VOM TEILEN DES GLÜCKS

Nr. 273

Zwölfter Hauptsatz

Glück ist das einzige

was sich verdoppelt

wenn man es teilt                      Schweitzer

 

Das ist ein Spruch für Kalenderblätter, im besten und im doppelten Sinn. Ein Lottogewinn verdoppelt sich nicht, wenn man ihn teilt. Er ist aber auch kein Glück. Wovon Schweitzer ganz offensichtlich genug hatte, daran mangelt es immer mehr Menschen: Lebenssinn. Wer ihn früh fand, für den ist das Leben Glück, das man teilen kann. Wer ihn sucht, für den kann die Suche Abenteuer und Glück sein. Wer nur seine Tage abbummelt und verbringt und verludert, kann kein Glück finden. Zum Glück hat unsere westliche Zivilisation alle existentiellen Probleme gelöst, so dass auch Menschen Lebenssinne haben können, deren unmittelbarer Nutzen für die anderen nicht gleich zu erkennen ist. Nutzen ist ohnehin eine zu kurz gedachte Beurteilung, kein Mensch taugt nichts. Der Reichtum der Gesellschaft zahlt sich für den einzelnen aus. Welches bessere Ziel könnte andererseits eine Gemeinschaft haben, als das Glück jedes einzelnen?

Es scheint sogar die Umkehrung zu stimmen: die Unzufriedenheit, die sich aus dem Weiterwirken fundamentaler, existentieller Probleme ergibt, wird von vielen Betroffenen als Unglück empfunden, dessen Ursachen sie immer wieder außerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft suchen, aber selten finden. Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen unterscheiden sich sicher in vielen Punkten. Aber sie haben doch auch mehr als eine Gemeinsamkeit: das Individuum kann erst aus der Masse heraustreten, wenn es von der unmittelbaren Sorge um das tägliche Brot entbunden ist. Mit leerem Magen kann man weder studieren noch demokratisch denken. Exzesse sind nur erklärbar, weil unglückliche Menschen verführbarer sind: hinter jedem Ende ihres Unglücks vermuten sie das Glück. nur so ist verständlich, dass unglückliche Menschen von einem ins nächste Unglück stürzen.

Streng genommen stimmt das natürlich nicht, denn das Glück eines hungernden Menschen kann ein Stück Brot sein, das Glück eines satten der Verzicht auf ein Stück Brot. Aber diese streng genommene  Gedankenführung ist doch reichlich zynisch. Ein Stück Brot ist kein Glück, sondern sollte selbstverständliche Voraussetzung menschlichen Seins sein. Würden wir ein Stück Brot als Glück anerkennen, wäre uns und den Betroffenen die Motivation genommen, für bessere Verhältnisse zu sorgen.

Vater Schweitzer, Mutter Tereza, Bruder King und andere Heilige der Neuzeit sind die Kronzeugen dafür, dass höchstes und höchst teilbares Glück das Wirken für andere ist. Dabei brauchen wir dank dieser Vorbilder keine Heiligen mehr. Heiligkeit ist ja nur ein weiteres Attribut für Güte, Glück und Hoffnung. Das Charisma der Güte bessert uns schon. Der Sozialstaat hat nicht nur die Nehmerseite, die immer beachtet und kritisiert wird, sondern auch die viel größere und schönere Geberseite. Wenn wir uns freuen können, dass alle existentiellen Probleme gelöst wurden, heißt das nichts anders, als dass wir sie gelöst haben. Die bürokratisch-finanztechnische Verschleierung der Güte lässt uns vergessen, dass wir jeden Monat einen Armen speisen und tränken, ihm Obdach und Halt geben. Sobald wir ironisch in diese biblische Sprache verfallen, wird uns klar, dass wir ethische Forderungen höchster Qualität erfüllen. Und das ist nicht etwa nur im christlichen Abendland so, sondern überall dort, wo Wohlstand herrscht. Man kann nur ein Brot teilen, das man hat. Alle Kulturen und ihre Gedankengebäude streben die Güte und das Glück als Ziel an und weisen sie gleichzeitig als Hauptlebensmethodik aus.

Immer wenn von Armut auf der Welt die Rede ist, macht jemand den Vorschlag, dass man doch einfach nur den Reichtum teilen müsste. Das zeigt, dass in allen Menschen dieser Teilungsgedanke tief verwurzelt ist, kulturell implantiert und immer abrufbar. Erst in letzter Zeit ist uns bewusst geworden, dass diese Art von Barmherzigkeit auch eine Abhängigkeit erzeugt, die für den Nehmer weitaus schlimmer ist als Armut, weil sie ihn nämlich lähmt, ohne dass sie sein Problem löst. Jede Problemlösung ist nun einmal dilemmatisch.

