DEJA VU

Vor ein paar Tagen rief mich unser Pfarrer an und fragte, ob ich am Sonntag im Gottesdienst Orgel spielen könnte. Er selbst und sein neuester Aushilfsorganist seien im Urlaub. Ich spielte, aber leider wieder einmal frisch, aber nicht perfekt. Während der Predigt, die mich nicht besonders berührte, weil ich nicht glaube, dass Mose oder Yesus als historische Personen fassbar und demzufolge gültig interpretierbar seien, vielmehr ist nur ihre Rolle im Menschheitsdenken interessant: als Begründer des Monotheismus und der Menschlichkeit, der Abkehr von Rache und Strafe, während dieser Predigt stand ich an der Balustrade der Orgelempore, zählte die Gottesdienstbesucher, es waren dreizehn, und sah in der letzten Reihe eine Frau, die auf dem Liedblatt mitschrieb. Schrieb sie die Predigt mit, machte sie sich Gedanken wie ich, etwa dass die Wendung des Menschen zur Menschlichkeit zwar durch Reformation und Buchdruck, dann durch Aufklärung* und Demokratie verstärkt, schließlich durch den Sozialstaat unterstützt worden, aber immer noch weit davon entfernt ist, verstanden und verwirklicht zu werden? Wer liebt schon seine Feinde? Wer geht – genötigt – zwei Meilen statt einer? Wer wartet mit seiner Empörung auf den fehlerlosen ersten Steinwerfer?

Die gutgekleidete, etwas mehr als mittelalte Frau in der letzten Kirchenbank – ich sah sie leider  nur von oben – schrieb mit einem Bleistift auf das Liedblatt. Und plötzlich sprang die Erinnerung fast sechzig Jahre zurück: als ich auf einer letzten Kirchenbank gesessen hatte und für einen Zuträger der Stasi** gehalten worden war.

Auf einem Orgelkurs im Havelberger Dom hatte ich eine Pfarrerstochter kennengelernt, die ich besuchen wollte. Ich glaube heute nicht, dass einer von uns beiden an eine ernsthafte Beziehung dachte. Eher war es ein Ausprobieren, ein Überprüfen der Erzählungen in der jeweiligen Wirklichkeit. Ich fuhr tatsächlich zu ihr, aber sie nicht zu mir. Am Havelberger Dom wirkte damals Kirchenmusikdirektor Herbert Basche, der eigentlich für die Kirchenmusikschule der Bekennenden Kirche in Stettin-Finkenwalde vorgesehen war. Durch den Krieg und durch – vielleicht – Intrigen, vielleicht aber auch durch unterschiedliche Talente und Interessen wurde diese Kirchenmusikschule nach dem Krieg nach Greifswald verlegt und von Hans Pflugbeil und seiner Frau Annelise aufgebaut und geleitet. Ihr Sohn war Physiker und dann Bürgerrechtler. Hans Pflugbeil hatte im Krieg durch eine schwere Verwundung den rechten Arm verloren. Er hat sich dann das gesamte Orgelrepertoire für die linke Hand und das Pedal angeeignet, so dass der Laie im Greifswalder Dom keinen oder kaum einen Unterschied hörte. Insofern ist er ein spätes Pendent zu Paul Wittgenstein, der allerdings in seinem doppelten Irrtum begeistert in den ersten Weltkrieg gezogen war. Pflugbeil ging gezwungen in den zweiten. Um diesem möglichen Schicksal zu entgehen, hat sich der Berliner Domkantor und bedeutende Komponist Hugo Distler in seiner Dienstwohnung in der Berliner Bauhofstraße mit  Gas das Leben genommen. Wittgenstein stammte aus einer Wiener Milliardärs-Familie und war der Bruder des Musik- und Philosophiegenies Ludwig Wittgenstein, der in seinem Realschuljahr in Linz auf einen anderen Knaben getroffen war, der wie er ganze Opern pfeifen konnte: Adolf Hitler. Die Legende geht, dass er aus dieser Knabenfeindschaft für sich den Auftrag generierte, den Wehrmachtscode der ENIGMAMASCHINE (enigMAMAschine) zu knacken. Sein Bruder Paul hingegen hat aus einer Mischung von Verbitterung und Trotz ein Riesenrepertoire für die linke Hand geschaffen. Er bezahlte bedeutende Komponisten für Werke, die nur für ihn und seine linke Hand bestimmt waren, das berühmteste Beispiel ist Ravels Klavierkonzert D-Dur, das gigantisch-virtuos und düster-tragisch zugleich ist.

