BELLINCHEN

BELLINCHEN (BIELINEK)

1000 Worte Sommerferien

Der Mensch hat vier Urgroßmütter und vier Urgroßväter, aber nicht alle ragen gleichermaßen in die Gegenwart hinein. Das kann nur derjenige der Großeltern, der eine lebendige Erbengemeinschaft hinterließ, der ein Haus gebaut hat, das heute noch steht, der eine Firma gegründet hat, die es heute noch gibt, oder der seine Erinnerungen so interessant und umfänglich aufschrieb, dass sie heute noch Bedeutung haben. Das alles tat mein Urgroßvater Robert Wendt (1850-1939), und zurecht ist er in der Familie die Legende geblieben, die er schon zu Lebzeiten war: er lief mit seiner Gitarre von zuhause fort, gründete eine Familie und eine Firma, baute ein Haus und baute noch ein zweites Haus, wurde zeitweilig sehr reich, verlor aber seinen Besitz durch Krieg und Inflation wieder. Aber das Haus steht noch und wir pflegen die Legende des kleinen, aber äußerst geschickten Großhandwerksmeisters. Klein blieb er deshalb, so schreibt er in seinen Erinnerungen, weil sein verbrecherischer Lehrmeister, der 100 Taler Lehrgeld genommen hatte, ihn und einen weiteren Lehrling Bleiweiß mischen ließ, ohne auch nur darauf hinzuweisen, dass der Umgang mit dem höchst giftigen Material höchst gefährlich war. Er verachtete ihn so sehr, dass er glaubte, er, der Meister, hätte selbst nicht gewusst, dass Bleiweiß giftig ist. Und er lief das erste Mal weg und suchte sich einen neuen Lehrmeister.
die neue ist die alte kirche
Über drei Generationen hinweg wurde nicht nur die Geschichte des erfolgreichen self made man erzählt. All die fast 150 Jahre wurde auch immer wieder betont, wie schwer es ihm gefallen war, von zuhause wegzugehen, was für ein Paradies er verlassen musste, um der Mann zu werden, der er werden wollte und wohl auch sollte und der er schließlich wurde.