Der zweite Sinn des schönen Satzes von Schweitzer, nach dem Welthaushalt, ist der Seelenhaushalt jedes einzelnen. Wenn das Böse nicht substantiell ist, sondern die Auslassung des Guten – und wie wir gesehen haben normalen -, die Summe aller falschen Entscheidungen, dann ist seine Auslassung identisch mit Glück. Das würde einerseits heißen, dass man nur richtige Entscheidungen treffen darf. Davon abgesehen, dass dies wünschenswert wäre, ist es leider Unfug. Es ist so, als wollte man einem Menschen, der vor einer Weggabel steht, raten: ‚Nimm den richtigen Weg‘. Das geht leider nicht. Aber es gibt andererseits viele moralische Handreichungen, die uns zur Verfügung stehen, um das Böse zu meiden, was nur heißt, das Gute nicht zu unterlassen. seit Anbeginn der Menschheit oder des Denkens gibt es Analogerzählungen. Sie ermutigen, es so zu tun, wie der Held der Geschichte, des Bildes oder des Liedes, des Tanzes oder der Trance. Sodann wurden stets gute Geister projiziert, denen wir rechenschaftpflichtig sind. Niemand kann ausmachen, ob wir sie an die Wand gemalt haben oder ob sie da schon vor uns standen. Je weiter sich Kommunikation entwickelt, desto größer wird der berechtigte Glaube, dass es einen Sinn hinter all dem Unsinn gibt. Die Verschwörungstheorien sind übrigens nur die Umkehrung des Urvertrauens, das wir alle nicht nur haben, sondern auch brauchen. Und schließlich kann man sich all das, was jeder Mensch und die Menschheit braucht, auch immer wieder gedanklich erschließen. Dazu gibt es, und hier schließt sich der Kreis, eine Riesenmenge an Daten, wie man heute sagt, die Bibliothek des Guten, bestehend aus Gedanken, Geist und Güte. Man kann das Gute analog aufnehmen, durch die Kunst etwa, oder digital, durch Religion und Philosophie vermittelt. Niemand sollte entscheiden, was besser oder schlechter ist. Unsere Wege sind so vorgeformt, dass sie uns oft und immer öfter als immer schon vorhanden erscheinen. Wir hängen mehr von unseren Eltern ab, als wir glauben wollen. Unser Leben wird, je älter wir werden, desto algorithmischer.

All die Angst vor dem Fremden und vor sich selbst, jeder billige Rachegedanke, durch dessen Ausführung das Böse rein arithmetisch gestärkt wird, jede Rechthaberei und Glaube an Wahrheiten – Religion ist Weg, nicht Wahrheit -, all das führt uns vom Guten, und damit vom Glück weg. Wer böse ist, schadet sich selbst am meisten. Und das gilt natürlich auch umgekehrt: wer gut ist, nutzt sich am meisten. Die Lösung des Allmendedilemmas und gleichzeitig die beste Glücksformel ist: man hilft sich am besten, wenn man anderen hilft.

VOM WANDERN UND SURFEN

 

Nr. 272

Elfter Hauptsatz

Denn wo viel Weisheit ist

da ist viel Grämens

und wer viel lernt

der muss viel leiden                  Salomo

 

 

 

Der Satz klingt auf den ersten Blick wie die abgestandene Resignation eines Teilweisen oder wie amerikanische Billigkritik und Fastmalice an den Intellektuellen. Die Quelle mag ein pessimistischer König oder sein gequälter Ghostwriter sein, auf den zweiten Blick stellt sich der Satz als viel tiefer heraus, als er ist. Denn das Grämen geht zunächst der Weisheit voraus. Das Lernen als Investition sowohl für Problemlösungen als auch für ein glückliches Leben zu begreifen, fällt naturgemäß schwer, da es überwiegend  in der Periode des Lebens stattfindet, die zwar nicht natürlich glücklich, aber doch eher unbeschwert ist. Nie ist die Langeweile angenehmer ausgefüllt als in der Jugend. Selten wird Lernen als so quälender und störender Prozess empfunden als dann, wenn es am leichtesten fällt. Je mehr Geld es auf der Welt gibt, desto mehr Menschen glauben, dass es möglich sein muss, dessen Erwerb zu minimieren, seinen Anteil jedoch zu maximieren. Hinzu kommt, dass zweihundert Jahre lang sogenannte Beweise und Fakten für Weisheit gehalten wurden. Genau diese Fakten aber sind nie schneller zu erlangen gewesen als gerade jetzt. Jugendliche können ihr Smartphone schneller bedienen als ihre Lehrer sich räuspern. Aber selbst wenn man die ganze Welt verlinken könnte, erlangte man doch keine Weisheit. Weisheit ist eine Kombination aus Zusammenhängen und Güte. Selbst Wissen ist nicht additiv, sondern zumindest kumulativ, wenn nicht exponentiell. Zudem ist Weisheit, und das ist eine Binsenweisheit, nicht an Faktenwissen oder gar Abschlüsse gebunden, sondern eher an Geist, Erfahrung und Gefühl. Geist, Erfahrung und Gefühl aber widersprechen jeder Verankerung oder Verlinkung. Verankert ist ein Fakt in einem kohärenten Weltbild, verlinkt ist ein Fakt, der durch äußere oder innere Merkmale Zusammenhänge oder Scheinzusammenhänge herstellt oder herzustellen glaubt.

