ÜBER MEDIEN

Die Spiritisten verstanden unter einem Medium einen hypnotisierten willenlosen Menschen, der ihren Fantasien folgte und die Zuschauer schwer beeindruckte. Vielleicht waren diese Medien auch arbeitslose Schauspieler, dann würden sie unserer heutige Vorstellung von Medien besser entsprechen, nämlich dass sie Vermittler zwischen zwei Systemen sind: die Zeitung zwischen Welt und Leser, der aber auch zur Welt und als Leserbriefschreiber und Artikelinterpret ebenfalls zur Zeitung gehört, das Geld zwischen Angebot und Nachfrage eines Marktes, die Macht zwischen Ideal und Wirklichkeit einer Gesellschaft.

Mein kleiner Patenenkel Nathan tut sich mit dem Sprechenlernen schwer, denn er versucht es in vier Sprachen gleichzeitig: Tigrinya, die Sprache seiner Eltern, natürlich Deutsch, die Sprache seiner Heimat, und leider auch Englisch. Englisch kam einerseits durch seinen Vater, der nach sechs Jahren hier immer noch glaubt oder hört, dass Englisch im Prinzip das gleiche ist wie Deutsch. Nichts spricht übrigens gegen Englisch, selbst wenn es uns zeitweise irritiert. Aber: was Luhmann noch nicht wissen konnte, Nathan lernte auch Englisch mithilfe des Telefons seiner Mutter. Bevor er seinen ersten Vierwortsatz in Deutsch sprach, konnte er das englische Alphabet, die Zahlen bis zwanzig und mehrere Liedtexte. Bisher hat er sein sprachliches Defizit mit langen und sehr emotional vorgetragenen Geschichten in einer vierten, selbst konstruierten Sprache ausgeglichen. Wir nennen diese Sprache scherzhaft Swahili, denn die Mitmenschen im Supermarkt oder auf dem Spielplatz halten dies für eine wirkliche, ganz sicher afrikanische Sprache. Aber gestern hat er zum ersten Mal eine kleine Geschichte mit mehreren Vierwortsätzen in Deutsch erzählt. Sie schien aus einem Lehrbuch ‚Deutsch als Fremdsprache‘ zu sein, nur seinen Namen hatte er als untrügliches Kennzeichen eingebaut: ‚Hallo Nathan, wie geht es dir. Bei mir ist alles gut. Und bei dir?‘

Es sieht alles danach aus, dass aus dem Defizit leicht ein Profit werden könnte, man muss nur das josephische* Dilemma anwenden: noch nackt als Ware für die Sklavenhändler oder als Objekt für den Tod in der Grube liegen – und schon das Leben als Prime Minister, Womanizer, Macher und Marktmonopolist planen und beginnen. Obwohl es offensichtlich tödlich endende Katastrophen gibt, gibt es genau so offensichtlich auch wachsendes Glück einer überwiegend pluralistischen Menschheit und die Abnahme von Krieg, Pest und Hunger. Daran können auch Corona und Putin nichts ändern.   

Eines seiner neuen Lieblingsspiele bei mir ist es – obwohl er mich noch nie beim Lesen gesehen hat, und daran können wir ersehen, dass lernen immer auch Antizipation und Imagination ist – sich ein Buch herauszusuchen und zu lesen, aber auch, wie wahrscheinlich seine Erzieherin im Kindergarten, im Buch zu blättern, es dann umzudrehen und mir die aufgeschlagenen Seiten zu zeigen und in seinem Swahili wortreich zu erklären. Aber gestern war es ein Büchlein** von Niklas Luhmann ‚Das Kind als Medium der Erziehung‘ aus dem Jahre 1991. Das Buch stammt nicht aus meinem Bestand, sondern eines meiner Kinder oder Schwiegerkinder hat es offensichtlich für das Studium gebraucht, benutzt und dann hier abgelegt. Allerdings zeigen die Anstreichungen, dass Leser derselben Kategorie ganz ähnliche Erwartungen und Interpretationen haben.