Herbert Basche dagegen bekam mit dem Havelberger Dom ein – auch historisch – bedeutsames romanisch-romantisches Ensemble mit übergroßer Strahlkraft, aber mit der D-Kirchenmusiker Ausbildung die allerletzten Brosamen. Er tröstete sich mit imposanten improvisierten Choralvorspielen und Bachinterpretationen, bei denen ich ihm die Noten blättern durfte. Er konnte mich nicht besonders gut leiden, aber niemand anderes in unserem Kurs war als page turner geeignet. Leider habe ich auch nicht besonders viel gelernt, aber das lag weder an ihm noch an unserem gespannten Verhältnis, sondern lediglich an meinem Talentmangel.

Dagegen hat mich das spätromanische Bauensemble, vor allem aber der wuchtige und riesige Dom selbst, berührt und eingenommen. Noch heute ist der Kreuzgang für mich eine Metapher für Gedankengang. Noch heute erstarre ich in Ehrfurcht vor der Baukunst und Hocherhabenheit der drei Schiffe, in denen die sich verabschiedende Romanik mit der frischen Gotik streitet. Der Lettner ist für mich heute noch unerreichte Kunstfertig- und Symbolhaftigkeit. Viel später lernte ich die Werke der besten Berliner Akustikarchitekten August Orth und Hans Scharoun kennen, hier aber gab es namenlos himmelsgleiche Akustik. Die Orgel von Gottlieb Scholtze, dem Wagnerschüler aus Neuruppin, erschien mir unter den Händen des von mir sehr verehrten Meisters nicht nur als unerreicht, sondern als unerreichbar. Aber auch der Blick über die kleine, damals baulich etwas verkommene Stadt, die Insellage, die Mittelalterstruktur, die damals schon überflüssige Stadtkirche, deren Scholtze-Orgel jetzt endlich, in diesem Jahr, restauriert worden ist, all das hat mir eine Idylle hergezaubert, die auch durch die Schelte des Meisters DU MUSST DIE TASTE EINFACH DRÜCKEN nicht beschädigt werden konnte. Sie hält noch heute vor und jedes Jahr einmal fahre ich nach Havelberg.

In das Dorf, in dem die Pfarrerstochter lebte, kam ich an einem Passionssonntag früh, aber zu spät, um den Beginn des Gottesdienstes mitzuerleben. Deshalb war ich auch nicht dort. Die Kirchentür knarrte und quietschte. Alle drehten sich nach mir um. Anfang der 60er Jahre wurden im Westen blaue Mäntel aus Nylon Mode, von uns NATO-PLANE genannt. Da unsere weitläufige Westverwandtschaft nur standardisierte Lebensmittelpakete schickte, blieb mir nichts anderes übrig, als meine Mutter um das ostdeutsche Gegenstück, einen DEDERON-MANTEL zu bitten. Mit dem rauschte ich in die schöne kleine Dorfkirche. An den Namen des Dorfes kann ich mich nicht erinnern. Sorbische Frauen sangen ein furchtbar trauriges Passionslied, das sechzehn Strophen hatte. Viel später, nach der Wiedervereinigung, hörte ich in der Sebastiankirche im Berliner Wedding ein ganz ähnliches kroatisches Lied. Das sangen die Frauen aber nicht nur wegen Yesus, sondern vor allem auch, weil ihr Pfarrer, von dem, es hieß, dass er sehr reich sei, wieder einmal betrunken war und nicht kommen konnte. Die Frauen warteten kurzweilig mit dem überlangen Lied.