Es ist also schon einmal das Lernen selbst gemeint, das Leiden nicht hervorbringt, sondern begleitet. Noch besser ist es umgekehrt gesagt: das Leiden wird vom Lernen begleitet. Zwar geht von Weisheit auch tiefe Befriedigung aus, aber das Lernen ist eher lästig als befriedigend. Diese Belästigung durch das Lernen nimmt in dem Maße zu, wie die Faktenbeschaffung sich beschleunigt. Man könnte sagen: je länger das Suchen dauert, desto befriedigender ist das Finden, und umgekehrt, wo man nicht mehr suchen muss, freut man sich auch nicht über das finden. Das ist die eine Seite des Trugschlusses. Die andere Seite ist die Beliebigkeit von Wissen, nicht aber von Weisheit. Folgt man im Internet einer Spur, so ist es nicht die Spur des Wissens oder gar der Weisheit, sondern es ist die Spur von Filtern und Filtern der Filter. Der Einwand, dass das früher auch nicht anders war, wo der Weisheit suchende Wanderer etwa von Kloster zu Kloster ging, kann leicht entkräftet werden mit dem Hinweis auf die Mühe, die Zeit, die Kraft und die Muße, die der damalige Wanderer aufwenden musste oder gewann. Heute gewinnen wir Zeit, um sie zu verschwenden. Früher verloren die Menschen Zeit, die sie dann, als Sinn des Lebens zurückzuerhalten glaubten. Es ist die Zeit, die uns Angst macht. Es ist die Angst, die uns antreibt. Jedes Problem hat keine Lösung. Jede theoretische Lösung ist ein Dilemma, jede praktische eine Katastrophe.

Dass das Leben trotzdem nicht nur weitergeht, sondern schön ist, liegt daran, dass es Höheres gibt als Wissen, nämlich Weisheit und Vertrauen. Vertrauen wiederum gibt es zunächst in einer allgemeinen Form, nämlich als Glauben oder schnelles Denken.  Dass die Ungläubigen keine Hilfe haben, heißt doch nur, dass Unglauben nicht hilft, nicht mehr: das ist die Hölle. Das waren früher verankerte Sätze, heute sind sie verlinkt, gleichviel. Ein Satz wirkt nur, wenn man ihn denkt.

Ach, was macht uns alles Angst, und wir leben schon seit zwei Millionen Jahren weiter. Aber nicht, weil wir etwa unbesorgt wären, sondern im Gegenteil, weil wir die Weisheit und das Grämen, den Glauben und den Unglauben aushalten, das schnelle Denken und das langsame Denken, welches für das wirkliche Problemlösen notwendig ist. Die größte Lösung war wohl, dass wir evolutionär aus der zur Fortpflanzung notwendigen Sympathie die Liebe machen könnten, die die zweite und konkrete Erscheinungsform des Vertrauens ist. Es gibt keine Weisheit ohne Liebe. Hass macht nicht nur hässlich, sondern auch dumm.

Der Text des pessimistischen Königs Salomo, ob er nun von ihm selber oder seinem Lieblingsintellektuellen stammt, ob er nun der Auftraggeber oder der Ideennehmer war, ist also keineswegs pessimistisch. Er wendet sich gegen das reine Wissen und gegen das Unwissen gleichzeitig. Einerseits gibt er die Richtung vor: obwohl Wissenerwerb mit Leiden verlinkt ist, ist Wissen die Vorbedingung für Weisheit. Und obwohl Weisheit mit Grämen verbunden ist, wenn sie reine intellektuelle Reflexion bleibt, also die Überprüfung der Welt nach Sätzen, die selbst nur die Welt gespiegelt haben, ist sie höchst anstrebenswert. Allein ihre Menge wird in dem Satz des Salomo als wünschenswert gesehen. Sie muss mit der Zuwendung zum Menschen gekoppelt werden, damit das Grämen durch die Liebe aufgehoben werden kann.

Es sind die Weisen, die wir fragen. Es sind die Weisen, die uns immer wieder in Erstaunen versetzen durch ihre Güte, und was wäre Güte anderes als Weisheit gekoppelt mit Liebe. Surfen bleibt ein Gleiten über Sätze, meist noch nicht einmal dies, sondern nur über Zahlen und dürre Fakten. Wandern dagegen ist ein nachhaltiges Fortbewegen, das keinesfalls erfolgsorientiert sein muss. Vielmehr versteckt sich der Erfolg oft hinter dem Leid, über das wir uns gerne grämen, statt uns über den Erfolg zu freuen. Wandern, wie so viele Begriffe, sollte immer gleichzeitig faktisch und metaphorisch verstanden werden. Beides ist nachhaltig, beides bringt uns voran, beides lässt uns die Angst vor der Zeit, vor der Erkenntnis, vor dem Dilemma oder gar vor der Katastrophe, heute gerne Absturz genannt, vergessen. Auch vergessen ist Weisheit.

AUG UM AUGE

 

Nr. 271

Zehnter Hauptsatz:

Aug um Auge –

und die Welt wird blind sein.                     Gandhi

 

Warum kann man das Böse nicht einfach abschaffen? Das Böse ist keine Substanz, sondern eine Eigenschaft, die Summe der falschen Entscheidungen. Es ist leider tautologisch – wie so viele Definitionen – wenn wir sagen, falsch ist eine Entscheidung dann, wenn sie böse ist, wenn sie anderen schadet. Viele Menschen glauben, dass man das Böse wie das Gute gleich ausschütten kann, dass Gerechtigkeit ein arithmetisches Mittel sei, das man immer wieder, wie auf einer Waage, herstellen und harmonisieren kann. Man muss lernen, die Ungerechtigkeit auszuhalten und man darf gleichzeitig das Ideal der Gerechtigkeit nicht aufgeben. Dazu gibt es glücklicherweise eine ganze Reihe von Helfern. Der einfachste Helfer ist die Gewohnheit. Sodann treten Kunst, Religion, Drogen, Gruppe und Schlaf herzu. Das ist auch die einfachste Lösung des Theodizee: Gott lässt das Böse zu, weil er uns das Gerechtigkeitsstreben eingeboren hat. Der gleiche Satz ohne Gott: das Böse ist die tatsächliche Kehrseite des Gerechtigkeitsstrebens.