Der Text befremdet zunächst durch seinen fast krampfhaft wirkenden Versuch, das Kind in eine Definition zu pressen. Definitionen streben zur Tautologie, weil sie einen Prozess mithilfe des Zeitgeists anzuhalten versuchen***, andererseits sind sie selbstverständlich willkommene Hilfsmittel. Er beschreibt drei Typen der Erziehung, nämlich die antike bis mittelalterliche Vorstellung der tabula rasa. Merkwürdigerweise korrespondiert dieses Bild mit denen der Frau als bloßem Gefäß und des Sklaven als sprechendem Tier. Sodann beschrieb Rousseau den Zögling als perfektibel, also als einen durchaus schon eigenständigen Menschen, der perfektioniert werden kann und soll. Diese Perfektibilität kann man besonders gut an Spezialbegabungen, etwa der Musik oder der Mathematik, erklären. Heute und systemtheoretisch betrachtet, erscheint das Kind als eine black box, deren innere Entwicklung von außen weder beobachtet noch wirklich beeinflusst werden kann. Trotzdem korreliert fast jeder Mensch, sei er nun (erfolgreich) erzogen oder nicht, mit den Kommunikationssystemen seiner Umwelt. Aber das Kind ist keine Trivialmaschine. Das Kind ist in der Erziehung das, was auf dem Markt das Geld und in der Wissenschaft die Wahrheit ist, mit der Einschränkung, dass es nicht binär codifizierbar, sein Ausgang also nicht absehbar ist. Deshalb ist das ‚was der Erzieher sich vornimmt, unmöglich‘. Dieser Satz Luhmanns ist gleichzeitig radikal und trivial. Trivial ist er, weil hinlänglich bekannt ist, dass weder der Mensch selbst noch seine Mitmenschen zu keinem Zeitpunkt das Ende, den Zweck, das Ergebnis oder den Sinn des konkreten Lebens benennen können. Aber er ist radikal, weil er das Kind endlich vom Erzieher emanzipiert.  

Das Kind als Medium vermittelt zwischen den sozialen (Kommunikations-) und den psychischen (Bewusstseins-) Systemen. Das erscheint hochevident, aber es bleibt ein Unbehagen, dass das geliebte Kind systemtheoretisch und in Bezug auf die Erziehung als ein Medium eingeordnet werden kann. Trotzdem sollte uns auch dieses kleine Büchlein, das Nathan in einem unordentlichen Bücherregal auf dem Spitzboden fand,  nicht unseren Optimismus nehmen. Genauso wie Rousseaus Emile, der nicht wirklich innovativ oder auch nur befriedigend ist, aber dennoch die Tür zu einem neuen Zeitalter aufstieß, kann auch ‚Das Kind als Medium der Erziehung‘ unseren Blick weiten, ohne selbst schon der neue Raum zu sein.

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*Joseph, der Enkel Abrahams

**Niklas Luhmann, Das Kind als Medium der Erziehung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006

***daraus folgt, dass der Zeitgeist nichts anderes ist, als die Menge aller Definitionen zu einem Zeitpunkt t. Dieser Zeitgeist wird aber für jede Definition gebraucht, so dass sie beide und immer einen tautologischen Kausalnexus bilden.

HEIMSUCHUNG

Als Kinder haben wir uns vor einem Gott gefürchtet, der mit Strafen die Menschheit zu disziplinieren versuchte. Aber andererseits war die Antwort des allerdings inspirierten Menschen außergewöhnlich: Noah, der schon einen Umstürzler als Vater hatte, baute ein gigantisches Vehikel, mit dem er die Schöpfung exemplarisch rettete. Das Gewimmel hätte man gern gesehen: alle Tiere der Erde, die großen und die kleinen, die groben und die feinen, friedlich vereint in einer riesigen Barke oder in einem Container, wohl versorgt und wohlbehütet. Heute wäre ihm der Friedensnobelpreis sicher, damals wurde er Prophet aller Weltreligionen und der erste Naturschützer.

Als wir Kinder waren, hatten wir aber auch Großmütter, die alle Katastrophen zu Prüfungen des Schicksals erklärten. Sie drehten das Unglück einfach und sehr tröstlich um: man konnte auch gewinnen. Nichts war vorbestimmt, schon gar nicht der Verlust.

