HIOB UND GRÜNSPAN. Botschaft oder Fanal

HIOB ALS BOTSCHAFT

 

Hiob gehört zu den großen Erzählungen, die uns gleichzeitig bewegen und trösten sollen und auch können. Hiob sieht seinen Erfolg übertrieben groß und sein Leid erdrückt ihn. Sein Erfolg ist – mit Ausnahme seiner Kinder – Haben und sein Leid ist Krieg und Krankheit, also für die Zeit, in der er lebt: Sein. Er findet sich auserwählt für übergroße Not und Ungerechtigkeit. Aber er ist nicht auserwählt. Keiner ist auserwählt. Da er, wie wir alle, alles richtig gemacht hat, trifft ihn jede Strafe zu unrecht. Überhaupt: warum glaubt er denn, dass er bestraft wird. Oder: glaubt nicht jeder an seine Unschuld? Würde jeder die Schuld bei sich suchen, wären die Täter schnell gefunden.

 

Jede Strafe ist unrecht. Die spiegelnden Strafen waren bloße Rache, sie vermehrten das Leid, statt es zu vermindern. Auch heute noch glaubt eine knappe Mehrheit, dass Strafe gerecht sei. Daraus, dass die Untat ungerecht ist, folgt nicht, dass die Strafe gerecht sei.  Gerecht wäre vorbeugendes Verhindern  der Untat und liebevolle Wiedereingliederung des Täters. Wenn eine Wiedergutmachung am Opfer nicht möglich ist, so erhöht sie doch die Bilanz des Guten in einer Gesellschaft. Das universelle Tötungsverbot muss noch mehr  durch Waffenverbote und -ächtung unterstützt werden. In Europa und Japan nimmt die Zahl dieser Untaten drastisch ab, während sie in Ländern mit Armut und Waffen erschreckend  und fast antik hoch bleibt.

So ist es auch mit dem Lohn, dem Verdienst oder Gewinn, den man sich aus seinen Taten erhofft. Wir würden alle Hiob sozusagen überwinden, wenn wir  es verstünden, Gutes zu tun, um es sofort zu vergessen. Stattdessen erwarten wir Dank und Lohn. Es schmerzt, wenn der Verdienst zum Bettler gemacht wird. Aber der wirkliche Gewinn liegt immer im Zugewinn an Seelenfrieden. All die dilemmatischen, schier unlösbaren Probleme der Menschheit, sie nähern sich mikrometermäßig ihren Lösungen, wenn wir anderen helfen, ohne zu fragen und ohne Lohn zu erwarten. Es gibt keinen böseren Verdienst als Finderlohn. Der Lohn der Treppe ist das oben, nicht noch etwas.

 Die höchste Instanz zur Beurteilung unseres Lebens ist Gott, aber er gab uns ein Gewissen. Und deshalb muss ein jeder Mensch mit seiner Schuld leben. Niemand kann sie ihm nehmen und niemand nimmt sie ihm. In den griechischen Tragödien, die zur gleichen Zeit entstanden wie das Buch Hiob, geraten die Menschen unschuldig in schuld. Auch Hiobs Leid geht auf die Wette Gottes mit seinem Widersacher, dem Satan, zurück, liegt also nicht in Hiobs Leben. Viele Täter erschrecken vor ihrer Untat. Sie wissen nicht, wie sie dazu gekommen sind. Es gibt immer nicht nur einen Grund, warum etwas geschieht. Vielmehr benötigt man, um ein Ereignis zu erklären, mehr Gründe als man je finden kann. Das geht soweit, dass man eigentlich gar keine Warumfragen stellen kann: niemand kann sie beantworten. Zu groß ist die Masse der Gründe und Gegengründe, der Tatsachen und Rechtfertigungen.

Wir müssen in diesem Geflecht von Taten und Untaten, von Schuld und Sühne leben, wir haben keinen anderen Ort als diese Welt. So gesehen gehören Hiob und Grünspan in die große Reihe der Märtyrer. Das sind Menschen, die standhalten, obwohl sie wissen, dass sie scheitern, unter der Last fremder Schuld zusammenbrechen werden, die     das auf sich nehmen, was andere ganz offensichtlich falsch machen. Aber die anderen sind das herrschende System, sie glauben erst recht Recht zu haben. In diesem Netzwerk von Taten und Untaten hat niemand recht. Der Fehler ist nicht die einzelne Tat, sondern das bestehen auf ihr, das Rechthabenwollen, gefolgt vom Wahrheitpachten. Dann kommen schon die Kreuzzüge und dreißigjährigen          Weltkriege. Gott ist keine Burg, in der man Recht hat. Gott ist innen, nicht außen.

