PUTIN ODER KEIN UNDING

Ein Depressiver klopft jeden Fakt seines Lebens, seines Tages, seiner Umgebung auf negative Anzeichen ab. In jedem Detail entdeckt er Unheil und Untergang. Zwar gibt es auch Aufhellungen, weshalb diese Krankheit auch bipolare heißt und Goethe ihr einst jenen schönen Spruch widmete: himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt, aber (schon bei Lessing kosten die Aber Überlegung) das Schwarze überwiegt, obsiegt zuletzt. Viele Depressive überleben leider diesen täglichen Kampf um den Sieg des Dunklen nicht.

Ein ähnliches Scannen jeder einzelnen Aussage, jedes noch so schönen Textes auf einen einzigen Punkt hin erleiden neuerdings jene etwa zehn Prozent der Bevölkerung, die von einem Untergang der alten Welt ausgehen. Damit ist nicht etwa eine fest definierte Idylle gemeint, das könnte man gut verstehen. In meiner Kindheit wurde zu Weihnachten aus dem damals noch beliebten Buch Als ich noch ein Waldbauernbub war von Peter Rosegger vorgelesen. Darin geht es um die fußläufige Vergangenheit eines abgeschiedenen Dorfes, die von der Eisenbahn und der Stadt überholt und verdrängt wird. Der Verfasser, ein damaliger Bestsellerautor, blendet aus, dass seine Armut auf dem Dorf erst dann zur Idylle wurde, als er mit ihrer Vermarktung viel Geld verdienen konnte. Andere, die im Dorf verblieben waren, sahen dies nach einer Weile als hinterwäldlerisch und rückständig an und träumten von Städten und Automobilen. Trotzdem gelang es Rosegger, eine fiktive Idylle zu schaffen, die vielen ein Trost in der Hektik der neuen Zeit wurde. Erinnerungen können trösten. Erinnerungen können aber auch hindern.

Angst vor der Auflösung der Gegenwart und einer unbestimmten Dunkelheit der Zukunft dagegen führen dazu, jeden Tag und jeden Text nur noch unter diesem einen einzigen Aspekt zu erleben und erlesen.

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Die Angst vor der als Bevölkerungstausch erlebten langsamen Veränderung durch Einwanderung hat ganz klar hysterische Züge, ist aber historisch nicht zu rechtfertigen. Früher hat man angenommen, dass man die Männer töten und die Frauen schwängern muss. Das war Unsinn, da es einmal keine Vollständigkeit geben kann und zum anderen solche schändlichen Aktionen – wahrscheinlich sogar wegen ihrer Schändlichkeit – episodenhaft bleiben, und ist gescheitert. Die Seitenverkehrtheit zeigt der Knabenmord des Herodes, wenn er auch einen anderen Grund hatte. Herodes hätte Maria töten müssen, wenn er Yesus verhindern wollte. Die Genozide an den Armeniern und an den Juden haben ihren Akteuren nur Schande und weitaus größere Probleme eingebracht, als sie vorher hatten. Kriege sind lange Zeit für demografisch wirksam gehalten worden. Und sie sind es auch: nur eben umgekehrt. Jedes durch Krieg bedrohte Volk erhöht auf wundersame Weise seine Geburtenzahl. Wundersam heißt, dass es keine Absprachen oder Befehle dazu gibt. Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind das exponentielle Anwachsen der palästinensischen und der kosovoalbanischen Bevölkerung.

Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich die merkwürdigsten und verrenkungsartigsten Rechtfertigungen für die Autokraten und unverständliche Angriffe auf Demokraten auf: Diktator Putin sei umsichtig, die deutsche Außenministerin Baerbock dagegen eine Kriegstreiberin. Verfolgt man die Quellen, so sieht man, dass reihenweise von den entsprechenden Seiten einfach kopiert wird.

Durch diese Möglichkeiten des Kopierens von Argumenten, ob sie nun passgenau sind oder nicht, entsteht der Eindruck von Allkompetenz. An diese Allkompetenz glauben aber nur die Kopierer selbst, denn jeder Mensch, der selber denkt und schreibt, weiß, wie wenig kompetent er ist und wie viel Mühe es macht, jeden einzelnen Fakt nachzuprüfen. Nicht das Internet ist schädlich, sondern der übertriebene Glaube an sich selbst.

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Die Welt und ein Land, eine Familie oder ein Mensch verändern sich ständig, obwohl sie versuchen, den status quo ante – den Zustand vor der Veränderung –  so lange wie möglich zu halten.

