ROUSSEAUS UHR
Eine erstaunende Parellele
Rousseau warf seine Uhr weg, obwohl er aus einer Uhrmacherfamilie stammte. Es war sein Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Selbst verschuldet ist jeder Aufenthaltsort, denn man könnte jederzeit da sein, wo man nicht unmündig gehalten wird. Dies erkannte der sechzehnjährige Jean Jacques, als er das Stadttor, den Ausgang, zum dritten Mal um neun Uhr abends verschlossen vorfand. Die meisten Menschen sagen, ja, man muss Tatsachen hinnehmen. Man kann sie nicht dafür verurteilen. Aber schon gar nicht kann man die Menschen verurteilen, die die so genannten Tatsachen nicht hinnehmen. Jesus hatte vorgeschlagen, nicht nur die Uhr wegzuwerfen, sondern sogar das rechte Auge auszureißen, wenn es uns ärgert. Das ist heute selbst als Metapher zu brutal. Wenn sogar der sanfte Jesus zu so harten Vergleichen greifen musste, um uns sein Anliegen nahe zu bringen, dann wird klar, dass Jean Jacques, der das wusste, ebenso radikal vorgehen musste. Rousseau selbst ist auch leider gleich ein Beleg dafür, dass das Streben nach Unabhängigkeit sowohl in Verfolgungswahn als auch in eine absurde Streitkultur umschlagen kann.
Goethe nannte die Unmündigkeit Marionettentheater, Nietzsche glaubte, dass die Menschheit ständig aktiv und passiv verwechselt und Freud fand schließlich das Über-Ich, die anderen, an denen wir hängen, und das Es, das aus uns hinaus will. Heute sind wir sicher: Eltern, Ämter, Medien, Partner und Partnerinnen, Adressensammler, Geheimdienste, Impfausweise und Verbrecherkarteien, sie alle wollen in unser Bewusstsein nicht nur aus investigativen Gründen, nein, sie wollen und sollen uns beherrschen, und sie tun es auch.
Was man wegwerfen will, muss man erst einmal gefunden haben. Man kann Rousseau nachmachen: Uhr und Kalender eignen sich wegen ihres Doppelcharakters gut. Sie sind einerseits die Hilfsmittel der Organisation selbst, andererseits deren Symbole. Das Nachahmen hat den großen Vorteil, dass der Erfolg schon einmal da war. Wir gesellen uns gern, gehören zu Parteiungen und Gruppierungen, sonnen uns in deren Erfolgen und fliehen ihre Misserfolge. Leider bieten die Gruppen meist Symbole zum Sammeln und Verehren, nicht zum Wegwerfen.
Wie das kleine Kind auf dem Teppich Mustern folgt, so folgen auch wir heimlichen Mustern, die auf dem Teppich des Lebens, wie wir glauben, für uns vorgezeichnet sind. Indem wir ihnen folgen, treffen wir auf der gleichen Spur auf Menschen, die uns ähnlich sind. Manche werden zu Partnern, manche zu Freunden, Geliebten gar, aber andere zu Feinden und Verächtlingen.
Hier ist es noch schwerer, den einmal erkannten Teppich zusammenzurollen und wegzuwerfen. Ludwig Wittgenstein verschenkte seine Milliarden und wurde Volksschullehrer, Karl Freiherr Drais von Sauerbronn warf seinen Adelstitel weg, nachdem er das demokratischste Fahrzeug erfunden hatte, das es bis heute gibt. Auch des Grafen Tolstoj ist hier zu gedenken, der lieber sein Geld mit dicken Bestsellern verdiente als auf dem Rücken analphabetischer geprügelter Leibeigener. Und der jüngste im Bunde ist der Mathematiker Grigorij Perelman, der die Poincaré-Vermutung löste, nämlich dass ein Gegenstand, der auf einen Kreis reduzierbar sei, auch auf den Punkt zu bringen ist, der aber, bei seiner Mutter mit Katzen lebend, auf Preise in Millionenhöhe verzichtet, weil er das übliche Leben und Treiben der Mathematiker, der Wissenschaftler überhaupt, ablehnt. Sie alle sind Käuze, Sonderlinge, aber auch Revolutionäre. Tolstojs Lebensweise begründete sogar eine sektenartige Bewegung, die noch heute in Menschen nachwirkt, die ausdrücklich geistige und körperliche Arbeit im Leben auf dem Lande zu vereinen suchen.