Damals in dem Dorf bei Cottbus hat das ellenlange Lied bei mir eine kurze und leider nicht sehr intensive sorbische Phase ausgelöst. Vielleicht hatte sie ihren Ursprung schon in Lübbenau. Die Pfarrerstochter freute sich nach dem Gottesdienst, dass ich da war. Es war auch wohl eine ziemliche logistische Leistung, am Sonntagmorgen vom nördlichen Ostberliner Rand in den Spreewald zu gelangen. Ich war zum Mittag eingeladen und der Pfarrer erzählte, wie schnell und intensiv er vor dem vermeintlichen Stasispitzel in der letzten Reihe gewarnt worden war. Wir waren amüsiert und erleichtert.

Erst jetzt, durch das harmlose Erlebnis in der Brüssower Kirche, versuchte ich herauszufinden, in welchem Dorf ein Pfarrer G. amtierte. Es war nicht möglich. Stattdessen ergab sich, dass der Bruder meiner Pfarrerstochter später nicht nur selber Pfarrer, sondern ein bekannter Bürgerrechtler wurde, der zusammen mit Markus Meckel im Pfarrhaus zu Schwante die SPD-Ost neu geründete. Meckel und Pflugbeil wurden Minister, G. Fraktionsvorsitzender.

Nur der Havelberger Basche ist aus dem Leben und den Annalen verschwunden. Noch nicht einmal eine von der Ost-CDU 1983 herausgegebene Broschüre über die Kirchenmusik in der DDR erwähnt ihn. Nur auf einer CD der ehemaligen Berliner Domorganistin Martina Pohl findet sich ein Werk, das nur in einer handschriftlichen Version von Herbert Basche existiert. Und so zeigt sich, dass jede biografische Notiz zugleich auch ein Denkmal für andere Menschen ist.  

*das englische Wort für Aufklärung enlightenment zieht die gerade Linie zurück bis zur Sonnenanbetung Echnatons und Tutenchamuns, die beide, Vater und Sohn , auch ein schönes Sinnbild für das Auf und Ab, das Hin und Her, das Erscheinen und Verschwinden der alten und der neuen Götter und Welten sind. Damals schon!

**Staatssicherheitsdienst der DDR

DIE NEOBRANDENBURGISCHE REVOLUTION

 

Nr. 346

I

Von 1248 an wurde in einer winzigen norddeutschen Stadt eine riesige, wunderschöne Kirche gebaut. Das Problem der Verzierungen löste der uns unbekannte Baumeister, indem er mit gebrannten Formsteinen die Wimperge (spitzhohe Tür- und Fensterverzierungen) und Fialen (Türmchen) nachahmte, die im Süden Europas, etwa in Florenz, Reims oder Köln, aus Stein gemeißelt sind. Somit entstand einer der prächtigsten Ostgiebel im ganzen Norden Europas. Mehrmals stürzte die Kirche ein, im Dreißigjährigen Krieg haben sich Christen, die nicht nur nicht töten, sondern sogar ihre Feinde lieben sollen, gegenseitig in ihr massakriert. Dann aber wurde der geniale großherzogliche Baumeister Friedrich Wilhelm Buttel, ein Schüler Schinkels und Zeitgenosse Stülers, mit der vollständigen Rekonstruktion beauftragt. Das Ergebnis war ein Meisterwerk, zeitgleich entstand seine neogotische Schlosskirche in der benachbarten Residenzstadt. Das neogotisch umgeformte hochgotische Backsteinmeisterwerk wurde eines der beliebten Motive des romantischen Malers Caspar David Friedrich.

Das Großherzogtum ging im ersten Weltkrieg unter, die kleine Stadt und die großartige Kirche erst im zweiten Weltkrieg. Wie durch ein Wunder oder als eine symbolische Vorbedeutung blieb aber, wie im benachbarten Prenzlau, der Ostgiebel fast unzerstört stehen. Als Ruine musste die Kirche die weitere Zerstörung der mittelalterlichen Stadtstruktur mitansehen. Die Chefarchitektin, eine Schülerin des Bauhausschülers Selman Selmanagić aus Srebrenica in Bosnien, tat ihr möglichstes, die Vergangenheit aus der Stadt zu verbannen. Nur die fast vollständig erhaltene Wehranlage einschließlich der vier Tore und 27 Wiekhäuser überdauerte sowohl den Krieg als auch den Bauwahn. Zum Ende der DDR gab die Kirche den imposanten Bau, der immer noch Ruine war, an den ungeliebten Staat ab, der aber mit seinen Umbauplänen nicht recht vorwärtskam. Nach der Wiedervereinigung gewann der finnische Architekt  Pekka Salminen den Wettbewerb zum Umbau der Marienkirche in eine Konzertkirche. Pekka Salminen gehört zu den TOP- und Großarchitekten der Welt. Bevor wir jetzt seine Konzertkirche betreten, sollte man sich das Grand Theatre in Wuxi ansehen. Wuxi ist eine Stadt in China, die doppelt so groß ist wie Berlin. Salminen hat Großbüros in Helsinki und Shanghai.