Ständig betonen wir, wie wir uns treu bleiben. Außen, sagen wir, sind wir verändert, innen aber gleich, der gleiche Mensch. Und je länger die hier einzusetzenden Jahre sind, desto absurder wird der Vergleich. Niemand ist mit fünfzig so wie mit fünfzehn. Wir haben vergessen und verdrängt, wie unsicher, wie kindlich, wie energiegeladen, wie sexualisiert, wie abhängig wir mit fünfzehn Jahren waren. Wir wollen nicht wissen oder hören, wie abgeklärt, wie uninteressiert, wie müde, wie gelangweilt, wie weltabgewandt wir mit fünfzig Jahren – gemessen an unserem Tempo nur fünfunddreißig Jahre vorher – wir dahinschleichen. Und nichts wird besser. Während  die meisten Menschen den Alterungsprozess als Schmach, jedenfalls als Abbau der Kraft erleben, entwickelt sich die Welt um uns rasant: einerseits auch in den Abgrund von Alterung und Verfall – und man staunt, wie desolat ein so reiches und ordentliches Land wie unseres an einigen Stellen aussieht -, andererseits in den Fortschritt und in das Wachstum, vor dessen vermeintlicher Unermesslichkeit Kritiker seit Jahrzehnten warnen. Würden wir auf Teile des Wachstums verzichten, könnten wir den Verfall aufhalten. Es gibt leider sehr viele Beispiele für ungebremstes Wachstum, das uns direkt schadet. Aber es gibt auch zwei jüngste Beispiele, wie die Ungebremstheit doch angehalten werden kann: schon zehn Millionen Menschen in Deutschland sind Vegetarier, weil Wachstum und Wohlstand hier nicht nur mit Tierleid kollidieren, sondern auch mit direkter Verseuchung der Umwelt mit Gülle und Kohlendioxyd, Methan und Stickoxiden. In den Städten unbemerkt tobt jedes Jahr auf deutschen Feldern der Kampf zwischen Bauern und Umweltbehörden um die Ausbringung von Abermillionen Litern Gülle trotz gefrorenen und überwässerten Bodens. Und: die Verwendung von Plastiktüten konnte in den letzten fünf Jahren um mehr als die Hälfte reduziert werden. Der Teppich aus Plastikteilen hat im Nordatlantik inzwischen die Größe von Mitteleuropa erreicht. Diese beiden Beispiele zeigen, wie sehr und wie schnell wir die Welt verändern können. Nicht das Kapital alleine macht unsere Welt kaputt. Das Kapital kann nur schaden, wenn wir kooperieren, indem wir konsumieren. Je größer der Wohlstand, desto größer der Schaden – diese Formel muss, als visionäres Ziel der Menschheit, umgedreht werden, indem jeder, der am Wohlstand teilhat, diesen auch weiter teilt. Das Bild des Teilens ist im Internet Allgemeingut der Menschheit geworden. Jetzt müssen wir nur noch lernen, statt die Fotos unseres Mittagessens unser Mittagessen zu teilen, am besten sogar, darauf zu verzichten.

Die ununterbrochene Veränderung kann man nicht mit Parolen oder politischen Parteien aufhalten, auch nicht mit Weltkriegen. Politische Bewegungen werden aber immer wieder versuchen, ihren Wählern zu suggerieren, dass es pro Problem eine Lösung ohne Nebenwirkungen gibt. Das toxisch-aggressive Ehepaar aus Merzig im unterhöhlten Saarland, übrigens ein wunderschöner und uralter Ort, versucht immer wieder mit dem Abspielen der gleichen Schallplatte, heute Vinyl genannt, uns zu erschrecken: er mit seinem Antiamerikalied, sie mit ihrem Song ‚Enteignet die Banken bumsfallera‘. Der Nutzen dieser beiden ist etwa so groß wie der einer Plastiktüte im Nordatlantik.

3

Mit der am 18. Juli 1870 beschlossenen und verkündeten Unfehlbarkeit des Papstes war natürlich nur gemeint, dass der Papst in Streitfragen das letzte Wort habe. Aber Pius IX. versäumte nicht gleichzeitig mitzuteilen, dass, wer dem widersprechen würde – was Gott verhüten möge – ausgeschlossen würde. Man bemerkte nicht, dass man sich damit letztlich selbst ausgeschlossen hat: weltweit sind nur noch ein Viertel der Menschen Christen, in Deutschland sind in beiden Konfessionen weniger als die Hälfte, weniger als ein Zehntel geht regelmäßig zum Gottesdienst.

Es ist immer das gleiche: jemand findet etwas heraus, und dann maßt er oder seltener sie sich an, dass es nur noch diese eine Wahrheit gibt, alle anderen werden ausgeschlossen, und dass es nur diese eine berechtigte, beamtete und heilbringende Person gibt, die sie vertreten darf, weil alle anderen mit Irrtum und Sünde bestraft sind. Wahrscheinlich war Hitler wirklich der größte Sozialdarwinist. Immer wieder hat er in seinen bis zu vier Stunden dauernden Monologen dieselben Geschichten vom Recht des Stärkeren erzählt. Offensichtlich hatte er weder Rousseau noch Darwin gelesen. Putin hat Dogin gelesen und weiß daher, dass die Ukraine keine eigenständige Nation und die russische Armee die zweitstärkste der Welt ist. Deshalb kann, was da geschieht, dass die Russen nämlich haushoch verlieren, nicht richtig und schon gar nicht gut sein. Es ist der ewige Kartoffelkäfer, der vom Feind auf die eigenen Felder gesetzt wird. Aber das gilt natürlich auch umgekehrt: Wir waren doch immer Pazifisten und wissen, dass man mit Waffen keinen Frieden schaffen kann. Weil wir recht haben, muss sich die Ukraine ergeben.