Die Rache ist ein blinder Reflex, aber trotzdem verständlich, weil wir alle unter Herabsetzung leiden, wenn sie uns zugefügt wird. Entschließen wir uns selbst zur Demut, ob nun religiös-psychologischen Ratschlägen folgend oder nicht, so ist sie ein Zeichen der Stärke. Rache dagegen ist immer ein Zeichen von Schwäche und insofern nicht verurteilungswürdig. Würden wir die Rächer verurteilen, wären wir selbst welche. Rache gibt auch dem Gerechtigkeitsimpuls nach, ohne aber die Folgen auf uns selber zu beachten. Die höchste Strafe, die man erhalten kann, ist die Selbstverachtung. Sie tritt auch ohne Hinrichtung ein. Das Schlimme an der Weltgeschichte ist doch aber wohl, dass die meisten Hingerichteten unschuldig waren. Der Anspruch, die vermeintliche Berechtigung zum Richten, ist stets mehr missbraucht worden als dass sie gebraucht wurde. Schon aus dieser Ungleichung ergibt sich die Überflüssigkeit von jeder der Rache ähnlichen Strafe.

Und es zeigt sich, dass jede Konditionierung von Anmaßung ausgeht. Denn die Bedingungen für das Leben ändern sich so schnell, dass das heute Gelehrte und eventuell Gelernte morgen schon falsch sein wird. Zensuren und Strafen imitieren also das Leben auf hinfälligste Weise. Aber warum überhaupt? Die Lehre sollte sich, auch angesichts neuer Quellenbeschaffungsmöglichkeiten, auf den Ursprung besinnen: Methoden anzupassen oder zu entwickeln, die dem Zögling, seinem Verhalten und seinem Tun, entsprechen. Wem fiele da nicht das Glasperlenspiel ein, ein höchst unmoderner, weil zeitloser Roman.

Der Schrei nach Rache, außer dass er falsch und verständlich ist, kann also nur ein Schrei der Angst vor sich selbst sein. Wir glauben nicht (wir glauben nicht!), dass wir immer wieder die nötigen Selbstreinigungskräfte besitzen, um das, was in unser Bewusstsein tritt, nicht zu tun und das, was wir aus Tradition oder Überzeugung wollen, zu tun. Wir hoffen, dass andere uns ermahnen. Im Gegensatz zum Mikroleben, wo wir Strafzettel deshalb ablehnen, weil wir nicht einsehen wollen, dass wir etwas falsch gemacht haben, hoffen wir im Makroleben auf solche, die außer uns niemand sieht. Die liebsten Strafzettel dagegen sind uns diejenigen, die andere erhalten. Wir können dann das Gute in uns hineinprojizieren, glauben, dass uns das Böse nicht passieren kann und soll. Regelwerke mit oder ohne Strafen sind uns Korsett, Gängelwagen und goldener Käfig einer unverstandenen Moral.

Es ist schwer sich auf sich zu besinnen. Es ist schwer mit sich auszukommen, dabei wissen wir schon: die Antwort auf unser Unperfekt ist Demut, die wir für Schwäche halten, weil sie uns schon so oft aufgezwungen wurde.

Die Welt ist dann blind, wenn sie auf Rache und Vergeltung setzt. Die Augen öffnen sich, wenn wir die anderen verstehen.

Der Norweger Anders Breivik hat im Jahre 2011 auf der Ferieninsel Utøya neunundsechzig Menschen erschossen. Er glaubte, uns bestrafen zu müssen, indem er unsere Kinder erschießt, weil wir uns dem vermeintlich Fremden öffnen. Und manche zeigen sich, weil sie Opfer des Rachgedankens sind, als seine Schüler, wenn sie für ihn die Todesstrafe fordern. Die höchste Strafe für Breivik wird sein, dass niemand auf ihn hört. Trotz und wegen des ungeheuren Schmerzes, den er uns zugefügt hat, werden wir nicht auf ihn hören!

Der moralische Fortschritt, das Bessersein, erscheint gegenüber dem technischen Fortschritt, dem Schnellersein, als klein. Daraus darf man nicht schlussfolgern, dass die Rache jemals richtig war, im Gegenteil, man wusste es nur nicht besser. Zwei verfeindete Sippen, die sich gegenseitig die Väter erschlugen, verhungerten beide, statt nur eine, wenn sie auf Rache verzichtet hätte. Die Abhängigkeit von Herkunft gilt nur intern, nicht extern: jemand kann von sich sagen, dass er sich so verhält, wie er sich verhält, weil er aus der Welt stammt, wo man sich so verhält, aber ich darf es von ihm nicht sagen, auch nicht als Entschuldigung. Die Sippen haben übrigens überlebt, sonst wären wir nicht da, und daran kann man mathematisch exakt nachweisen, dass Rache sich immer von selbst überlebt.