Das Gewölbe der Kirche war durch den Druck des Dachstuhls und des Brandes eingestürzt, jedoch die Außenwände, der von Buttel restaurierte Turm und vor allem der weltberühmte Ostgiebel standen noch. Eine deutsche Besonderheit ist es, dass alle Groß- und viele Mittel- und sogar Kleinstädte ein Theater und ein Orchester haben. Das ist ein Vorteil der nachteiligen jahrhundertelangen Kleinstaaterei. Der Auftrag lautete also, in die bestehende Außenhaut, in die historische Form einen hochmodernen Konzertsaal zu stellen. Salminen hat den Konzertsaal aus Sichtbeton, Stahl und Glas in diese historische Hülle hineingeschoben, aber beide offen gelassen. Ein Konzertsaal hat außer der Statik und dem Aussehen noch das Problem der Akustik. Maßstäbe hat hier Schinkel gesetzt, der unglückliche August Orth war ein Meister der Akustik wie auch nach ihm Hans Scharoun. Von diesem stammt auch die Aufhebung der konträren Platzierung des Orchesters. In der zweiten Berliner, der Scharoun-Philharmonie ist das Orchester in der Mitte aufgestellt. In der Konzertkirche gibt es einen rechteckigen, zweigeteilten Zuhörerraum. Akustisch äußerst interessant sind die Sitzreihen hinter dem Orchester. Gewagt ist die sichtbare Stahlkonstruktion der absolut transparenten Empore. Die letzte erhaltene Wandmalerei an der Nordseite der Westwand wirkt wie ein hypermodernes Gemälde und vollkommen aus der Zeit gefallen. Das letzte Element zu einem perfekten Konzertsaal stiftete ein Maschinenbaufabrikant, der jetzt bescheiden in der vierten Reihe sitzt, die große Orgel von Schuke in Berlin und Klais in Bonn, mit 71 Stimmen, in Norddeutschland nur zu vergleichen mit der Orgel in der Elbphilharmonie Hamburg, ebenfalls von Klais, und der historischen Orgel im Schweriner Dom von Altmeister Ladegast.

Der ehrenvolle und bescheidene Maschinenbaufabrikant hört dann beispielsweise das Orgelkonzert von Francis Poulenc, ein opulentes Werk, wie geschrieben für diese Orgel und diesen Raum, ein Werk zwischen Choral und Clownerie. Das auf die Streicher reduzierte Orchester versucht der Orgel zu folgen, aber vier Pauken jagen beide von Innovation zu Innovation. Poulenc verwendet eine alte, eher abseitige Form, das Orgelkonzert, um eine Sprache zu finden, die zwischen mathematisch-permutativem Barock und expressionistischem Klangcluster schwebt. Geschrieben wurde das wunderbar kraftvolle Werk 1938 für die Mäzenin Prinzessin de Polignac, die eine Tochter des amerikanischen Nähmaschinenkönigs Isaac Singer war, der es vom Wanderschauspieler zum perfektionistischen Superingenieur und Multimillionär gebracht hatte. Ihr wesentlich älterer und homosexueller Gatte wurde zur Figur des Swann in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. Ihr wunderschönes Palais in Venedig malte Claude Monet.

II

Diese nicht ausgedachte Klimax zweier korrespondierender Künste führt uns zur notwendigen Umfunktionierung und Reformierung von drei wichtigen gesellschaftlichen Teilsystemen.

