
Ein Depressiver klopft jeden Fakt seines Lebens, seines Tages, seiner Umgebung auf negative Anzeichen ab. In jedem Detail entdeckt er Unheil und Untergang. Zwar gibt es auch Aufhellungen, weshalb diese Krankheit auch bipolare heißt und Goethe ihr einst jenen schönen Spruch widmete: himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt, aber (schon bei Lessing kosten die Aber Überlegung) das Schwarze überwiegt, obsiegt zuletzt. Viele Depressive überleben leider diesen täglichen Kampf um den Sieg des Dunklen nicht.
Ein ähnliches Scannen jeder einzelnen Aussage, jedes noch so schönen Textes auf einen einzigen Punkt hin erleiden neuerdings jene etwa zehn Prozent der Bevölkerung, die von einem Untergang der alten Welt ausgehen. Damit ist nicht etwa eine fest definierte Idylle gemeint, das könnte man gut verstehen. In meiner Kindheit wurde zu Weihnachten aus dem damals noch beliebten Buch Als ich noch ein Waldbauernbub war von Peter Rosegger vorgelesen. Darin geht es um die fußläufige Vergangenheit eines abgeschiedenen Dorfes, die von der Eisenbahn und der Stadt überholt und verdrängt wird. Der Verfasser, ein damaliger Bestsellerautor, blendet aus, dass seine Armut auf dem Dorf erst dann zur Idylle wurde, als er mit ihrer Vermarktung viel Geld verdienen konnte. Andere, die im Dorf verblieben waren, sahen dies nach einer Weile als hinterwäldlerisch und rückständig an und träumten von Städten und Automobilen. Trotzdem gelang es Rosegger, eine fiktive Idylle zu schaffen, die vielen ein Trost in der Hektik der neuen Zeit wurde. Erinnerungen können trösten. Erinnerungen können aber auch hindern.
Angst vor der Auflösung der Gegenwart und einer unbestimmten Dunkelheit der Zukunft dagegen führen dazu, jeden Tag und jeden Text nur noch unter diesem einen einzigen Aspekt zu erleben und erlesen.
1
Die Angst vor der als Bevölkerungstausch erlebten langsamen Veränderung durch Einwanderung hat ganz klar hysterische Züge, ist aber historisch nicht zu rechtfertigen. Früher hat man angenommen, dass man die Männer töten und die Frauen schwängern muss. Das war Unsinn, da es einmal keine Vollständigkeit geben kann und zum anderen solche schändlichen Aktionen – wahrscheinlich sogar wegen ihrer Schändlichkeit – episodenhaft bleiben, und ist gescheitert. Die Seitenverkehrtheit zeigt der Knabenmord des Herodes, wenn er auch einen anderen Grund hatte. Herodes hätte Maria töten müssen, wenn er Yesus verhindern wollte. Die Genozide an den Armeniern und an den Juden haben ihren Akteuren nur Schande und weitaus größere Probleme eingebracht, als sie vorher hatten. Kriege sind lange Zeit für demografisch wirksam gehalten worden. Und sie sind es auch: nur eben umgekehrt. Jedes durch Krieg bedrohte Volk erhöht auf wundersame Weise seine Geburtenzahl. Wundersam heißt, dass es keine Absprachen oder Befehle dazu gibt. Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind das exponentielle Anwachsen der palästinensischen und der kosovoalbanischen Bevölkerung.
Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich die merkwürdigsten und verrenkungsartigsten Rechtfertigungen für die Autokraten und unverständliche Angriffe auf Demokraten auf: Diktator Putin sei umsichtig, die deutsche Außenministerin Baerbock dagegen eine Kriegstreiberin. Verfolgt man die Quellen, so sieht man, dass reihenweise von den entsprechenden Seiten einfach kopiert wird.
Durch diese Möglichkeiten des Kopierens von Argumenten, ob sie nun passgenau sind oder nicht, entsteht der Eindruck von Allkompetenz. An diese Allkompetenz glauben aber nur die Kopierer selbst, denn jeder Mensch, der selber denkt und schreibt, weiß, wie wenig kompetent er ist und wie viel Mühe es macht, jeden einzelnen Fakt nachzuprüfen. Nicht das Internet ist schädlich, sondern der übertriebene Glaube an sich selbst.
2
Die Welt und ein Land, eine Familie oder ein Mensch verändern sich ständig, obwohl sie versuchen, den status quo ante – den Zustand vor der Veränderung – so lange wie möglich zu halten.