In jedem Glauben und in jedem Wissen steckt der Virus der Unfehlbarkeit. Erst glauben wir uns richtig, dann wissen wir uns wichtig. Wir hätten längst vergessen, dass die einst mächtige Kanzlerin in der Griechenlandkrise gesagt hat, was sie tut, sei alternativlos, wenn sich nicht nach der Flüchtlingskrise eine Partei namens Alternative gegründet hätte, die die Regierung jagen wollte, nun aber – durch ihren eigenen Unfehlbarkeitsanspruch – sich selbst mangels Kompetenz und Durchhaltevermögen aus dem Rennen genommen hat.

Bei Putin sind trotz dieser Übereinstimmung mit einem Grundprinzip menschlichen Verhaltens zwei Dinge dennoch absonderlich.

Er hat sein Handwerk im KGB gelernt, aber die Verhaltensmuster der Geheimdienste sind nicht so gravierend unterschiedlich. Sie gleichen sich auch in ihrer Ineffektivität. So musste Putin in Dresden mitansehen, wie seine und die Ostberliner Vasallenregierung vom Hauch der Geschichte weggeblasen wurde. Vielleicht beschloss er da, wie Hitler in Pasewalk, alles anders zu machen. Nun wird er selbst, wie Hitler in Berlin, hinweggeblasen.

Das erste zu beobachtende Absurde ist, dass er auch als vermeintlich allmächtiger Diktator immer wieder dieselben Tricks anwendet, die dadurch natürlich schon lang keine Tricks mehr sind, weil sie von allen durchschaut werden können. Er merkt auch nicht, dass seine ihm jetzt untergebenen Geheimdienstchefs dieselben Methoden anwenden und denselben Korruptionsgrad aufweisen wie er selbst. So sollen die Geheimdienstchefs 100 Millionen Dollar, mit denen Agenten in der Ukraine angeheuert und bezahlt werden sollten, in die eigene Tasche gesteckt haben.    

Die zweite Absonderlichkeit ist, dass so viele Bewohner Russlands, wahrscheinlich weil sie das Grundnarrativ angenommen haben, dass nämlich der russische Nationalcharakter an sich unfehlbar sei, ihrem korrupten, eitlen und letztlich aber verlierenden Führer immer noch glauben. Man muss die Staatsmedien in Rechnung stellen, die Niederschlagung jeder widersprechenden Regung: das ‚wer widerspricht, wird ausgeschlossen‘ dieses seltsamen Papstes, der damit, wie Putin jetzt, seinen eigenen Untergang besiegelt hat.

Es ist schwer an sich selbst zu glauben und dabei vergangene, gegenwärtige und künftige Fehler nicht gegenzurechnen, sondern einzubeziehen: ich bin meine Fehler und Erfolge. Wer den Fehler bei sich sucht, hat den Täter schnell gefunden. Fangen wir noch heute damit an.  

MOONLIGHT

Kafkas dekonstruierende Kinder

Wir sind ohne Vater schon beschnitten genug, aber die Sucht der Mutter – und sei es Selbstsucht – lähmt uns vollständig. Romane und Filme des coming of age gibt es viele, und einige sind sehr gut und weltberühmt. Aber oft enden sie ‚draußen vor der Tür‘, so ein berühmter coming of age Titel, zeigen den Weg aus der verrotteten Welt der Eltern, aber weiter wissen sie auch nicht. Der Leser ahnt dann, dass der Protagonist der Autor wurde, der sich eben nicht erschossen hat, sondern mit der story in der Satteltasche floh.

Chiron, ein afroamerikanischer Junge in einer ausschließlich von Afroamerikanern bewohnten Gegend, wird schon als Kind Schwuchtel genannt. Auch seine Mutter, die ihm ein Leid nach dem anderen zufügt, findet ihn zu weich. Der aus Kuba eingewanderte Dealer Juan nimmt sich seiner an, als er wieder einmal von einer Meute verfolgt wird. Chirons Problem ist nicht, dass er ’schwarz‘ oder ‚Schwuchtel‘ ist. Er ist zu weich für diese Welt und er hat zu wenige Menschen, die ihn mögen, aber Juan und seine offensichtlich ebenso kinderliebe wie kinderlose Freundin gehören ab sofort dazu. Und von Anfang an hat er einen einzigen Freund, Kevin, der ihn nicht für ein Weichei hält. Chiron erleidet die Pubertät mehr, als dass er sie erlebt. Der einzige Hinweis, dass er in sexueller Hinsicht anders sein könnte, ist der zärtliche Sex, den er mit Kevin am Strand hat, aber der geht von Kevin aus und Kevin, der mit seinen Mädchengeschichten prahlt, bemerkt die Unerfahrenheit Chirons, sein fast ängstliches Suchen mit den Lippen und Händen. Und eben dieser einzige Freund Kevin wird von der ebenso bösen wie hässlichen Schulgang gezwungen, Chiron niederzuschlagen.