Ideenführungssystem

Alle bisherigen Ideologien sind zu bestenfalls bürokratischen, oft aber auch terroristischen Führungs- und Kontrollsystemen verkommen. Der derzeitige Kontrollwahn der Volksrepublik China übertrifft bei weitem den von George Orwell im Voraus beschriebenen. Die von ihm gedachte Spanne von 1948 – Stalinismus und McCarthyismus – bis 1984 – der Ostblock kurz vor dem Zusammenbruch – ist gerade einmal das Frühembryo heutiger chinesischer Zustände, deren Dimensionen alles überschreiten, was bisher vorstellbar war. Vorbild einer ideologischen Führungsmacht mit totalitärer Kontrollfunktion mag die 1000 Jahre herrschende katholische Kirche gewesen sein, deren reformierter Ableger aber ebenfalls dem Reiz der Staatskirche mit Überwachung der anvertrauten Menschen unterlag und jahrhundertelang frönte. Nur die beiden islamischen Länder mit funktionierender Wirtschaft, Saudi Arabien und Iran, haben ein annähernd vergleichbares System mit seinen grausigen Folgen hervorgebracht, allerdings in einer historisch unvergleichbar kurzen Zeit. Sie sind weltpolitisch, ungeachtet ihrer Bedrohung für Israel, unbedeutend. Vielmehr ist die geschürte Angst europäischer Rechtspopulisten vor einer islamischen oder gar islamistischen Macht Ausdruck jenes Strebens oder Sehnens nach einer Führung durch Ideen, die durchaus auch durch Personen repräsentiert sein können.

Die Rechtspopulisten wie die Islamisten wollen Segregation und Autoritarismus. Das ist wieder zum Scheitern verurteilt, wie es schon mehrfach gescheitert ist. Eine nennenswerte linke Idee gibt es nicht mehr, und das ist, wenn man an ihre Staatgläubigkeit denkt, auch gut so. Allerdings sehnen sich die Menschen nach einer Gerechtigkeit, die niemanden ausschließt. Die scheint im Sozialstaat skandinavischer, kanadischer und deutscher Ausprägung der Verwirklichung nahe zu sein. Allerdings fehlt ihr die Idee, die Botschaft. Der Staat hat keine Idee, außer sich selbst, das wissen wir seit Max Weber. Es mag damals in Nicäa* richtig gewesen sein, aus dem charismatischen Wanderprediger und Topdenker mit weit größerer Ausstrahlung als Seneca einen Gottessohn und Teil einer Dreigottheit zu machen und seine Lehre zur Staatsdoktrin zu erheben. Das Ergebnis war allerdings nichts als Staat, Totalkontrolle und Unterdrückung. Die Botschaft verschwand hinter dem Kreuz. Möglicherweise wirkte das Kreuz sogar als Drohung für alle Abweichler. Noch heute heißen mittelalterliche Türme in norddeutschen Städten Fangel- oder Hexenturm. Es war der afroamerikanischen Kirche vorbehalten, die Verhältnisse zumindest gedanklich wieder umzukehren: Must Jesus bear the cross alone? Die Ideen sind also da, es sind die vielbeschworenen europäischen Werte, die teils von dem vornicänischen Yesus, teils von der Aufklärung stammen. Das sind nicht die Elemente von Sonntagspredigten, sondern schwer verständliche und schwer vermittelbare, immer noch unerfüllte und neue Forderungen: seine Feinde zu lieben, weil man dann keine mehr hat, nur zu richten, wenn man selbst frei von Untaten wäre, so zu leben, dass die Maxime des eigenen Handelns allgemeines Gesetz werden könnte, jeden Versuch, ein Recht des Stärkeren zu postulieren, durch Vereinbarung abzublocken, permanent von der Gleichheit aller Menschen auszugehen, deren Folge die allgemeine Solidarität ist. Schließlich müssen wir alle lernen, dass lernen sinnvoller als regeln ist. Regeln können nur zeitweiliger Support sein, das wusste schon König Salomo.

