten, wie wir sagen würden, betrieben wurden. Den Menschen damals in Afrika kam es aber so vor, als ob man elektrischen Strom nur dafür brauchen würde, alte amerikanische und europäische Serienfilme zu sehen. Bis heute gibt es keine nennenswerte, also identitätsstiftende afrikanische Filmproduktion. Millionen afrikanischer Jungs wollen Fußballer werden, wofür sie auch oft ungeheuer begabt sind. Nur muss man befürchten, dass sich der Bedarf in engen Grenzen hält. Wenn wir also nicht gewollt hätten, dass sich das, was und wie wir tun, verbreitet, hätten wir weder das Fernsehen noch das Smartphone erfinden und verkaufen dürfen. Ihre Relativierung, die bei uns – wenn auch mit mäßigem Erfolg – gelingt, setzt eine Bildung außerhalb tautologischer Kreise voraus. Die mediale Parallelwelt ist einerseits Finsternis gegenüber der wirklichen Welt, andererseits aber die Verwirklichung der romantischen Idee von der Poetisierung, der Durchdringung des ganzen Lebens durch Geschichten. Wir haben dabei einen Halbanalphabetismus hingenommen, indem wir die großen Geschichten lieber nachspielen statt zu lesen. Was dabei an Einbildungskraft verloren geht, wird durch die pure Masse vielleicht ersetzt. Noch deutlicher ist es in der Kunst, die noch elementarer wirkt als die großen und kleinen Narrative, die Musik. Man könnte unser Zeitalter mit Fug und Recht das musikalische nennen. Noch nie vorher ist Musik so alltäglich und allgegenwärtig gewesen, wie gerade jetzt. Fast könnte man sagen, dass die Musik in einem quasiosmotischen Prozess von der medialen  in die autochthone Welt überwechselt, ohne dass sie mechanischer Instrumente bedarf. Gleichzeitig gibt es aber eine erfreuliche Renaissance gerade dieser mechanischen Instrumente und die Allgegenwart der Musik besteht keineswegs nur aus Pop und Fahrstuhlmusik, sondern auch aus Bach und Beethoven und dem Silentnighttyp.

Die Menschen in den Millionenstädten nehmen also ihre Herkunft aus der Erde nicht mehr ernst. Sie halten sich für schaumgeboren. Da sie sich nur mit sich selbst beschäftigen, glauben sie, dass es auch nur sie selbst gibt. Um sie herum herrscht Menschenleere. Der Massencharakter ihrer Behausungen ist ihnen zwar klar, aber in der Menschenleere können sie nicht den Sinn des Ursprungs entdecken. Menschenleere ist ihnen Sinnleere. Kein Paradox ist ihnen nah. Zu dieser Entfremdung, schon aus Verehrung für die Familie Feuerbach verwenden wir gerne dieses Wort, hat sicher die Industrialisierung, also Entpersönlichung der Landwirtschaft beigetragen. Zudem ist die Erde, früher als Mutter bezeichnet, mit Chemie vollgepumpt worden, was ihre Fruchtbarkeit dankenswerterweise so erhöhte, dass der Hunger besiegt werden konnte. Gleichzeitig ging aber ihr unverwechselbar erscheinender Charakter als Mutter, als Ernährerin, als Allgebärerin verloren. Zudem sind die Rohstoffe, die unser Zeitalter bestimmen, unsichtbar. Während die Kohle in einem fast pathetisch zu nennenden Vorgang zutage gefördert wurde und sogar die Sprache bis heute beeinflusst, weiß niemand, woher die Seltenen Erden in seinem Telefon  oder woraus die Plastikteile unserer Legowelt stammen. Statt nach der reinen Milch der Vernunft sehnen wir uns nach der kommentierten und tausendfach reproduzierten Nachricht über das, was wir schon wissen.

 

*Wie die neugeborenen Kinder seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch.

 

POSTSCRIPTUM:    STADT LAND SCHLUSS

Auf dem Land beginnen hinter der Haustür die Ferien, wo der Städter Agenturen und Fluglinien zwischenschalten muss, mindestens aber eine U-Bahn. Der Städter glaubt sich in einem Versorgungscontainer, der ihn – außer dass er ihn zu versorgen hat – nicht weiter interessiert, aber der Landbewohner will auf nichts verzichten und nimmt deshalb Transportwege und Energieverschwendung in Kauf. Allerdings bleibt ihm immer noch mehr Zeit und Geld als dem Städter, da es auf seinen Wegen und in seinen Einkaufszentren keine Unterhaltung oder Ablenkung gibt.

Durch die Minimierung der Landwirtschaft auf der einen und Verlandschaftlichung der Städte auf der anderen Seite kam es zu einer ungeahnten Annäherung. Sie passierte so schnell, dass die Begriffe der Unterschiede, die es nicht mehr gibt, bestehen blieben. Die Urbanisierung hatte zwei große Schübe, und während der erste, der mit der Industrialisierung einherging, die Städte verstädterte, brach der zweite Schub ebendiese Verstädterung wieder auf. Gärten entstanden an den Rändern der Städte, die Gartenstadt wurde zum Ideal. Man wollte sie doppelt verwirklichen: in der Stadt und auf dem Land. Der Versuch, das Land mit einer ähnlichen Struktur wie die Stadt zu überziehen, ist allerdings gescheitert. Man kann in die Stadt zwar einen Garten zwängen, aber man kann den Garten, das Land, nicht auf den U-Bahn-Komfort zwingen. Der Vorteil des Landlebens bleibt ideal.