Ständig betonen wir, wie wir uns treu bleiben. Außen, sagen wir, sind wir verändert, innen aber gleich, der gleiche Mensch. Und je länger die hier einzusetzenden Jahre sind, desto absurder wird der Vergleich. Niemand ist mit fünfzig so wie mit fünfzehn. Wir haben vergessen und verdrängt, wie unsicher, wie kindlich, wie energiegeladen, wie sexualisiert, wie abhängig wir mit fünfzehn Jahren waren. Wir wollen nicht wissen oder hören, wie abgeklärt, wie uninteressiert, wie müde, wie gelangweilt, wie weltabgewandt wir mit fünfzig Jahren – gemessen an unserem Tempo nur fünfunddreißig Jahre vorher – wir dahinschleichen. Und nichts wird besser. Während die meisten Menschen den Alterungsprozess als Schmach, jedenfalls als Abbau der Kraft erleben, entwickelt sich die Welt um uns rasant: einerseits auch in den Abgrund von Alterung und Verfall – und man staunt, wie desolat ein so reiches und ordentliches Land wie unseres an einigen Stellen aussieht -, andererseits in den Fortschritt und in das Wachstum, vor dessen vermeintlicher Unermesslichkeit Kritiker seit Jahrzehnten warnen. Würden wir auf Teile des Wachstums verzichten, könnten wir den Verfall aufhalten. Es gibt leider sehr viele Beispiele für ungebremstes Wachstum, das uns direkt schadet. Aber es gibt auch zwei jüngste Beispiele, wie die Ungebremstheit doch angehalten werden kann: schon zehn Millionen Menschen in Deutschland sind Vegetarier, weil Wachstum und Wohlstand hier nicht nur mit Tierleid kollidieren, sondern auch mit direkter Verseuchung der Umwelt mit Gülle und Kohlendioxyd, Methan und Stickoxiden. In den Städten unbemerkt tobt jedes Jahr auf deutschen Feldern der Kampf zwischen Bauern und Umweltbehörden um die Ausbringung von Abermillionen Litern Gülle trotz gefrorenen und überwässerten Bodens. Und: die Verwendung von Plastiktüten konnte in den letzten fünf Jahren um mehr als die Hälfte reduziert werden. Der Teppich aus Plastikteilen hat im Nordatlantik inzwischen die Größe von Mitteleuropa erreicht. Diese beiden Beispiele zeigen, wie sehr und wie schnell wir die Welt verändern können. Nicht das Kapital alleine macht unsere Welt kaputt. Das Kapital kann nur schaden, wenn wir kooperieren, indem wir konsumieren. Je größer der Wohlstand, desto größer der Schaden – diese Formel muss, als visionäres Ziel der Menschheit, umgedreht werden, indem jeder, der am Wohlstand teilhat, diesen auch weiter teilt. Das Bild des Teilens ist im Internet Allgemeingut der Menschheit geworden. Jetzt müssen wir nur noch lernen, statt die Fotos unseres Mittagessens unser Mittagessen zu teilen, am besten sogar, darauf zu verzichten.
Die ununterbrochene Veränderung kann man nicht mit Parolen oder politischen Parteien aufhalten, auch nicht mit Weltkriegen. Politische Bewegungen werden aber immer wieder versuchen, ihren Wählern zu suggerieren, dass es pro Problem eine Lösung ohne Nebenwirkungen gibt. Das toxisch-aggressive Ehepaar aus Merzig im unterhöhlten Saarland, übrigens ein wunderschöner und uralter Ort, versucht immer wieder mit dem Abspielen der gleichen Schallplatte, heute Vinyl genannt, uns zu erschrecken: er mit seinem Antiamerikalied, sie mit ihrem Song ‚Enteignet die Banken bumsfallera‘. Der Nutzen dieser beiden ist etwa so groß wie der einer Plastiktüte im Nordatlantik.
3
Mit der am 18. Juli 1870 beschlossenen und verkündeten Unfehlbarkeit des Papstes war natürlich nur gemeint, dass der Papst in Streitfragen das letzte Wort habe. Aber Pius IX. versäumte nicht gleichzeitig mitzuteilen, dass, wer dem widersprechen würde – was Gott verhüten möge – ausgeschlossen würde. Man bemerkte nicht, dass man sich damit letztlich selbst ausgeschlossen hat: weltweit sind nur noch ein Viertel der Menschen Christen, in Deutschland sind in beiden Konfessionen weniger als die Hälfte, weniger als ein Zehntel geht regelmäßig zum Gottesdienst.