Demokratiereform

Mehrere Jahrhunderte lang haben sich alle fünfzig Jahre (Goethe**, Kondratieff***) die Lebensumstände, Technologien, aber auch Krisenzyklen verändert. Das ist der Grund, warum heute noch alte Menschen die Welt nicht mehr verstehen. Sie brauchen nicht nur Gehhilfen, sondern auch Gehilfen. Offensichtlich war unser Blick für die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Demokratie durch den Zusammenbruch des Ostblocks verstellt. Eine ganze Phalanx nichtvisionärer Politiker, mit Ausnahme von Deng Xiaoping, beherrschte gerade zu diesem Zeitpunkt die Weltpolitik, so dass der Eindruck entstand, der Rest der Welt schwenke endlich in die sozialstaatlich gebremste Marktwirtschaft und die westlich dominierte Demokratie ein. Aber das Scheitern der einen Idee ist nicht der Beginn einer neuen Idee, nur in dem Ausnahmefall, dass eine alte Idee scheitert, weil eine neue da ist. Diktatoren wurden selbstverständlich geächtet, bis sich herausstellte, dass Diktaturen auch beträchtliche Vorteile haben, nicht nur für den Diktator selbst und seine nepotische Clique. Selbst eine segregationistische, autoritäre Idee ist mehr Idee als die allgemeine Annahme ewigen Fortschritts und konsensualer Omnipotenz. Dabei ist der autoritäre Blick in die Vergangenheit bei vielen Menschen nicht so unbeliebt, wie die andere Hälfte der Menschheit denken mag.

Es gibt keine einfache Lösung und keinen geraden Weg aus dieser Sackgasse. Volksbefragungen, noch dazu zum jetzigen Zeitpunkt, würden zu einem zeitweiligen Überhang der Ignoranz führen. Zudem ist der direkt-demokratische Prozess noch langwieriger als der repräsentativ-demokratische, der aber auch jede Überschaubarkeit und Transparenz verloren zu haben scheint. Vielleicht könnte Prozessstraffung und Regionalisierung der Politik eine neue Richtung vorgeben. Die AfD ist nicht nur entstanden, weil sich ein Zehntel der Bevölkerung nach markigen Sprüchen, einfachen Antworten und Rehabilitierung der Nazisprache sehnte, sondern weil deren Abgeordnete auch vorführen und nutznießen wollten, wie lukrativ die Demokratie für ihre Betreiber ist. Das ist ein uralter Vorwurf und ein unauflösliches Dilemma: aber, selbst wenn nur Reiche Politik machen würden, gäbe es nicht nur Bismarck und Kennedy, sondern auch Guttenberg und Trump. Eine wieder schärfere Profilierung der Parteien kann man sich nicht wünschen, weil solche Prozesse ganz offensichtlich nicht volitiv verlaufen. Hinzu kommt, dass wir momentan verunsichert darüber sind, ob Parteien überhaupt noch die geeigneten Interessenvertreter sind. Jedenfalls gibt es in Europa schon mehrere Bewegungen, die an die Stelle fest umrissener Programmparteien getreten sind: Cinque Stelle in Italien, Wiosna in Polen und En marche in Frankreich****.  Das ist vielleicht der Sieg der klaren Metaphern über die verklausulierten Programme. Die Politiksprache muss sich umgehend von der Juristen- und der Bürokratensprache abkoppeln. Es ist für uns mittlerweile unerträglich, dass Politiker Juristen und Bürokraten folgen, denen sie Visionen vorgeben sollten. Diese Art der Politiksprache ist der Grund, warum so viele Menschen einfach Sätze (‚Wir schaffen das‘) genauso wenig verstehen wie Fragebögen und Regierungserklärungen. Politisch gescheiterte Rhetoriker sind die willkommene Stütze für diese These: Westerwelle, zu Guttenberg, Lindner, Gysi, Lafontaine, Wagenknecht. Selten fällt geschliffene und apodiktische Rhetorik mit erfolgreicher und angenommener Politik zusammen: Bismarck, Rathenau, Brandt, Schmidt. Politik heißt nicht, jemanden zu überreden, sondern uns alle mitzunehmen.