Chiron, auch von der Sozialarbeiterin gedemütigt, die es gut mit ihm meint, greift zu der Abwehr, die er kennt, zu der Gewalt, die ihn umgibt, zu dem einzigen Ausweg, den er in die Ecke gedrängt sehen kann, wenn er weiterleben will: er zerschlägt im Klassenraum der Highschool einen Stuhl und den Schädel des Anführers.

Kann sich der Mensch selbst erschaffen? Von Religionen und Realisten wird das vehement bestritten. Die Literatur der letzten hundert Jahre versucht dagegen den Umgang des Menschen mit sich immer konstruktiver zu zeigen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sich parallel dazu Geschlechtsumwandlungen und Wandlungen vom Tod zum Leben ereignen. Orhan Pamuk hat uns gerade einen Roman** geschenkt, der einen sehr einfachen, aber desto lieberen Menschen, den Straßenhändler Mevlut Karataş in Istanbul, in eine falsche Familiengeschichte hineingeraten lässt. Er schreibt an die richtige Schwester Liebesbriefe, die aus Textbausteinen bestehen, und entführt und heiratet dann die falsche Schwester und liebt sie. Um ihn herum wird eine falsche Stadt aus Gecekondus gebaut, Hütten, die in einer Nacht errichtet werden und deshalb keiner Baugenehmigung bedürfen. Paul Auster schreibt dagegen einen, seinen, Roman*** über die Varianten des Lebens, die wir alle mehr oder weniger tatsächlich erleben. Jedes Denken ist Wunsch. Jede Biografie ist auch Traum und Zerstörung. Keineswegs benötigt man, wie ein Kritiker schrieb, eine Tabelle, um sich alle Varianten merken zu können, vielmehr wird die Persönlichkeit des kleinen Archibald  Ferguson um die Nuancen reicher und reicher, die seine Träume, Varianten und Verstellungen ausmachen. Paul Auster beruft sich schließlich auf das literarische Programm: die Verwandlung eines Menschen in einen Käfer****.

Das Problem des Jungen Chiron ist nicht so sehr, dass er vom Bösen umgeben ist. Auch als er im Gefängnis ist, es bleibt offen, ob der offen böse Gangleader überlebt, ist anscheinend nicht das Böse sein Problem. Er ist so still und verschlossen, dass er zwar das typische Opfer zu sein scheint, aber er ist auch nicht offen für den breiten Weg und die breite Pforte. Überall sind die Gefängnisse voller Menschen, die schon in ihrem Unglück gefangen sind. Das Böse heute ist nicht böser, als es schon immer war, aber das Gute ist auch genauso unsichtbar wie schon immer. Das Ideal des harten Dealers ist, nicht weich zu sein, wie Juan, als er den verfolgten zarten und weichen Knaben entdeckt, sondern ein Auto, das allein mit seinem Motorgeräusch die Gasse erschüttert. Der Dealer wird nicht zum Leader, obwohl das ein Anagramm und demzufolge eine wunderbare Lösung wäre. Statt dessen steckt der Dealer selbst in einem zu Tränen rührenden Dilemma, wenn ihm eines seiner Opfer plötzlich statt als Schlampe als Mensch, als Mutter und eben als Opfer bewusst wird. Die Mutter hingegen mag sich lange nicht damit abfinden, dass jemand anderes, jemand besseres sich um ihr geliebtes Kind kümmert. Erst in der altersweisen Schlussszene, und das ist eine der größten Leistungen des Films, die so genannten einfachen Menschen, die Opfer der Drogen und der Gesellschaft, als weise und milde zu zeigen, obwohl sie auch hart und gewalttätig sein könnten und auch oft genug sind, erst in der altersweisen Schlussszene in der Drogenklinik bekennt sich die Mutter zu ihren Fehlern und damit zu dem notwendigen Ersatzvater Juan. Chiron fehlt, wo das höchste Ideal der Deal ist, das röhrende Auto, der Dealer als Leader, der Sinn. Ein Sinn steckt nur in tiefer Menschlichkeit, die verschiedene Quellen haben kann, Vorbild, Philosophie, Religion, Leid, Verlust, selten Gewinn. Nicht die Anwesenheit des Bösen, sondern die Abwesenheit des Guten ist das Problem für Menschen in unbehüteten Verhältnissen. Die Sinnleere ist die schlimmste Lehre, die ein Mensch erfahren kann.