Das Leben folgt keiner Rechenkunst. Kein Kalkül ist möglich. Während der Pest müssen die Uhrmacher schweigen. Wir werden von dem, was wir Glück nennen, genauso überrascht, wie von dem, was uns Unglück scheint. Jähe Wendungen des Lebens sind genauso wenig vorhersehbar wie lange Strecken der Langeweile. Deshalb brauchen wir Hoffnung, Erzählung, Schlaf, Droge, Ablenkung, Trost. Die Hoffnung wird am meisten kritisiert, manche glauben gar, dass nur Narren hoffen. Hoffen hängt mit Wahrscheinlichkeit zusammen. Die Wahrscheinlichkeit für einen Lottogewinn ist zum Glück genau so klein wie für den Blitzschlag. Die Wahrscheinlichkeit dagegen, dass wir jemanden erfreuen können, ist groß, wenn  wir nur genug dafür tun. Jeder hofft zurecht, dass er ein besserer Mensch werden kann. Niemand wird zum Narren, der hofft und harrt, erzählt und tröstet, schläft oder sich betäubt, wenn die Schläge des Schicksals zu hart scheinen. Wenn Sinus das Kreuz des Lebens ist, dann ist Cosinus die Lust des Strebens.

Das Leben ist kein Kalkül. Es hat demzufolge mit Zahl und Geld nichts zu tun. Das Geld ist nur eine Projektion der Zeit, die wir zur Verfügung haben und für     etwas ausgeben. Genauso wenig ist das Leben digital abbildbar, wenn uns das     auch   Netz und Filme und Spiele immer wieder suggerieren wollen. Das Leben bleibt das Leben aus Fleisch und Blut, fragil, verletzlich, kostbar. Das Leben hat     Würde und muss seine Würde behaupten, nur die Dinge haben einen Preis. Die besten Dinge aber sind die Geschenke, die Gaben, die ebenfalls keinen Preis, sondern eine Würde haben. Der schönste Satz, den ein Mensch zu einem anderen sagen kann, ist deshalb: du musst dich nicht bedanken, denn du bist das Geschenk. Das Leben ist kein Kalkül, und das einzige, was keine Inflation hat, ist das Wunder.  

Liebe ist die weiteste und größte Lösung aller unserer Probleme und unseres Schicksals. Sie eröffnet neue, weite Horizonte, weil sie sich anderen Menschen zuwendet.  Wenn die maximale Kommunikation dadurch zustande kommt, dass ein liebendes Paar in einem leeren Zimmer schweigt, dann schließt dies aber auch die gesamte Menschheit aus. Deshalb ist Liebe, wie jeder weiß, mehr als die individuelle Liebe zwischen zwei Menschen. Liebe, die die Menschheit einbezieht, ist Nächstenliebe oder Solidarität. Jedem Menschen ist das Kindchenschema eingeboren, viele haben das Helfersyndrom. Wer kalt ist, wird erfrieren. Wem kalt ist, wird geholfen. So funktioniert Gemeinschaft, ohne die wir nicht sein können. Gehe in ein fremdes Dorf irgendwo auf der Welt: man wird dir Tee bringen und deine Schuhe trocknen! Alles, was du brauchst, um keine Angst zu haben, ist Liebe, aber alles, was du brauchst, um zu lieben, ist, keine Angst zu haben. Liebe ist aber auch geben, ohne nehmen zu wollen. Nicht zufällig stammt einer der schönsten Sätze des Weltdenkens aus einer Liebestragödie: the more i give, the more i have: je mehr ich geb, je mehr ich hab. [Shakespeare, Romeo und Julia]

Die tiefste Lösung aber für den Menschen ist der Glaube. Mit ihm und sich ist der Mensch allein. Wir glauben an etwas, das größer ist als wir, und wir bauen Häuser, die mehr sind als Schutz vor Regen und Sonne. Mit dem Tod aber können wir nur leben, weil wir nicht an ihn glauben. Es ist nicht wichtig, wie wir das, woran wir glauben, nennen, wenn es nur größer ist als wir selbst und die Summe von unseresgleichen. Hiob und Grünspan stellen sich einen Gott vor, den es nicht geben kann, der ihr Leben verwettet und verspielt. Das ist menschlich, aber nicht göttlich. Nur Ultraorthodoxe können sich den Teufel als Tatsache, aber den Frieden  als bloße Metapher vorstellen. Tiefer Friede kommt aus tiefem Glauben. Das ist die Tiefe des Menschen. Glaube ist immer einsam. Gruppe dagegen ist Therapie und auch oft nötig. Die Frage, ob Hiob wirklich glaubt oder nur aus opportunistischen Gründen seinen Glauben bekennt, ist ebenso unbeantwortbar wie universell und unnütz. Wir wissen letztlich nicht, ob jemand, der sagt, dass er uns liebt, nicht sich und seine Befriedigung meint. Wir müssen es glauben, wir wollen es glauben, wir sollen es glauben. Aber genauso wenig wissen wir, wenn wir annehmen, dass wir glauben, ob wir uns nicht Vorteile bloß von der Einhaltung der Regeln, der Traditionen und Rituale versprechen. Wer – außer Grünspan – wäre kein Opportunist?