Es ist immer das gleiche: jemand findet etwas heraus, und dann maßt er oder seltener sie sich an, dass es nur noch diese eine Wahrheit gibt, alle anderen werden ausgeschlossen, und dass es nur diese eine berechtigte, beamtete und heilbringende Person gibt, die sie vertreten darf, weil alle anderen mit Irrtum und Sünde bestraft sind. Wahrscheinlich war Hitler wirklich der größte Sozialdarwinist. Immer wieder hat er in seinen bis zu vier Stunden dauernden Monologen dieselben Geschichten vom Recht des Stärkeren erzählt. Offensichtlich hatte er weder Rousseau noch Darwin gelesen. Putin hat Dogin gelesen und weiß daher, dass die Ukraine keine eigenständige Nation und die russische Armee die zweitstärkste der Welt ist. Deshalb kann, was da geschieht, dass die Russen nämlich haushoch verlieren, nicht richtig und schon gar nicht gut sein. Es ist der ewige Kartoffelkäfer, der vom Feind auf die eigenen Felder gesetzt wird. Aber das gilt natürlich auch umgekehrt: Wir waren doch immer Pazifisten und wissen, dass man mit Waffen keinen Frieden schaffen kann. Weil wir recht haben, muss sich die Ukraine ergeben.
In jedem Glauben und in jedem Wissen steckt der Virus der Unfehlbarkeit. Erst glauben wir uns richtig, dann wissen wir uns wichtig. Wir hätten längst vergessen, dass die einst mächtige Kanzlerin in der Griechenlandkrise gesagt hat, was sie tut, sei alternativlos, wenn sich nicht nach der Flüchtlingskrise eine Partei namens Alternative gegründet hätte, die die Regierung jagen wollte, nun aber – durch ihren eigenen Unfehlbarkeitsanspruch – sich selbst mangels Kompetenz und Durchhaltevermögen aus dem Rennen genommen hat.
Bei Putin sind trotz dieser Übereinstimmung mit einem Grundprinzip menschlichen Verhaltens zwei Dinge dennoch absonderlich.
Er hat sein Handwerk im KGB gelernt, aber die Verhaltensmuster der Geheimdienste sind nicht so gravierend unterschiedlich. Sie gleichen sich auch in ihrer Ineffektivität. So musste Putin in Dresden mitansehen, wie seine und die Ostberliner Vasallenregierung vom Hauch der Geschichte weggeblasen wurde. Vielleicht beschloss er da, wie Hitler in Pasewalk, alles anders zu machen. Nun wird er selbst, wie Hitler in Berlin, hinweggeblasen.
Das erste zu beobachtende Absurde ist, dass er auch als vermeintlich allmächtiger Diktator immer wieder dieselben Tricks anwendet, die dadurch natürlich schon lang keine Tricks mehr sind, weil sie von allen durchschaut werden können. Er merkt auch nicht, dass seine ihm jetzt untergebenen Geheimdienstchefs dieselben Methoden anwenden und denselben Korruptionsgrad aufweisen wie er selbst. So sollen die Geheimdienstchefs 100 Millionen Dollar, mit denen Agenten in der Ukraine angeheuert und bezahlt werden sollten, in die eigene Tasche gesteckt haben.
Die zweite Absonderlichkeit ist, dass so viele Bewohner Russlands, wahrscheinlich weil sie das Grundnarrativ angenommen haben, dass nämlich der russische Nationalcharakter an sich unfehlbar sei, ihrem korrupten, eitlen und letztlich aber verlierenden Führer immer noch glauben. Man muss die Staatsmedien in Rechnung stellen, die Niederschlagung jeder widersprechenden Regung: das ‚wer widerspricht, wird ausgeschlossen‘ dieses seltsamen Papstes, der damit, wie Putin jetzt, seinen eigenen Untergang besiegelt hat.
Es ist schwer an sich selbst zu glauben und dabei vergangene, gegenwärtige und künftige Fehler nicht gegenzurechnen, sondern einzubeziehen: ich bin meine Fehler und Erfolge. Wer den Fehler bei sich sucht, hat den Täter schnell gefunden. Fangen wir noch heute damit an.