Auch filmisch ist MOONLIGHT ein Meisterwerk. Besonders stark sind die inszenatorischen Stanley Kubrick Zitate. Die Gewaltszenen dehnen sich unendlich, unaushaltbar, teilweise ohne Ton, teilweise mit klassischer Musik oder hip hop unterlegt. Die Taufszene, Chiron lernt in den Armen von Juan schwimmen, ist der Schlüssel zum Verständnis des Lebens: nur, wer schwimmen kann, kann das schmutzige feindliche Meer des Lebens überstehen. Irgendwann, sagt Juan zu Chiron, musst du dich entscheiden, wer du bist. Es gibt ein kleines Castingproblem, in dem weder Chiron noch Kevin als Erwachsene richtig gut zu erkennen sind. Die erwachsenen Schauspieler haben das aber mit großem darstellerischen Können überspielt: sie ahmen die Gesten, die Mimik, die Bewegungen ihrer jüngeren Kollegen meisterhaft nach. Wir Menschen bestehen in der Tat nicht nur aus Aussehen, sondern auch aus Charakter und Taten. Der hart-weiche Drogendealer Chiron mit dem noch größeren Auto ist immer noch das sensible motherless child aus dem Blues und aus dem griechischen Mythos, zu Tränen fähig und trotzdem im Leben verankert, wenn auch im falschen. Mit Paul Austers Protagonisten Ferguson könnte er sagen: ‚Ich bin du. Wer sollte ich denn sonst sein?‘ Das ist deshalb kein Film über Schwule oder Schwulsein, sondern über die Konstruktion des Menschen, der immer eine Dekonstruktion vorausgehen muss. Es gibt wohl doch ein richtiges Leben im falschen.

Der kreative Akt

Das Konstrukt dieser Geschichte erlaubt nur eine Lösung. Wenn es aber möglich ist, und auch das ist eine Botschaft des Films, sich aus der Katastrophe herauszukonstruieren, dann muss es auch möglich sein, sich in ein besseres Leben hineinzukonstruieren. Ein Zweistundenfilm kann nicht das komplexe Leben zeigen, sondern nur eine Möglichkeit. Nie gibt es nur einen Grund oder eine Lösung oder eine Katastrophe.  Langston Hughes, der erste afroamerikanische Lyriker Amerikas, war bus-boy und legte einem zufällig anwesenden Dichter seine Gedichte unter den Teller. Langston Hughes wurde entdeckt, gedruckt und berühmt, steht heute in allen Schulbüchern Amerikas: I, too, sing America. James Baldwin ist sogar unserem Chiron, dem Protagonisten aus Moonlight, mit der alleinstehenden Mutter ganz nahe. Und schließlich stammt der erste schwarze Millionär ebenfalls aus dem Süden, aus New Orleans, aus dem Waisenhaus und aus dem Slum: Louis Armstrong. Zur Konstruktion des Lebens gehören nicht nur Talente und Förderer, sondern auch Glück. Das ist bei der Konstruktion von Geschichten nicht anders.

Armstrong spielte in der funeral band des Waisenhauses auf einem zerbeulten Horn, wie er sein Kornett auch später noch nannte, Baldwin und Hughes haben von Anfang ihres Lebens an immer gelesen und geschrieben. Aber in all diesen wirklichen oder konstruierten Biografien geht es nicht um schwarz oder schwul oder weiß oder Ehe mit Kind, sondern um die Frage, ob und wie man einem durch die vielzitierten Umstände, und früher glaubte man durch ein prädestinierendes Schicksal, vorbestimmtem Leben folgen muss oder ausweichen kann.

Neben den Eltern und ihrem sozialen Milieu und dem Drang zum Überleben mit seinem Zwang zu kontinuierlichem entfremdetem Tun, aus dem sich diese unsägliche Erniedrigung der Arbeitswelt, schließlich auch sogar die Prostitution und Sklaverei ergeben, gibt es seit der Antike den transzendenten Bereich der Schamanen, Dichter, Priester und Lehrer. Unsere Vorfahren vor hunderttausenden Jahren haben die Jagd gespielt, bevor sie jagen gingen, haben getanzt bis zur Trance, bevor sie erwachsen werden durften, haben ihr Bewusstsein mit Drogen erweitert, bevor sie wissen wollten und wissen durften.

Lange Zeit war Kunst elitär, aber durch Religion, Bauten und Schule wenigstens minimal präsent, Religion diskriminierend, aber immer auch tröstend und Schule nur fundamental, aber das auch wieder lange Zeit elitär. Globalisierung ist also immer auch als Universalisierung zu verstehen. Die Schule musste von der Alphabetisierung (Lateinschule) zu einem universellen Instrument der Integration werden. Deshalb ist jede Kritik an der so genannten Verflachung oder Entelitärisierung verfehlt. Die Emanzipation der Frauen, der Schwarzen und der Schwulen fand im wesentlichen in der Schule statt, während die stupid white old men in Weißen Häusern und Petersdomen vor sich hinvegetieren. Das klingt ein bisschen wie Argumentation aus den sechziger Jahren, aber wir reden über Moonlight, den Film, und wir reden über Berlin und Deutschland, das es geschafft hat aus der Hauptstadt der Diskriminierung zu einer der Hauptstädte der Globalisierung und Fraternisierung zu werden. Der Begriff der Fraternisierung (in Abgrenzung zur Verbrüderung als allgemeiner Kooperation) stammt aus dem ersten Weltkrieg, der in spieltheoretischer Sicht als Nullsummenspiel gesehen werden kann, der Sieg der einen Seite war die Niederlage der anderen, und das heißt, dass Untätigkeit und Entfeindung des Feindes ein notwendiges Verhalten war. Überhaupt darf man die beiden Großkatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur unter dem Aspekt des Völkermords und der sinnlosen Zerstörung sehen. Sie sind das Ende einer mörderischen Epoche und die Geburt der Epoche der Globalisierung und Fraternisierung, hier im Sinne von Emanzipation, Gleichmachung vor allem  auch von Menschengruppen mit konstruierter Differenz oder Feindschaft gemeint. Fraternisierung fand vor allem auch im intersexuellen Bereich statt, wir erinnern an das unschöne Wort Rheinlandbastard und an die schöne Tatsache, dass es hunderttausende schwarze Deutsche erst gab, seit Heinrich Himmler deutscher Innenminister war. Damit wir uns nicht missverstehen: nach der äußersten mörderischsten Diskriminierung kam die schöne und weitere Schönheit hervorbringende Fraternisation. General Robertson, der britische Oberkommandierende im Nachkriegsdeutschland, forderte die amerikanischen und britischen Soldaten auf, sich als Besatzer so zu verhalten, dass den Deutschen der Besatzungs- und Gewaltzustand vergessen gemacht werden könnte. (SPIEGEL 14/1948).