Globalisierung mit menschlichem Antlitz  

1968 ging von der schönen Stadt Prag eine Hoffnung für Ost und West aus. Denn man darf nicht vergessen, dass in diesem Jahr in Westeuropa und Amerika Studenten Ho-Ho-Ho-Chi-Minh brüllend durch die Städte rannten und gegen das System protestierten, das wir heute noch haben. In Prag, und sympathisierend in allen Ostblockstädten, forderten die Menschen ein Wirtschafts- und Regierungssystem mit menschlichem Antlitz. Deshalb übernehmen wir hier diesen Ausdruck für die globalisierte Wirtschaft, von der uns die Billigimporte aus 150 Ländern erfreuen. Uns erquickt auch der Gedanke, dass wir vom Export in 200 Länder profitieren. Aber für jede für uns negative Erscheinung wird sofort der Kapitalismus denunziert, der wir doch selber sind. Damit sind noch nicht einmal die rechten Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen gemeint. Rechte Argumentation entblödete sich nicht, die europäische Einwanderung in Amerika mit ihrer gegen die autochthone Bevölkerung gerichteten Aggression mit den Diktatur- und Armutsflüchtlingen zu vergleichen. Segregationistische Aggression ging in beiden Fällen von derselben Ideologie aus. Jedes Kind weiß, dass Könige in Afrika und Häuptlinge in Nordamerika den Einwanderern äußerst freundlich begegneten, bis sich deren leichenfressende Gier – seit Kolumbus – zeigte. Damit ist auch der Jammer über die Kinderarbeit in Pakistan oder Bangladesh oder Westafrika gemeint, ohne die noch mehr Menschen unter das Existenzminimum gerieten. Europa muss versuchen, von hieraus  den Standard für den Welthandel weiter zu bestimmen. Dazu müssen wir nur unsere Janusköpfigkeit oder Doppelzüngigkeit aufgeben. Wir dürfen keine Waffen mehr exportieren. Wir dürfen keine Waffen mehr herstellen. Wir müssen vom Prinzip der gegenseitigen Meistbegünstigung dann abgehen, wenn es gilt, unterentwickelte Volkswirtschaften zu unterstützen. Dem dient die Merkel-Müller-Initiative in Afrika, die sich im Schatten sinnentleerter Diskussionen über Obergrenzen und Schulschwänzen vollzieht. Über Chinas Menschenrechtsverletzungen darf nicht nur nicht hinweggegangen werden, sondern wir müssen versuchen, in Afrika unseren guten Ruf und unseren Einfluss weiter geltend zu machen, vor allem mit Investitionen. Das Befremden chinesischer Führer über unsere Empörung müssen wir genauso stoisch ertragen, wie die Chinesen einst die Niederschlagung des Boxeraufstandes***** und die Aneignung von Kiautschou (Bewegung des 4. Mai) ertragen mussten. Die Angst vor China muss sofort durch Handeln und Handel überwunden werden. Auch in dieser Beziehung müssen wir uns von der US-Politik abkoppeln. Trump macht es uns leicht.

III

So wie in die alte Kirche ein neuer Konzertsaal geschoben wurde, so wie die alte Form des Orgelkonzerts mit der Autohupenmusik des zwanzigsten Jahrhunderts gefüllt wurde, müssen wir in der alten Welt weiterleben, die wir kontinuierlich reformieren und immer wieder neu denken, statt ihrer Deformation tatenlos zuzusehen. Aber offensichtlich brauchen wir einen Architekten für dem Umbau der Welt.

 

 

*Konzil von Nicäa, Mai bis Juli 325, beschließt die Trinität, den Kanon der Bibel, die Göttlichkeit von Jesus (gegen den Arianismus), die Monopolstellung des Christentums im Römischen Reich, den Termin des Osterfestes und das Glaubensbekenntnis 

**Maximen und Reflexionen

***der fünfzigjährige Krisenzyklus wurde nach dem erschossenen sowjetischen Ökonomen Kondratieff (1892-1938) benannt

****fünf Sterne, Frühling, auf dem Weg

*****1900, profaschistische Hunnenrede Kaiser Wilhelms II., Beginn des 45jährigen Krieges, der am 8. Mai 1945 endete

 

 

schon bestellt?

03_Haus im Fluss