Hätten wir einen Biologen mitgeführt, so hätte er uns gleich die jumping spiders und die äußerst seltene quercus pubescens zeigen können, aber selbst wir Laien bemerkten sofort die Verfolgung durch Riesenhornissen und die Umspielung durch bunteste Superlibellen. Insgesamt gibt es 6000 Tierarten allein in dem kleinen Tal zwischen Bellinchen (Bielinek) und Nieder Lübbichow (Lubiechow Dolny).
Das Tal entstand durch eine nach Süden gerichtete Moräne, die direkt auf die Oderarme zeigt und dadurch ein pontisches Binnenklima entstehen ließ, ein Klima wie an der Südküste des Schwarzen Meeres.
Diese Straße, die in Nieder Lübbichow mit einer Eiche beginnt, die so groß und dick ist, dass unsere Vorväter sie eingemauert haben, mag unser Urgroßvater oft gelaufen oder mit dem Pferdewagen gefahren sein, auch später noch, als er schon in Zehden (Cedynia) lernte.
Das Haus seiner Eltern, das übrigens eine Kate war, in der die Eltern wohnten, obwohl sie einen Lastkahn besaßen, das Haus ist uns überliefert durch kleine Ölgemälde, die er aber als alter Mann malte, so dass ihr Realitätsgehalt durch Erinnerung, Perspektive und Fähigkeiten stark eingeschränkt sein mag. Aber Kunst ist ja ohnehin nicht das Abbild der Wirklichkeit, wie ja Wirklichkeit auch nicht das Abbild der Welt ist. Dazwischen ist immer der Mensch, in diesem Fall unser Urgroßvater. Wir fanden zwei Häuser, die, 1 ½ Jahrhunderte Veränderung hinzu und hinweg gedacht, mit seinem Bild übereinstimmen könnten. Der Friedhof kann das Opfer einer Flut oder des berechtigten, zum mindesten verständlichen Deutschenhasses geworden sein. Ob man überhaupt moralisch die Werke seiner Vorgänger zerstören können sollte und dürfte, das mag ein höherer Richter entscheiden. Zu der Größe, den anderen zu akzeptieren, auch wenn er mich vernichten will, werden sich wohl erst künftige Geschlechter zusammenraffen können, aber dann ist da ja wohl niemand mehr, der einen anderen vernichten will. Ein durch und durch erfreuliches Signal ist dagegen der Kirchturm: er wurde in der Form des alten Kirchturmes der neuen Kirche beigegeben, so dass Bellinchen so wie schon immer in die Vergangenheit blicken kann.
Aber was sieht es da?
In tausend Jahren fanden in diesem wunderschönen Winkel, in diesem paradiesischen Tal, in der Idylle der Idylle zwei Schlachten statt. Am 24. Juni 972 wurde der Lausitzer Markgraf Hodo vom Piastenherzog Mieszko I. geschlagen, im März 1945 kämpfte Stalin gegen Hitler, aber gewonnen hat eigentlich wieder Polen. Der Museumsverwalter in Cedynia zeigt uns, was er alles gefunden hat: Waffen, Helme, Knochen. Dagegen ist die Töpferscheibe natürlich langweilig, aber sie macht das Menschsein aus, nicht der Krieg. Manche deuten das so, dass Menschheit und Krieg, Gewalt und Macht eben immer zusammen gehören. Wir stehen gerade im Paradies, aus dem unser Urgroßvater stammt, und sind wohl auch deshalb der Meinung, dass die letzten beiden großen Kriege in Europa Atavismen waren, Rückfälle in die Vergangenheit, in der die Welt leichter zu begreifen war, weil die Begriffe primitiver waren: gut und böse. Wer sich selbst auch nur mit einem Hauch Aufrichtigkeit beobachtet, weiß, wie eng bei ihm selbst gut und böse zusammenliegen. Sie sind sozusagen verheiratet und suhlen sich im Bett der Amoral. Nicht die Welt ist dichotomisch, sondern unser Kopf. Wir sind mit dem Binärcode zur Welt gekommen. Wir benutzen ihn, um die Welt wie durch einen Fleischwolf hindurchzupressen. Es bleibt, wie bei unserer Großmutter am Fleischwolf, ein hässlicher Rest, über den wir meist schweigen. Ein letztes Mal ist die Menschheit, jedenfalls die europäische, darauf hereingefallen, die Welt einfach doppelt zu sehen: die Guten, die Bösen, Gott wurde hingegen schon mit der Vorsehung für kompatibel erklärt. Diese wurde dann unter den Kommunisten noch einmal gegen das ‚Gesetz‘ eingetauscht, und – keiner hats gemerkt – schon waren wir wieder bei Moses.
Der schwere, mühselige und komplizierte Weg, die außerdem enge Pforte, ist die Demokratie, der Pluralismus, das Eingeständnis, keine Antwort, ja zuweilen noch nicht einmal eine Frage zu haben. Viele merken zum Beispiel gar nicht, dass der Sozialstaat keine natürliche Lebensform ist, sondern eine – um es pathetisch auszudrücken – täglich neu zu erringende, sozusagen die emphatische Empathie, gelebte Nächstenliebe ohne pastorales Interpretationsmonopol, fragil-funktionierendes Allmende-Dilemma.
Nachdem wir doch schon gemerkt haben, dass sehr vieles so funktioniert wie Ökosysteme, nämlich selbstregulierend, entropisch, also wegstrebend vom Gleichgewicht, und antikatalytisch, also die Katalysatoren verbrauchend, sollten wir auch wieder in die Natur gehen und begreifen, dass die Welt nicht dichotomisch, nicht leicht, nicht gerecht, nicht paradiesisch, aber auch nicht paranoid ist, obwohl so vieles neben dem Verstand zu sein scheint. Aber der Verstand bleibt immer noch neben der Welt, und Wahn und Welt kann man oft nicht auseinanderhalten! Was der Hornisse guttut, die man im Übrigen nicht fürchten muss, täte auch uns gut: mehr Selbstzufriedenheit. Denn je unzufriedener wir mit der Gegenwart sind, desto mehr zerstören wir unsere eigne Zukunft und die der jumping spiders aus dem Naturschutzgebiet Bellinchen-Bielinek.

jumping spider Springspinne
quercus pubescens Flaumeiche