Der dank ist der weitsichtigste Reflex, zu dem wir fähig sind, weil er uns immer wieder in die menschliche Gemeinschaft zurückführt, auch wenn wir uns durch Rache, falsche Entscheidungen, durch das Böse, durch Versagen und Angst an den Rand der Gesellschaft gebracht haben. Es wird noch viel Zeit vergehen, der moralische Fortschritt ist noch lange nicht an dem Punkt, bis wir auf abscheuliche Untaten anders als mit Strafe reagieren können. Niemand will weltfremde Lösungen. Es wird immer auch ungeheuerliche Kurzschlusshandlungen geben, aber vieles werden wir auch voraussagen können. Wenn wir endlich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen unsere ganze Kraft widmen, jedenfalls mehr Kraft als etwa den Kapitalanlagen, dann werden wir auch bestimmte Verhaltensweisen, die gegen die Würde, gegen die Unverletzlichkeit, gegen die Integrität und das Selbstbestimmungsrecht von Mitmenschen gerichtet sind, im Vorfeld verhindern können. Erstaunlicherweise hat sich selbst die Mikrochirurgie fast explosiv-revolutionär verändert, während die Psychologie von Freud immer noch modern wirkt: die Überschätzung von verbaler Belehrung durch Schule, Polizisten und Moralapostel hält entgegen aller Erfahrungen an.

Der Dank mag der weitsichtigste Reflex sein, notwendig ist aber immer die denkende, dankende, einfühlende und emotionale Reflexion. Reflexion ist Orientierung, wenn sie von Wissen, Erfahrung, Tradition und Innovation untersetzt wird.

Die Quelle des Wissens ist das Glauben. Aber die Quelle von Demut und Gerechtigkeitsstreben ist das Wissen.

WIE WEGE WERDEN

 

Nr.  270

Neunter Hauptsatz

Wege entstehen dadurch

dass man sie geht               Kafka

  1

Es gehört viel Mut dazu, einen Weg zu gehen, den es noch nicht gibt. Alle Traditionen, Verankerungen, Algorithmen und Navigationen sprechen dagegen. Trotzdem weiß jeder, dass Navigation nur durch den Mut des einzelnen ensteht, Wege zu bahnen. Der Konflikt findet sich im Schiffstagebuch von Kolumbus. Der Zeitgeist diktierte seinen Männern den Untergang. Nur Kolumbus wusste, wo es nach Indien geht. Was er entdeckte, war ein Traum, den niemand hatte. Denn auch er wollte nicht etwa Entdecker, sondern  Admiral der Weltmeere, Vizekönig von Asien, Beschaffer von Gold und Sklaven werden. Dazu musste nicht nur der Weg gefunden, sondern auch ein Paradies vernichtet werden. Jeder Weg führt in das Chaos, aus dem er kommt.  Sein Ziel, neben der Goldgier sein wichtigster Antrieb, war die Vergrößerung der katholischen Welt, die sich noch nicht dichotomisch gesehen hat, wie ihr Name schon sagt. Diese Überhöhung solitärer Ziele führte zum Zerbrechen von Kirche und Welt.

Eine Phase voller Findung und Entropie, Grausamkeit und Wahrheitswahn folgte. Menschen mit missionarischem Übereifer waren die Entdecker und Unterdrücker. Offensichtlich erzeugt ein Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet, auch Menschen, die keine anderen Menschen neben sich dulden. Andererseits konnte Toleranz, das Aushalten des anderen, nur wachsen, wenn das andere entdeckt und da war. Wieviel Blut der Entzweiung musste fließen, bis drei Subkontinente mit heute mehr als drei Milliarden Menschen die vier Sprachen ihrer Unterdrücker und Förderer auch als Symbol der Versöhnung annahmen? Die Ziele des mutigen Kolumbus mögen kleingeistig gewesen sein, Tatsächlich ist das Ergebnis aber eine latein- und englischsprachige Welt, deren Hauptziele, Wohlstand und Wohlleben, Brüderlichkeit und Toleranz, fast weltweit erreicht sind.

 

2

Es gehört viel Wut und aggressive Erziehung dazu, wenn man ein großes Reich ohne Hunger und Raumnot zum Weltreich erweitern will, erlaubt ist es übrigens auch mit Hunger und Raumnot nicht. Der türkische Sultan Mehmed der Zweite zog einen Weg voller Blut und Tränen durch Südosteuropa. Er gilt als der zweite Gründer des Osmanischen Reiches, weil er zwölf Reiche und zweihundert Städte erobert hat. Mit 24 Jahren errang er Konstantinopel in einem erbitterten Kampf, den zuvor sein Vater Murad II. schon verloren hatte.  Mehmed mag ein grausiger orientalischer Despot gewesen sein, grausig waren damals und sind heute viele Politiker, als einen Kopf und Wegebahner weisen ihn nicht nur seine überragende Intelligenz und Gelehrtheit, sein strategisches Genie und seine Eigenwilligkeit aus, Ein einziger Satz von ihm zeigt, dass er in die Reihe der Renaissanceriesen gehört. Als man ihm Rosen brachte, weil er der Eroberer von Konstantinopel sein würde, sagte er: Ich bin Mehmed der Eroberer, aber das ist mein Lehrer [ben mehmed fatih, ama o benim öğretmenim]. Sein Lehrer war der große islamische Gelehrte Akşemseddin. Das Denken und Fühlen, das Wissen und Können ist vor den Eroberungen. Istanbul ist eines der großen Weltzentren geblieben, Eine Stadt, von der immer wieder die  Modernisierung eines immer noch großen Reiches und ganz Mittelasiens ausgeht und ausgehen wird. Was zunächst, für ein paar hundert Jahre, wie eine Spaltung Europas aussah, erweist sich jetzt als die Vorbedingung der Versöhnung in einem viel größeren Ausmaß als je gedacht. Mehmed hat nicht Europa gespalten, sondern ganz Mittelasien an Europa herangeführt, und wir wissen nicht, wie sein Pferd hieß.

