Monat: Februar 2010
du glaubst es nicht oder wozu philosophie
DIE GALILEISCHE KUTSCHE
SEELENRUHE ALS MENSCHENRECHT
SEELENRUHE ALS MENSCHENRECHT
Erinnerung an Seneca
Viele Menschen waren empört und erstaunt, als der Moderator im Radio sagte: Sie stehen nicht im Stau, Sie sind der Stau! Vor einer Kaufhalle in Ostberlin predigte ein junger Mann der Schlange: Wenn ihr nicht anstehen würdet, müsste man nicht anstehen, es würde alles ohne anstehen geben, wenn ihr nicht anstehen würdet.
Die Zeit ist so schnelllebig, weil ihr so schnell lebt. Man kann nicht vor sich fliehen, auch wenn man noch so weit reist. Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass man wo anders auch anders werden kann. Nicht die Dinge sind schuld, sondern wir. So schreibt Seneca, eines seiner Werke heißt: Von der Seelenruhe, und so ist der Ton: ruhig, fließend, beruhigend. Seine Texte sind aber nicht beruhigend wie Trostworte oder Worte für den Tag, sondern aufregend, intellektuell, scharfsinnig. Wer also annimmt, diese so genannte und viel zitierte Schnelllebigkeit sei eine ganz heutige Erscheinung, zumindest aber ein Produkt der Leistungsgesellschaft, irrt und übersieht, dass es das gleiche Thema mit der gleichen Kritik schon im Barockgedicht, in Shakespeares Zeit-Sonetten (XII, XV, XVI, XIX, LIX, LXII, LXIV) und eben bei Seneca gegeben hat. Bei Shakespeare steht die kürzeste Lösung, dass es nämlich gegen den blutigen Tyrannen, die gefräßige Zeit nur einen Schutz gibt: Hinterlassenschaft. Geld und Dinge sind selber zu flüchtig und übrigens auch zu inflationär, um hinterlassen werden zu können. Hinterlassen kann man nur, was man selber gezeugt oder erzeugt hat, Kreationen im besten und im doppelten Sinn des Wortes, Kinder und geistige Produkte. Die Forderung, kreativ zu sein, bezieht sich also keinesfalls nur auf das Verbringen der Zeit, sondern vor allem auf die Folgen, die wir der Nachwelt hinterlassen, kurz: den Sinn des Lebens. Man sagt ja auch: die Zeit totschlagen. Das ist das Gegenteil von Kreativität, vom Hervorbringen neuer Dinge und Menschen.
Man könnte also sagen, dass Seneca das input-output-Problem gemeint hat. So viele Menschen verwechseln input und output oder aktiv und passiv, wie es bei Nietzsche heißt. Wer zum Beispiel annimmt, dass er etwas tut, wenn er kauft oder Musik hört, irrt sich. Musik machen und allenfalls verkaufen, aber da kann man auch nicht sicher sein, ob nicht nur das Herstellen wirklich output ist. Das Paradox unserer Zeit besteht darin, dass wir zu viel Zeit haben und zu viele Möglichkeiten, diese Zeit zu töten, zu verbringen, zu vergeuden, ohne unsere ebenfalls beträchtlichen Kraftreserven dafür einzusetzen. Wir alle glauben überdies, dass wir zu wenig Zeit hätten, so wie viele Menschen ja auch glauben, dass sie zu wenig Geld hätten. Sie merken nicht, dass sie zu viele Wünsche haben, nicht zu wenig Geld. Es scheint so, dass mit der Zeit umso verschwenderischer umgegangen wird, je mehr man davon hat. Je weniger man davon hat, als desto wertvoller erscheint sie. Das klingt völlig trivial, wird aber wenig erkannt. Die meisten Menschen bemerken diesen Zusammenhang erst im Alter und, man könnte etwas gehässig hinzufügen, wenn es zu spät ist. Deshalb kommt es nicht darauf an, zu mahnen und zu warnen, sondern von vornherein Kreativität zu lehren. Das muss man einem Kind nicht zweimal sagen, es ist schon kreativ. Es kann dichten, komponieren, malen, tanzen und konstruieren. In der Schule stehen zwei Probleme der Kreativität im Wege: erstens die Zensuren und zweitens die immer noch vorhandene Stoff- oder Wissenslastigkeit. Solange man die Vorstellung hat, dass Bildung oder Lebensvorbereitung in einem Höchstmaß höchst zweifelhafter Fakten besteht, solange wird Kreativität behindert. Senecas berühmtester Satz wurde von eifrigen Lehrern in sein Gegenteil verkehrt: Nicht für das Leben, für die Schule lernen wir! (106. Brief an Lucilius). Zensuren beschämen mehr, als dass sie helfen. Sie geben vor, ein objektiver Gradmesser für abgepacktes Wissen zu sein. Wissen kann man kaufen, Erfahrungen und Kreativität dagegen nicht. Der Einwand, dass schon allein das Wort Kreativität inflationär gebraucht würde, schwächt sich selber dadurch ab, dass man erinnert, wie oft die Worte Wissen oder Fakten ge- und missbraucht wurden. Diese Kreativität, wenn sie den Kindern erhalten bleibt, statt wie jetzt gegen so genanntes Faktenwissen, Zensurenstreben und Konkurrenzverhalten eingetauscht zu werden, bedarf der inneren Ruhe, des Selbstbewusstseins und der Kraft. Diese Faktoren kann man nicht lernen wie das Einmaleins oder die binomischen Formeln, aber man kann Bedingungen schaffen, unter denen diese Faktoren gedeihen können. Genau genommen sind es, wie die Zeit, keine Faktoren, keine immanenten Inhaltsbestandteile, sondern Bedingungen.
Außer der alten dichotomischen Teilung in Form und Inhalt (HEGEL) haben wir noch etwas Drittes hervorgebracht, nämlich Container, Beinhalter, die Inhalt sein können, aber eben nicht sind. Das klassische Beispiel ist der Computer. Eindeutig ist er Form, Werkzeug, Maschine, von vielen wird er aber genau so eindeutig mit dem Inhalt verwechselt. Auf unseren Gegenstand bezogen heißt das, Zeit, Seelenruhe, Kreativität sind die Bedingungen, die wir uns gegenseitig schaffen müssen, um der Flüchtigkeit durch Hinterlassenschaft zu entkommen. Eine Gesellschaft, die es geschafft hat, den natürlichen Solidargedanken zu formalisieren und in ein Versicherungssystem zu gießen, das die Armut abschafft, eine Gesellschaft, die es geschafft hat, aus der ständigen Mangelwirtschaft eine Überflusswirtschaft zu machen, eine Gesellschaft schließlich, der es gelang, so stark zu werden, dass sie immer wieder riesige materielle Fehler kompensieren kann (zwei Weltkriege, Vertreibung, Teilung), eine solche Gesellschaft sollte auch imstande sein, ihr Bildungs- und Solidarsystem von den Kriterien der Leistungsgesellschaft in die der Kreativgesellschaft zu überführen. Solche Paradigmenwechsel gelangen auch schon früher: Bismarcksche Sozialgesetzgebung, Umstellung des Schulsystems auf berufliche und vor allem mathematisch-naturwissenschaftliche Forderungen, Demokratisierung der Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg, deutsche Wiedervereinigung.
Sehr zu Recht wurden im letzten Jahrhundert hundert Rechte, Selbstverständlichkeiten, zu Menschenrechten erklärt. Die Seelenruhe gehört bis jetzt nicht dazu, obwohl sie ganz offensichtlich Voraussetzung für Kreativität und Stärke ist.