Juan im Film MOONLIGHT sagt, weil er glaubt, dass Chiron vielleicht unter seiner Hautfarbe leiden könnte, dass es schwarze Menschen überall gibt. Chirons Problem ist aber nicht seine Hautfarbe, sondern sein Mangel an Sinn. Er weiß nicht, wohin mit sich und seinen Tränen. Ihm bleibt nur das Zerfließen.

Aber seit Louis Armstrong ist die Kunst allgegenwärtig, wenn auch oft dem Kommerz oder einer Ideologie folgend, die Religion säkularisiert, wenn auch oft politisch instrumentalisiert, und die Schule wenigstens im Aufbruch, mal durch sinnlose Verwaltung, mal durch die eigenen Traditionen oder Inkompetenz gehemmt.

Wie hätte nun der kleine traurige Chiron und Millionen anderer trauriger Kinder etwas Besseres werden können als weicher Drogendealer oder Sklave auf dem Arbeitsmarkt, was schon beinahe ein Privileg ist?

Wir müssen eine Schule schaffen, die nicht Kübel vermeintlicher Fakten und vorgeblicher Kausalzusammenhänge über die Kinder ausschüttet oder sogar mit Trichtern zu infiltrieren versucht, sondern in der jedes Ich Ich sein kann und Wege ausprobieren, um zu dem Ich zu werden, was in der Hülle des kindlichen Ichs verborgen war. Wir sehen in dem Film und in den Wirklichkeiten unserer Welt Jugendliche doppelt scheitern – erst werden sie gemobbt und zusammengeschlagen und schlagen zusammen, dann werden sie bestenfalls Elendsdealer -, und sollten nicht endlich die Idee einer neuen Schule haben?

GEGEN DIE ZERSTÖRUNG DER WELT GIBT ES NUR EINE VERTEIDIGUNG: DEN KREATIVEN AKT. [Kenneth Rexroth]

Wir müssen es wagen, Schule, Kunst und transzendente Orientierung in einer Institution zu vereinen, die so wenig wie möglich Institution und Hierarchie sein darf und in der Künstler, Priester und Lehrer und die Rezipienten als Akteure soviel ICH wie möglich entwickeln können. Wir folgen damit John Deweys learning by doing, Rezeption als Aktion. Jede Aktion hat 1000 Gründe.

Die radikale Bildungsreform wäre das Dreispartenmodell: Theater, Fußball und Scouting. Wir folgen damit Lord Baden-Powell. In der Sparte Theater finden sich alle Sprachen, die eigene und zwei oder drei Fremdsprachen, Literatur vor allem als Schreiben, Philosophie im antiken Sinn als umfassendes Nachdenken einschließlich Religion und Psychologie, Rollenspiel, aber auch Musik, Malerei, Polytechnik. Jeder Schüler gehorcht seinen Neigungen, muss aber überall auch aushelfen. Fußball bedient den Bewegungsdrang und die Notwendigkeit der Bewegung, aber auch Strategie und Taktik, Spieltheorie, Kooperation, Teamwork und Teamgeist, Freude. Wir folgen damit Fröbel und Montessori. Es gibt natürlich Alternativen für die Fußballallergiker, ohnehin zerlegt das Training des Fußballs sich in verschiedene Sportarten, die auch einzeln gewählt werden können. Jeder Schüler gehorcht seinen Neigungen. Die dritte Sparte schließlich ist das Scouting, das Aufsuchen der Spuren des Menschen in der Natur und der Natur im Menschen. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie finden in der Natur statt. Die Schüler können sich spezialisieren du ihren Neigungen gehorchen oder befehlen. Spieltheorie ist die Verbindung zu den beiden anderen Sparten. Es gibt keine Prüfungen und Zensuren, sondern nur Projekte mit ausführlicher Auswertung, die erfolgreich oder weniger erfolgreich sind.