Wenn man sich die Sintflut als Naturkatastrophe vorstellt, dann zeigt sie den Typ von Heimsuchungen, in dem es keinen Schuldigen gibt: Der Vulkan Tambora bricht aus, das Wasser des Ozeans steigt. Je weiter sich allerdings die menschliche Zivilisation in technologische Lösungen steigert, mit denen sie höchst erfolgreich den Hunger und die Krankheiten besiegte, desto größer wird die Anzahl der Menschen. Und nun gibt es Naturkatastrophen, die die Menschheit verursacht hat. Es gab sie schon in der Antike: das Abholzen der Wälder in heutigen Italien. Und es gibt sie heute noch: Energieverschwendung, Ressourcenverschmutzung, Überfischung, Überdüngung, Massentierhaltung, alles das hat Folgen für die Natur, die man sehen und hören kann.

Die Kriege haben wir besser beenden können: es gibt sie noch, aber keiner hat mehr die Größe und Vernichtungskraft des letzten europäischen Krieges, den die heutigen Urgroßmütter und Urgroßväter noch miterleben mussten und dessen Folgen man selbst in unserer Gegend noch sehen und spüren kann.

Wenn man also statt Strafen Prüfungen einsetzt und sie sogar durch das moderne Wort Herausforderungen ersetzt, dann zeigt sich, dass es sinnlos ist, einen Schuldigen oder gar eine Gruppe von Schuldigen zu suchen. WENN JEDER DIE SCHULD BEI SICH SUCHT, IST DER TÄTER SCHNELL GEFUNDEN.

Ob man nun glaubt, dass Gott uns straft oder das Schicksal uns eine Prüfung schickt, in jedem Fall kann man die Heimsuchung, die es als eine solche geheimnisvolle Krankheit noch nie in der modernen Welt gab, als Herausforderung sehen und statt verzweifeln handeln. Das beste Handeln ist der Zusammenhalt, denn viele wissen mehr als einer und alle zusammen haben mehr Mut als du und ich.

Aber diese Schwarmintelligenz, wie sie Stichlinge und Sardinen, halbwüchsige Stare und Bisons habe, ist auch ein wunderbares Versteck, in dem sich die Brandenburger Bildungsministerin mit ihrer zweitschlechteste Landesschule genauso gut verstecken kann – wie ihr Gatte, hätte ich beinahe geschrieben – wie jeder arbeitsunwillige Hartz4-Empfänger. Hier zeigt sich, dass innovative Lösungen immer von dem Kranich stammen, der andersherum fliegt. Deshalb erkennt man, wusste schon Jonathan Swift, das Aufscheinen eines neuen Genies an der Verschwörung der Idioten, die es hervorruft.

Je mehr Menschen es gibt und je perfekter sie ihr Leben organisieren, desto pathologischer scheinen sie an alten, aber überholten Lösungen zu kleben. Das Tempo der technischen Innovationen irritiert viele Menschen so sehr, dass sie auf die Rezidive des Autoritarismus setzen, all die Typen aus Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistans, Pakistan, Saudi Arabien oder Ägypten, die soeben in Beijing bei der Eröffnung der Olympischen Spiele zu Gast waren. Schon allein an dieser Versammlung des Schreckens kann man leicht erkennen, dass die zur Herausforderung umgedeutete Katastrophe nicht unbedingt einen guten Ausgang haben muss –  mittelfristig. Auf lange Sicht sind wir zwar alle tot, wie der weise Lord John Maynard Keynes wusste, aber das Leben geht trotzdem weiter. Auf lange Sicht – ohne das egoistische Wir – hat sich noch immer alles verbessert. Immer fand sich ein Noah, der genügend Stichlinge hinter sich bringen konnte, um vorwärts zu gehen. Am Wegesrand dagegen geiferten die Nacktschnecken.