Stadt und Land haben sich so angenähert wie Mann und Frau (‚Bubikopf‘, ‚Erziehungsjahr‘, ‚Quote‘), Körper und Seele (‚psychosomatisch‘) Himmel und Erde (‚Fliegen‘, ‚Raketen‘), rechts und links (‚Lügenpresse‘). Mit dem Vorrücken der Demokratie verschwinden Hierarchie und Bipolarität. Diese Annäherung, die auch eine Auflösung altbekannter Sicherheiten darstellt, macht einer autoritätsgläubigen Menge von Menschen Angst und ermutigt eine liberale Elite. Immer wieder beschwören fundamentale Konservative die vermeintliche Ewigkeit von Fakt, Begriff und Ordnung. Aber die Welt zieht einfach weiter, die Felsen beben. Der Tsunami von Lissabon am 1. November 1755 musste, bevor er die Aufklärung brachte, erst die Gewissheit von katholischer Staatskirche hinwegfegen. Freiheit beruht auf Bewegung, die oft einem Tsunami gleicht.

Selbst Jugendliche, wenn sie autochthone Landbewohner sind, betonen die Ruhe, die man auf dem Land hat. Sie ahmen mit dieser Argumentation die Erwachsenen und die Zugezogenen nach. Ein Jugendlicher sucht nicht Ruhe, sondern Aufregendes. Aber sie wissen, dass sie ohnehin bald verschwunden sein werden. Unter dem Alibi der Ausbildung suchen sie ein aufregenderes Leben als in der so genannten Heimat. Im Internet sieht man sie beruhigt ihre Sehnsucht feiern. Wenn sie das Haus ihrer Großeltern erben, lassen sie es verfallen. Nichts bringt sie in die Ruhe zurück, nie mehr wollen sie zwanzig Kilometer fahren, weil sie vergessen haben Zigaretten zu kaufen.

Das Land ist, außer für die ein bis zwei Bauern pro Dorf und diejenigen traditionellen Bewohner, die zu alt sind, etwas neues anzufangen, nur für ehemalige Stadtmenschen interessant. Sie verdienten oder verdienen genügend Geld, um die vorhin schon erwähnten höheren Transport- und Energiekosten aufzubringen. Sie versprechen sich ein selbstbestimmteres Leben, als es in der Stadt möglich ist. Sie träumen von der Reinheit der Natur, obwohl sie von einer Landwirtschaft umgeben sind, die immer mehr zur Monokultur strebt und ihre Bodenprobleme mit Überdüngung löst. Es gibt zu viele Füchse. Aber weil es auch zu viele Rehe gibt, gibt es zu viele Jäger. Falls sie die zu vielen Ferienwohnungen mieten, gleicht sich ihre Anwesenheit durch die Zahlungen wieder aus. Sie stören die Landschaft beinahe mehr als die Windräder. Die Windräder sind allerdings der Preis oder besser der Tribut, den die menschenleeren Gegenden für ihr Privileg der Einsamkeit bringen müssen. Fährt man durch den äußersten Westen Westdeutschlands, so sieht man, dass der Preis, den diese Landschaften zahlen mussten, weitaus höher ist. Hier im Osten sind es eigentlich nur der Verfall und die Windräder, die den Menschen als Strafe auferlegt sind. Die Kreise werden immer größer und leerer. Lange war die Uckermark der größte Landkreis, ebenso groß wie das Saarland. Jetzt ist es der Kreis Mecklenburgische Seenplatte, er ist doppelt so groß wie das Saarland, das aber fast fünfmal so viele Einwohner hat.

Der Landbewohner bildet sich seine Selbstständigkeit weitgehend ein. Er geht in den gleichen Supermärkten einkaufen wie sein Gegenüber in der Großstadt. Der Vorteil des Landlebens bleibt Idealismus.

Der Städter kritisiert den Landbewohner wegen dessen Mangel an Struktur und vor allem Kultur. Der Landbewohner kritisiert den Städter wegen dessen Anonymität und Einsamkeit. Im Winter sieht der Landbewohner seine Nachbarn manchmal tagelang nicht. Der Stadtbewohner allerdings kennt angeblich seine Nachbarn namentlich nicht. Trotzdem kommt der namentlich nicht bekannte Nachbar sofort mit Enteisungsspray angerannt, wenn der Städter im Winter morgens seine Scheibe nicht vom Eis befreien kann.

Trotz der Kritik an den Städten bleiben sie bevorzugte Wohnorte. Trotz der Kritik an der Kulturlosigkeit des Landes bleibt auch das Land von bestimmten Menschen bevorzugt. Seit wir also genügend Geld haben, können wir wählen. Die Menschen in den ärmeren Ländern müssen da bleiben, wo sie sind, und das bleiben, was sie sind. Es ist zwar eine Frage des Geldes, aber auch ein Problem des Inhalts. Ganz ähnlich wie die Medien kann die Stadt dem Menschen zwar Angebote machen, aber wenn er nicht genügend Bildung oder Offenheit hat, dann kann er sie nicht annehmen und er ist dazu verurteilt, lebenslänglich fernzusehen. Auf dem Land ist es umgekehrt notwendig, dass man über genügend Bildung und Offenheit verfügt, um den Dörfern und Landschaften Angebote zu machen, damit sie nicht nur attraktiv, sondern bewohnbar bleiben.