Utopisch war auch der Ersatz des Bruttosozialprodukts durch das Bruttonationalglück. Utopisch war auch die Sozialversicherung. Utopisch war auch das Fliegen oder Telefonieren, das Fernsehen, die Raumfahrt oder das Automobil. Manchmal erscheint einem das Glück unter einem riesigen Berg von Vorurteilen frei daliegend und der Diskurs darüber ertrinkt in Worten. Man muss das Glück nur ausgraben und ergreifen.

Vielleicht ist das mit Auferstehung gemeint.

Schwerin, Ostern 2017

*          MOONLIGHT von Barry Jenkins, nach dem Theaterstück von Terell Alvin McCraney, 2016

**        Orhan Pamuk, DIESE FREMDHEIT IN MIR, 2014

***       Paul Auster, 4321, 2017

****     Franz Kafka, DIE VERWANDLUNG, 1912

sieben thesen über uns menschen

[protokoll eines gesprächs in der medienschmiede zu grünow]

der mensch ist von natur aus irrational und muss sich zur vernunft zwingen wie der süchtige zur abstinenz. 

1

je weiter wir uns individualisieren, desto mehr scheint es uns, dass es den definierten menschen gar nicht mehr gäbe, aber dieser schein übersieht unsere globalisierug und vermassung, unsere abhängigkeit von elektronischen kommunikationsmitteln, überhaupt von nachrichten.

2

die natur des menschen, glaubt der mensch, ist das menschsein, weswegen er sich unzählige ideologien schafft, mit denen er sich über die natur und über seine natur hinwegzusetzen versucht. letztlich holt sie ihn auf dem friedhof ein.

3

irrational zu sein, unmathematisch, ist nicht zweitrangig. der mensch lebt nicht nur in seiner geschichte, sondern überhaupt in geschichten. das erzählte zählt und nicht die zahl. aber die technik, die auf der zahl beruht, ist selbst zur legende geworden. 

4

vernunft ist der elitäre sonderweg. nur wer die glühbirne erfindet, braucht keinen führer. führer sind charismatisch und gerade deshalb nicht vernünftig, aber nicht im sinne von unvernünftig, sondern als einsamer gipfel der irrationalität.

da wir – wie die musca domestica an der fensterscheibe – nach freiheit streben, kann uns niemand zwingen, auch nicht durch unterwerfung, versklavung und tod. selbst die gekreuzigten, erschossenen und vergasten leben in uns und damit mit uns weiter.

6

süchtig sind wir alle. da abstinenz auch durch gehorsam erzwungen werden kann, ist sie nicht mit vernunft identisch, das wird nur von den führern behauptet. die führer sind also nicht der ariadnefaden, sondern das unentrinnbare labyrinth.

7

abstinenz ist die kehrseite – und nicht die leerseite – der kraft. sie ist das atemholen der selbstgewählten vernunft. deshalb sind gute rhetoriker keine guten politiker.

HERR ÜBER DIE ASCHEN

[An evil enemy will burn his own nation to the ground to rule over the ashes.  African proverb]

Jede und jeder kennt die großen Geschichten und weiß, wie sie ausgehen. Aber je mehr Geschichten es gibt, desto geringer wird ihre Strahlkraft. David war ein Hütejunge, der seinen großen Brüdern, die als Soldaten dienten, den Brotbeutel bringen sollte. Er kam genau im richtigen Moment, als nämlich die Motivation des Heeres angesichts eines übermächtigen Feindes gegen Null ging. Als dann noch der berühmteste Philosoph des Landes zur Kapitulation aufrief, griff der König zum allerletzten Mittel: er versprach demjenigen, der das Monster besiegen würde, seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich. Selbstverständlich ist aufzugeben eine Option, aber der Mensch – und auch das Tier – neigt dazu, sein ererbtes oder erworbenes Revier oder Reich erhalten zu wollen. Er greift also zu den gleichen Waffen wie der Angreifer, das Monster. Zwischen den beiden Lösungen, die beide zu einem Gleichgewicht führen, liegt aber noch eine dritte Möglichkeit: die Flucht, die weder ein Aufgeben, denn man nimmt das Erworbene als Tradition mit, noch eine Auseinandersetzung mit Blutvergießen und Tod ist. Oder aber der berühmteste Philosoph des Landes hatte Unrecht: seine Voraussetzung, dass der übermächtige Feind nicht zu schlagen sei, war falsch. Auch der König und Oberbefehlshaber kann Unrecht gehabt haben und die gewählten Waffen waren falsch. In der Geschichte greift David jedenfalls zum Katapult und schießt dem Monster sein einziges Auge aus. Vielleicht ist das sogar die Hauptaussage: das Böse sieht die Welt immer höchst verzerrt, weil es nur ein Auge hat. Es kann die Gegenseite gar nicht sehen. Es sieht nur seine Seite. Ceauşescu und Macbeth bemerkten nicht, warum der Wald auf sie zukommt und Massen in Bukarest sich entfernen. Sie waren auf diesem Auge blind. Putin sah nicht, dass die bestellten und bezahlten Menschen, die im Luschniki-Stadion als Claqueure bereit standen und saßen, mit ihren Handys spielten und lebhaft miteinander schwatzten, denn sie klatschten auf Kommando und mussten demzufolge nicht zuhören. Stattdessen freute er sich, der monströse Staatenlenker im 12.000-€-Mantel aus Italien, dass die Claqueure tatsächlich an den von ihm selbst vorbezeichneten Stellen klatschten und Urrraaa riefen. Inzwischen zeigt sich, dass in dem ungleichen Ringen das kleinere Land gewinnen kann, nicht weil es militärisch, sondern weil es moralisch überlegen ist.