DIE NORMATIVE KRAFT DES FANTASTISCHEN

Es war und bleibt ein großer Gedanke des Staatsrechtlers Georg Jellinek, dass nicht nur die Normen und Gesetze normativ wirken, sondern auch die Fakten. Dass andererseits die Normen Fakten schaffen, wurde jahrtausendelang mit drastischen Strafen durchzusetzen versucht, wie wir wissen ohne durchschlagenden Erfolg. 71 vor Christus ließ der römische Prätor Marcus Licinius Crassus 10.000 Sklaven an der Via appia vor Rom kreuzigen, und trotzdem beruht heute kein anerkanntes Staatssystem mehr auf der Degradierung des Menschen zur Ware. Crassus selbst ist ein krasses Beispiel dafür, dass Korruptheit zum Genom der law-and-order-Leute gehört. Selbst die Ehre als erbliches Charakteristikum ist vergangen, denn die Kehrseite der Ehre ist die Ächtung. Statt dessen hat seit Yesus, Rousseau und Kant jeder Mensch eine Würde, die von allen gleich respektiert wird. Menschenhandel ist genauso kriminalisiert worden wie Folter, Todesstrafe und Krieg. Träger dieser neuen Menschlichkeit sind die Demokratie, die Bildung und der Wohlstand.  

Aber: seit der Zeitenwende gibt es auch exponentiell mehr Fakten, deren normative Kräfte nach Verwirklichungen drängen. Wenn man denkt, glaubt man sich in einem Meer von Zweifeln, kauft man dagegen, so steht man Fluten von Fakten gegenüber. Der Wohlstand gebiert nicht nur Waren im Überfluss, sondern auch Geld. Während die Fiktion lange Zeit eine elitäre und rare Ware und Instrument der Eliten war, ist sie mit ihrer unendlichen Kopierbarkeit nicht nur selbst in den Strudel der allgemeinen Inflation geraten, sondern tritt überall auch an die Stelle der Vernunft. Diese rationale Kraft des Fiktiven hat es schon immer gegeben, nicht aber die Menge der Geschichten.  

Neben der Deutung, dass es uns nicht schlechter gehen kann als Hiob oder Ödipus, dass unser Zögern niemals länger dauern kann als Hamlets Prokrastination, gibt es immer wieder viele Menschen, die glauben, dass auch ihr Schicksal fremdbestimmt ist, dass ihre oder gerade im Gegenteil die feindliche Regierung aus Marionetten besteht. Es ist immer wieder schwer zu fassen, dass das Leben, dass die Welt nicht zu fassen sind. Das Rationale hat kurzfristig nicht genügend Kraft zu überzeugen.  Wir erinnern uns: Adolf Hitler und Willy Brandt – Marionetten des Monopolkapitals, Walter Ulbricht und Fidel Castro – Marionetten Moskaus. Niemand handelte aus Gründen, alle agierten sie aus Abgründen. So schien die Welt verloren.

Es gab immer schon wenige universelle und wahrscheinlich noch weniger regionale Geschichten. An dem Schicksal von Hiob, der heute noch für schwarze Tage und schlechte Nachrichten (jobsposten, kara haber, Hiobsbotschaft) steht, kann man gut die Konstruiertheit jedweder Geschichte sehen: der allmächtige, aber anthropomorphe Gott wettet mit dem nicht weniger mächtigen, gut erkennbaren Teufel  um einen konkreten rechtschaffenen Menschen, der dreimal seinen Reichtum, aber niemals seinen Glauben verliert. Die Geschichte ist nicht nur sichtlich konstruiert, sondern auch offensichtlich didaktisch. Wir sollen erkennen, dass wir niemals so übel dastehen wie Hiob, schon einmal, weil wir nicht so tief fallen können. Hiob wie Ödipus, aber auch Hamlet und Oskar Matzerath sind Spielbälle ihrer Erfinder und Paradigmen für uns Leser.

Während also die Phantasie oder besser die Fantasy fast schon alle Menschen auf der Welt zu Schwestern und Brüdern gemacht hat, verbleiben Kardinäle, Generäle, Kanzler und Minister in dem Wahn befangen, dass sie als einzige der regelhaften Vernunft folgen, die es nicht geben kann. Dabei ist diese Vernunft ein Würfel aus Gitterstäben und damit ein Faradayscher Käfig gegen die Fantasy – allerdings im Traum, die Fantasy dagegen ist der freie Fall aus dem Empire State Building – allerdings im Traum. Leider hat diese Vernunft immer noch den besseren Ruf. Sie strahlt Sicherheit aus, die Sicherheit eines Käfigs. Die Kraft, die jedes Kind im Überfluss hat, wirkt, aber die Angst, die jeder Erwachsene mehr als genug hat, bleibt.