 

3

Wenn Filippo Brunelleschi der Lehrer von Masaccio war, dann verdanken wir ihm nicht nur die Kuppel des Doms Santa Maria del Fiore zu Florenz, sondern auch die Grundlagen der Perspektive, und der Schüler war dann der erste, der sie in der Kirche Santa Maria Novella ausführte. Die Kuppel des Doms aber ist das finden des vergessenen Weges in die Vergangenheit der byzantinischen Baukunst. Gewölbe und Kuppel sind die Nachahmung und die Metapher von Himmel und Unendlichkeit. Der Weg in die Spitze der florentinischen Kuppel erscheint zugleich unendlich und unendlich einsam. Es ist der berühmte schmale Pfad in die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen, kalt und faszinierend. Brunelleschi ist einer der ersten individuellen und nominellen Baumeister. Er war schon berühmt, beteiligte sich an der Ausschreibung und gewann mit seiner Idee der Zweischaligkeit den Wettbewerb. Die Planung liegt zeitlich vor der Eroberung Konstantinopels, die endgültige Fertigstellung aber danach. In Florenz mag man mehr an die Darstellung des eigenen Reichtums und an die Konkurrenz gegenüber Pisa und Siena gedacht haben, Tatsächlich wurde aber, als man sich im Orient anschickte, das Reich zum Weltreich nach Westen zu dehnen, dort über dem Gedanken der Versöhnung und Verbrüderung die Kuppel errichtet. Es ist leicht überall das Böse zu erkennen, aber hier sieht man, dass es noch leichter ist, das Gute zu erkennen, Man muss nur den Blick genügend weiten, die Orientierung in einen dem Gedanken ebenbürtigen Rahmen stellen. Das Böse ist einfach und naheliegend, das Gute ist komplex und oft in der Ferne. Nur wenigen gelang es, dahin Wege zu ebnen, die dann von den vielen begangen werden können.

 

4

Gutenberg, der ähnlich wie Kolumbus die katholische Welt und Sicht stärken wollte, allerdings nicht machtpolitisch, sondern literarisch, ist der größte Wurf gelungen. Seine Erfindung, die er ausschließlich in den Dienst der Frömmigkeit gestellt glaubte, wurde die größte mediale Wende der Menschheit nach Erfindung der Schrift und vor Entwicklung des Computers. Ganz schnell wurde sichtbar, dass die Menschen nicht etwa nur die Bibel, sondern überhaupt lesen wollten. Es war so viel Zeit und so viel Leere gewonnen, dass sie nach Erfüllung suchte und schrie. Flugblätter und Bücher, Raubkopien ohne Ende, Fluten von Texten überschwemmten und überschwemmen immer noch Europa, danach auch den berühmten Rest der Welt. Die ganze moderne mediale Welt hatte ihren Brutkasten in dieser Werksattt des Bankrotteurs Gutenberg, dem es nicht an Ideen überhaupt, wohl aber an Geschäftsideen mangelte. Bei dieser Betrachtungsweise scheinen die Autoren, scheinen die Inhalte vergessen zu sein. Nein, die Autoren gab es auch schon vorher. Aber ihr Wirkradius war so klein wie ihre erfahrbare Welt. Die Gedanken von Yesus sind gerade einmal übers Mittelmeer gekommen, von Mohammed bis Yerusalem.  Wie die Kuppeln wirkten die Gedanken zwar in die Ewigkeit, aber nicht in die Gegenwart. Aufklärung und Erleuchtung brauchen also nicht nur den Gedanken, sondern auch den Weg, die Verbindung, die Kommunikation. Zwar kann man nicht nicht kommunizieren, aber man auch nicht kommunizieren, wenn kein Weg da ist oder keiner, der den Weg zu bahnen bereit ist.

 

 

 

 

 

mut wut
cristofori colombo mehmet II fatih
1451-1506 1432-1481
wiederentdeckung amerikas eroberung konstantinopels
kuppel des doms zu florenz schnellbuchdruck
1377-1446 1400-1468
filippo brunelleschi johann gutenberg
einsam gemeinsam

AUCH MIT DEN STEINEN

 

Achter Hauptsatz

Auch mit den Steinen

die einem in den Weg gelegt werden

kann man Schönes bauen

Goethe

 