Einer von den Davids des zwanzigsten Jahrhunderts wird leicht vergessen: Polen. Nach einer unsäglich tragischen Geschichte der Teilungen und Vereinnahmungen begann das Jahrhundert nicht nur mit dem ersten Weltkrieg, sondern mit dem missglückten Versuch der Bolschewiki, sich Polen nebenbei zu holen und dem erfolgreichen Eingreifen deutscher Freischärler bei der heute vergessenen Teilung Oberschlesiens. Allerdings war Polen in der Zwischenkriegszeit selbst ein autokratisch geführtes, wenn nicht sogar protofaschistisches Land, das seinerseits auch Gebietsansprüche hatte und durchsetzte (polnisches Litauen, mährisches Oberschlesien). Der zweite Weltkrieg jedoch begann mit dem synchronisierten Überfall Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion auf Polen und seiner erneuten Teilung. Die Kombination von Massenmord und apologetischer Propaganda wurde in dieser Zeit nicht erfunden, erreichte aber mit dem ‚Bromberger Blutsonntag‘ und dem Massaker von Katyn vorputinsche Tiefpunkte. Auf deutscher Seite war einer der Hauptprotagonisten Edwin Erich Dwinger (‚Die volksdeutsche Passion‘), auf sowjetischer Seite der stellvertretende NKWD-Chef Wsewolod Merkulow.

Auf deutscher Seite hielt sich lange die propagandistische Version des ‚17-Tage-Feldzugs‘, in dem Polen untergegangen sei. Tatsächlich ist Polen nicht nur nicht besiegt worden, sondern gehörte zurecht zu den Siegermächten des zweiten Weltkriegs. Dass die polnische Kavallerie gegen die deutschen Panzer mit Lanzen vorging, wie auch Günter Grass in den tragikomischen ‚Polnische-Post‘-Kapiteln seines weltberühmten Romans ‚Die Blechtrommel‘ beschreibt, ist nicht dem Anachronismus – wie bei dem legendären, aber gescheiterten Reitergeneral Budjonny – geschuldet, sondern im Gegenteil einem verzweifelten Heroismus. Zwei Exilarmeen, zwei Exilregierungen, der Aufstand im Warschauer Ghetto (1943) und schließlich der Warschauer Aufstand (1944) belegen den ungebrochenen Willen: jeszcze Polska nie zginęła. Nach der letztlich erfolgreichen Westverschiebung Polens begann aber noch einmal eine Phase der nationalen Erniedrigungen: der äußerst erfolgreiche sowjetische Marschall Rokossowski wurde polnischer Verteidigungsminister. Das ist auch ein eklatanter Fall von Überschätzung der Herkunft, er stammte zwar aus Polen, sprach aber kein Polnisch mehr. Kurzerhand befahl er allen polnischen Offizieren, künftig Russisch zu sprechen.

1956, 1970 und 1980 stand Polen nach der DDR, aber vor Ungarn und der Tschechoslowakei an der Spitze der Ausbruchsversuche aus dem gescheiterten Staatssozialismus, auf dessen Tribünen von Moskau handverlesene und gesteuerte Marionetten agierten, jedoch meist nur winkten statt wirkten.  

Viele polnische Menschen waren Helden, viele aber auch Opfer, und etwa ebenso viele gingen ins Ausland: nach Deutschland, in die USA und nach Kanada, nach Schweden und neuerdings auch nach Großbritannien.

Polen ist und bleibt der unbekannte David, der nie aufgegeben hat. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Polen so viele Ukrainerinnen und Ukrainer aufnimmt und Deutschlands Opportunismus scharf attackiert. Und es wundert uns auch nicht, dass der selbst ernannte Hobbyhistoriker Putin aus all den Desastern seiner Autokratenkollegen nichts gelernt hat als lange Tische gegen Viren. Immer, seit Sulla (138-78 BC), behaupten sie alle, dass sie den Staat retten wollen, die Nation, die verlorenen Brüder – denn Schwestern zählen für sie nicht – heimholen (Irredentismus). Immer liegen ihre Ziele in einer nebulösen Vergangenheit. Immer sieht sich der Führer in einer pseudoreligiösen, ingeniösen Position, die claqueristische oder echte Verehrung hat kultische Züge. Immer wird auch das eigene Land in Schutt und Asche gelegt.