Gruppenmitglieder und Käuze so sehen bisher die Mutigen aus, die den Gegenstand, den sie am meisten zu brauchen glauben, der sie aber am meisten abhängig macht, wegwerfen können, die einen aus der Sicherheit der Gruppenzugehörigkeit, die andern aus der Sicherheit ihres wer weiß, woher gespeisten gesteigerten Selbstbewusstseins.
Es kommt nun darauf an, die Fähigkeit zum Erkennen des Gegenstands, der weggeworfen werden muss, bei jedermann zu entwickeln. Überließe man die Entwicklung der neuen Lehre herkömmlichen Schulräten, so würden sie ein neues Fach erfinden – WEGWERFKUNDE -, tunlichst kombiniert mit einem ebenfalls neuen Bewertungssystem.
Wir haben 1992 ein altes Landarbeiterhaus gekauft, das aus vier kleinen Wohnungen mit jeweils einem Zimmer, einer Kammer, einer Küche, einer Diele und zwei Kellern bestand. Die vier Kammern liegen zusammen und haben je einen Belüftungsschacht an der Außenwand, denn früher wurden sie mit einem Ofen beheizt, und wir nehmen an, dass der Architekt dieses auch anderswo gebauten Hauses eine zusätzliche Belüftungsmöglichkeit für erforderlich hielt. Da wir in dem Haus eine Heizung haben, benötigten wir die Luftschächte nicht und haben sie teils zugemauert, teils geöffnet. Einer ist aus Versehen in seinem alten Zustand verblieben: außen zugemauert, innerhalb der Kammer mit einer kleinen Metallklappe versehen. In diesem Frühjahr nun haben wir den Schacht geöffnet. In ihm befanden sich zwölf leere, aber äußerst gut erhaltene Flaschen HALBUNDHALB-Magenbitterlikör aus der Produktion der örtlichen Apotheke, Firma ALRICH: Alfred Richter, Urgroßvater und Großvater des heutigen Apothekers, und eine Taschenuhr. Der süchtige Bewohner der Kammer hat also auch, wie einst Rousseau, seine Uhr weggeworfen. Über die Gründe können wir nur spekulieren. Die Datierung des gesamten Fundes wird einerseits erleichtert durch den Anzeigenteil einer zerknüllten, aber noch lesbaren Zeitung. Sie hat kein erkennbares Datum. Es finden sich in ihr aber Aussaattermine importierten Weizens und Anzeigen für Konzerte in der Soppoter Waldoper unter Hans Pfitzner, so dass man annehmen kann, der zweite Weltkrieg hätte noch nicht begonnen.
Wahrscheinlich war die Uhr kaputt und der Besitzer betrunken und verärgert. Möglicherweise aber warf er sie, lange nach der Zeitung, aus Angst vor den Russen in den Schacht. Das setzt voraus, dass der Bewohner der Kammer von 1939 bis 1945 der gleiche war, und er wusste, dass die Russen die Uhr stehlen wollen würden. Das ist wieder nicht sehr wahrscheinlich. Die meisten Menschen werden von den meisten historischen Ereignissen doch eher überrascht. Es ist also nicht auszuschließen, dass der Besitzer der Uhr, ein einfacher Landarbeiter in einem uckermärkischen Dörfchen kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges, diese aus dem gleichen Grund wie der große Philosoph Rousseau wegwarf, nämlich weil ihm die Abhängigkeit von einem zwar feinen, aber doch auch nichtswürdigen mechanischen Werkchen lästig war. Zudem hatte er ja die Sonne und andere agrotechnische Hilfsmittel in zahlloser Variation zu seiner Verfügung. So stand zum Beispiel auch ein Hahn bereit. Zwar lag seine Kammer im Westen, so dass er nicht von der aufgehenden Sonne, wohl aber von seinem geräuschvoll aufstehenden Kollegen in der neben seiner Nordwestkammer liegenden Nordostkammer, vielleicht auch von dem aus der Südwestkammer oder der Südostkammer, die aber diagonal zu seiner lag, geweckt wurde. Der Hahn mag das nach Kräften unterstrichen haben.
Diese Parallele sollte uns zu schnellerem Handeln im Rousseauschen Sinne auffordern.