Nr. 269

Der Zorn ist groß: wie die Ameisen finden wir unsere Wege verstellt. Der große Baumeister will uns prüfen, ist eine der gängigen Erklärungen. Und wer will nicht Prüfungen bestehen? Man braucht ein ganzes Leben, um herauszufinden, dass das Leben selbst die Prüfung ist. Sodann gibt es natürlich den Zufall: da wo wir gehen, geht schon jemand anders. Man kann sich einigen oder sich aus dem Weg räumen. schließlich aber, und das ist der Grund, warum wir uns von fremden Mächten eher verfolgt als geborgen fühlen, schließlich glauben wir oft, dass es jemand oder etwas direkt darauf angelegt hat, uns zu stören. Denn wir wissen, als wir ein kleiner Junge oder ein kleines Mädchen waren, haben wir gottgleich im warmen Sand gesessen und Ameisen und Käfern Wege versperrt. Einer Ameise kann man übrigens keinen Weg versperren. Ihre Navigation ist untrüglich, sie lässt sich weder durch Hindernisse noch durch übergroße Lasten aufhalten. Man könnte sie mit einem Menschen vergleichen, der mit einem Klavier auf der Schulter geradewegs durch eine Kleinstadt geht: geradewegs, über Häuser, Bäume und Mitbewohner.

Die Schubkraft des Zorns ist groß. Wir wollen nicht verletzt oder aufgehalten werden, weil wir aus einem ganz einfachen Grund glauben müssen, dass wir Recht haben, dass unser Weg der richtige ist, und dieser einzige Grund ist, dass er unsere einzige Möglichkeit ist, unserem Leben einen Sinn zu geben. Das ist gleichzeitig der fragilste Grund, den es geben kann, denn für die meisten von uns gibt es keinen Sinn, trotzdem müssen wir ihn uns einreden oder einreden lassen. Es ist auch keinesfalls etwa eine Frage des bloßen Willens, den Weg trotz Hindernissen weiterzugehen. Es fehlt vielen Menschen tatsächlich an Kraft und an Navigation. Es gibt dafür die Gruppe und die Gruppentherapie.

Aber zuletzt ist es doch immer am besten, wenn man den Weg selber gefunden, die Steine selbst aus dem Weg geräumt hat. Es geht nicht nur um die Ergebnisse, die von außen zu sehen sind: wir sind angekommen, wir haben eine Mission erfüllt. Es geht vor allem um unsere eigene Stärkung. Wir gehen aus dem Abenteuer, aus der Unternehmung kräftiger hervor, als wir hineingegagngen sind. So haben viele Religionen Prüfungen für ihre Angehörigen, wie zum Beispiel den Fastenmonat Ramadan. Es besteht die halbe alte Weltliteratur aus den Geschichten von Helden, die auszogen, um wiederzukommen. Aber auch die Trägodien handeln von Steinen im Weg: die nicht überwunden wurden. Vielleicht brauchen wir die Hälfte unserer Zeit zur Auffrischung unserer Kräfte: wenn wir jung sind durch Geschichten und Ablenkung, wenn wir alt sind, durch Schlaf und Hinlenkung.

Das beste jedenfalls, was man aus seinem Zorn machen kann, ist Kraft. Zorn vergeht zwar auch von allein, aber das dauert sehr lange und verbraucht sehr viel Kraft.

Sodann gibt es durch die Steine, die uns in den Weg gelegt werden, neues Material. Das kann man sich ganz bildlich vorstellen. Aber es ist oft nicht das eigentliche Material, das uns fehlt, sondern die Verknüpfung. Ein Weg, den wir schon oft gegangen sind, erhält eine neue Perspektive. Ein Weggefährte, den wir schon lange kennen, wird vom Freund zum Helfer, vom Helfer zum Retter, vom Retter zum Gott. Leider geht das auch oft umgekehrt. Deshalb brauchen wir den Trost und die Richtschnur, dass aus jedem Stein etwas zu machen sei.

Ein heiterer Trotz ist ist eine wunderbare Folge der Steine, die uns scheinbar oder wirklich in den Weg gelegt werden. Rache, Zorn oder gar still in sich gekehrte Wut und Resignation, das sind alles selbstzerstörerische Kräfte. Selbst wer es geschafft hat, seinen Nachbarn, der ihn zerstören wollte, zu zerstören, findet sich selbst am Boden, mindestens mit seinem Gewissen. Trotz zeugt von Eigenwillen und Selbstbehauptungskraft, Heiterkeit ist zusammen mit ihrer Schwester, der Freundlichkeit, der Wohlfühlkatalysator und die beste Umgangsform.

Auch mit der besten Laune hingegen ist noch kein Haus gebaut, wenn nicht Kreativität und Konstruktion hinzutreten.

Wir würden viel weniger über uns und unsere Steine grübeln, wenn es uns gelänge, uns immer in kreativen und konstruktiven Prozessen zu befinden. Wenn wir also, statt zu glauben, dass wir einen Weg nur gehen müssen, an seinem Rand Bäume pflanzen und Häuser bauen würden. Viele Lehren der Vergangenheit beziehen sich auf einen existenziellen Lebenskampf oder sogar Lebenskrampf. Dagegen könnte ein Großteil der Menschheit längst aufhören zu glauben, dass das Leben nur dazu da ist, das Leben zu erhalten. Man kann, ohne selbstlos sein zu müssen, für andere wirken. Endlich haben wir die Zeit und das Geld und die Kraft, nicht nur ein Haus zu bauen und einen Nutzgarten anzulegen, sondern ein Labyrinth daneben zu stellen, einen Rosengarten, der andere erfreut. Wir können für andere schreiben, für uns und andere singen oder rappen. Flohmärkte schärfen den Blick für das Vergangene. Feuerwehren erzeugen Mut und Entschlusskraft. Integrationsvereine zeigen uns, dass das Fremde machbar ist. Das Internet ist keine bittere Last, sondern eine Möglichkeit, die man auch immer wieder abschalten kann, so wie man sich selber abschaltet, wenn man es anschaltet.

