DIE NORMATIVE KRAFT DES FANTASTISCHEN

Es war und bleibt ein großer Gedanke des Staatsrechtlers Georg Jellinek, dass nicht nur die Normen und Gesetze normativ wirken, sondern auch die Fakten. Dass andererseits die Normen Fakten schaffen, wurde jahrtausendelang mit drastischen Strafen durchzusetzen versucht, wie wir wissen ohne durchschlagenden Erfolg. 71 vor Christus ließ der römische Prätor Marcus Licinius Crassus 10.000 Sklaven an der Via appia vor Rom kreuzigen, und trotzdem beruht heute kein anerkanntes Staatssystem mehr auf der Degradierung des Menschen zur Ware. Crassus selbst ist ein krasses Beispiel dafür, dass Korruptheit zum Genom der law-and-order-Leute gehört. Selbst die Ehre als erbliches Charakteristikum ist vergangen, denn die Kehrseite der Ehre ist die Ächtung. Statt dessen hat seit Yesus, Rousseau und Kant jeder Mensch eine Würde, die von allen gleich respektiert wird. Menschenhandel ist genauso kriminalisiert worden wie Folter, Todesstrafe und Krieg. Träger dieser neuen Menschlichkeit sind die Demokratie, die Bildung und der Wohlstand.  

Aber: seit der Zeitenwende gibt es auch exponentiell mehr Fakten, deren normative Kräfte nach Verwirklichungen drängen. Wenn man denkt, glaubt man sich in einem Meer von Zweifeln, kauft man dagegen, so steht man Fluten von Fakten gegenüber. Der Wohlstand gebiert nicht nur Waren im Überfluss, sondern auch Geld. Während die Fiktion lange Zeit eine elitäre und rare Ware und Instrument der Eliten war, ist sie mit ihrer unendlichen Kopierbarkeit nicht nur selbst in den Strudel der allgemeinen Inflation geraten, sondern tritt überall auch an die Stelle der Vernunft. Diese rationale Kraft des Fiktiven hat es schon immer gegeben, nicht aber die Menge der Geschichten.  

Neben der Deutung, dass es uns nicht schlechter gehen kann als Hiob oder Ödipus, dass unser Zögern niemals länger dauern kann als Hamlets Prokrastination, gibt es immer wieder viele Menschen, die glauben, dass auch ihr Schicksal fremdbestimmt ist, dass ihre oder gerade im Gegenteil die feindliche Regierung aus Marionetten besteht. Es ist immer wieder schwer zu fassen, dass das Leben, dass die Welt nicht zu fassen sind. Das Rationale hat kurzfristig nicht genügend Kraft zu überzeugen.  Wir erinnern uns: Adolf Hitler und Willy Brandt – Marionetten des Monopolkapitals, Walter Ulbricht und Fidel Castro – Marionetten Moskaus. Niemand handelte aus Gründen, alle agierten sie aus Abgründen. So schien die Welt verloren.

Es gab immer schon wenige universelle und wahrscheinlich noch weniger regionale Geschichten. An dem Schicksal von Hiob, der heute noch für schwarze Tage und schlechte Nachrichten (jobsposten, kara haber, Hiobsbotschaft) steht, kann man gut die Konstruiertheit jedweder Geschichte sehen: der allmächtige, aber anthropomorphe Gott wettet mit dem nicht weniger mächtigen, gut erkennbaren Teufel  um einen konkreten rechtschaffenen Menschen, der dreimal seinen Reichtum, aber niemals seinen Glauben verliert. Die Geschichte ist nicht nur sichtlich konstruiert, sondern auch offensichtlich didaktisch. Wir sollen erkennen, dass wir niemals so übel dastehen wie Hiob, schon einmal, weil wir nicht so tief fallen können. Hiob wie Ödipus, aber auch Hamlet und Oskar Matzerath sind Spielbälle ihrer Erfinder und Paradigmen für uns Leser.

Während also die Phantasie oder besser die Fantasy fast schon alle Menschen auf der Welt zu Schwestern und Brüdern gemacht hat, verbleiben Kardinäle, Generäle, Kanzler und Minister in dem Wahn befangen, dass sie als einzige der regelhaften Vernunft folgen, die es nicht geben kann. Dabei ist diese Vernunft ein Würfel aus Gitterstäben und damit ein Faradayscher Käfig gegen die Fantasy – allerdings im Traum, die Fantasy dagegen ist der freie Fall aus dem Empire State Building – allerdings im Traum. Leider hat diese Vernunft immer noch den besseren Ruf. Sie strahlt Sicherheit aus, die Sicherheit eines Käfigs. Die Kraft, die jedes Kind im Überfluss hat, wirkt, aber die Angst, die jeder Erwachsene mehr als genug hat, bleibt.  

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