Natürlich gibt es wirkliche Schwierigkeiten, Krankheiten, Schicksalsschläge. Aber das meiste, was uns aufhält, ist Angst vor dem Neuen. Deshalb machen wir aus den Steinen im Weg Dämonen. Sie hießen früher Vampire oder Teufel, heute Sachzwang und Datenklau.

Statt das zu glauben, sollte man lieber heiter seinen Weg gehen. Vielleicht gibt es ja doch einen Weg, der für uns bestimmt ist, den wir finden müssen, den wir freiräumen von gefallenen Steinen und Menschen. Diese Sicht hindert ganz bestimmt nicht, Häuser und überhaupt Schönes zu bauen.

Auch die Tradition in uns ist nicht unüberwindlich. Sie ist ein Stein, den wir oft nicht erkennen oder sogar nicht erkennen können, der uns mitgegeben wurde, um mit ihm unterzugehen oder mit ihm wegzufliegen.

Ab heute wollen wir die Steine besingen, die uns im Weg liegen, fröhlich lächeln, wenn etwas nicht nach Plan geht, uns freuen, wenn etwas Unerwartetes passiert, nach links sehen, wo wir bisher immer rechts das Böse vermutet haben, über irische Segenswünsche nicht mehr lachen und selbst die Lokalzeitung als einen Blickwinkel wahrnehmen.

EXKURS: Katastrophen

Am 1. November 1755 zerstörte ein Erdbeben, ein Tsunami und ein daraus folgender Großbrand Lissabon, die Hauptstadt eines Weltreiches und des Katholizismus. Sechs Minuten Katastrophe töteten 100.000 Menschen, zerstörten 85% der Wohngebäude und den hundertprozentigen Glauben an das alleinige Wirken eines allgütigen Gottes. der Pragmatismus der Aufklärung fand seinen Ausdruck in dem berühmten Satz des Ministerpräsidenten: ‚Und nun? Beerdigt die Toten und ernährt die Lebenden.‘ Das war die Geburtsstunde des Widerstands gegen religiösen Fatalismus, der Beginn der Aufklärung. Auch die Seismologie und die wissenschaftlichen Umfragen nahmen durch die Initiativen des Marques de Pombal, jenes denkwürdigen Ministerpräsidenten, hier ihren Anfang.

Am Nikolaustag des Jahres 1917, während in Europa die Urkatastrophe des bösen zwanzigsten Jahrhunderts wie ein Stummfilm, wie eine in die Tat umgesetzte Ballade Strophe für Strophe ablief, erschütterte die gewaltigste bis dahin von Menschen erzeugte Explosion die kanadische Kleinstadt Halifax. Zwei Schiffe mit tödlichen Ladungen kollidierten und töteten tatsächlich knapp 2000 Menschen. Zahlreiche Häuser und Straßen wurden zerstört. Ein Bahnbeamter warnte einen einfahrenden Zug und rettete 300 Menschenleben, wusste aber, dass das seine letzten Worte waren. Die beginnenden Aufräumarbeiten wurden durch eine Blizzard behindert. Ein Welle der Solidarität der Wohltätigkeit breitete sich über der Stadt aus. Sogar die Fremdheit zwischen evangelischen und katholischen Menschen wurde, nicht durch die Toleranzaufforderungen der Bibel, sondern durch dieses katastrophale Großereignis aufgehoben.

Von 1933 bis 1945 herrschten in Deutschland, von 1924 bis 1953 in der Sowjetunion Schreckensregime mit vielen Millionen Toten. Zurecht wird immer wieder daran erinnert, wie Menschlichkeit durch unerlaubte und völlig sinnlose Klassifizierung zeitweilig aufgehoben werden kann. Sowohl in den deutschen Konzentrationslagern als auch in den russischen GULAGs töteten Menschen ihre Mitmenschen, weil sie der Propaganda glaubten, dass es keine Mitmenschen wären. Demografisch hatten diese beiden Schreckensregime allerdings keine Auswirkungen. In dem Jahrhundert des Massenmords verdoppelte sich die Zahl der Menschen zweimal: von zwei auf vier und von drei auf sechs Milliarden Menschen. Und obwohl das wieder Angst und Hysterie auslöste, konnten die Demokratie, die Bildung und die Globalisierung nicht mehr aufgehalten werden. Die Globalisierung zeigt sich einerseits als Bewegung von Gedanken und Dingen, also Waren, andererseits als Migration. Nie war Kants Satz wahrer, dass im Reich der Zwecke alles entweder einen Preis oder eine Würde habe, als im Jahrhundert des Schreckens und des Aufblühens.

Während viele Menschen 1989 als den Schlusspunkt von Tyrannei und Krieg gesehen haben, zeigt sich keine dreißig Jahre später mit dem Aufkommen des Rechtspopulismus eine ernste Krise. Wer diese Krise als Katastrophe sieht, sollte bedenken, dass am Emde dieser Phase dann ein neuer Schub von Demokratie, Bildung und Pazifismus kommen wird.