Hiob ist die Parabel für die Inflation schlechter Nachrichten. Aber sind es auch schlechte Dinge? Ist Hiob zum Schluss nicht stark und demütig, und ist freiwillige Demut nicht der Stärke gleichzusetzen? Hiob belehrt uns, aber wir wollen ihm nicht nacheifern, im bösen nicht, aber auch im guten nicht. Aber jeder von uns kennt einen: der den Schmerz ausgehalten hat, der das böse Schicksal angenommen hat, genauso wie vorher das gute. Wir wissen nicht, ob es einen Gott gibt, der unser Leben verwetten könnte, wenn er wollte, und der den Weg jeder einzelnen Ameise vorbestimmt. Aber wir wissen und glauben, dass es unsere Aufgabe ist, nicht aufzugeben, wieder aufzustehen, dem Nachbarn zu helfen, Gutes zu tun. Es ist gleich gültig, ob wir die Aufgabe als von Gott gegeben annehmen oder mit der Muttermilch der Menschlichkeit in der Vatersprache der Güte aufgenommen oder sogar beides, das ist gleich gültig, wenn wir nur mehr tun als haben zu wollen und sein zu sollen. Wir müssen mehr sein wollen: Geber und Gabe gleichzeitig.

 

GRÜNSPAN ALS FANAL

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Woher wusste er, dass seine Tat schon am nächsten Tag in den Schlagzeilen aller europäischen Zeitungen stehen würde? Die Zeit ist nicht nur manchmal reif für Erfindungen oder Kriege, sondern auch für Fanale. Nicht alle Fanale jedoch werden gehört und gesehen. Sein Fanal ist von den Nazis willig aufgegriffen, von allen anderen, Europäern und Amerikanern, aber ignoriert worden. Die Nazis hatten endlich einen Beweis und die anderen, wer weiß, sahen sich in einem Vorurteil bestätigt. Aber in welchem? Wir alle wissen heute, dass es eine Verschwörung der Menschen aus dem schtetl[1] nicht gegeben haben kann. Vielmehr ist Grünspan ein Vorbote der Schulversagergeneration. Allerdings zählt dazu leider auch Hitler. Während man früher als Schulversager keine Chance hatte, ist das Widersetzen gegen die Welt der Erwachsenen bei manchen ein Synonym für Innovation, die, wie im Falle Hitlers aber auch ein Rückgriff sein kann. Grünspan dagegen wollte ein Signal dagegen setzen, dass der Staat sich das Recht anmaßen kann zu bestimmen, wer wo und wann sein darf oder soll. Die Freizügigkeit gehört zur Demokratie wie die Freiheit überhaupt, die Selbstbestimmtheit und  die Intimsphäre. Er sah etwas verletzt, was zum Menschen gehört, aber damals noch nicht Allgemeingut war. Die Länder, die nicht so antisemitisch wie Deutschland und Polen waren, öffneten sich aber auch nicht sofort und vollständig für den zu erwartenden Flüchtlingsstrom, sondern gaben den Deutschen insgeheim Recht: ein Jude aus Polen zu sein bedeutete damals nichts Gutes. Fügt man dann noch Frau und Linkshänder hinzu, werden alle Vorurteile durch den Namen Curie hinweggefegt. Grünspan wollte zeigen, dass es unrecht ist, dass man erst zweifacher Nobelpreisträger sein muss, um überall geduldet zu werden. Dulden ist auch das falsche Wort. Jeder Mensch muss überall ganz selbstverständlich sein, dann wird die Welt bewohnbar. Der Streit zwischen Freiheit und Ordnung darf nicht Menschen opfern. Loyalität schließt den Tod nicht ein. Hätte Grünspan die heute zugängliche Literatur gelesen, so hätte er wissen können, dass in diesem Sinne seine Tat auch ‚falsch‘ war. Selbst wenn Tyrannenmord als Ausnahme vom Tötungsverbot bestehen bleibt, so kann man sich nicht beliebige Projektionsopfer wählen. Töten ist immer falsch, aber die Schuld am Töten kann man jetzt nicht Grünspan aufbürden, der intelligent genug war, aber nicht genug Zeit hatte, darüber nachzudenken. Grünspan wollte nicht gezwungenermaßen staatenlos sein, aber auch nicht freiweiliig tatenlos. In bezug auf die Wahl seiner Mittel ist Grünspan ein Opfer des Zeitgeistes, aber für das, was er tat, gehört er auf die Liste der Weltinnovatoren. Grünspan ist der Vorkämpfer gegen jede Willkür der Behörden, die schon Hiob und Hamlet beklagten und die auch heute noch so viel Schaden anrichtet, obwohl die Behörden wissen können, dass sie Diener und nicht Herrscher sind. Auch ist er das letzte mögliche Signal gegen den Racheimpuls, der in jedem von uns als archaisches Element steckt, dem von Goebbels schon einen Tag nach Grünpans Tat brutal und alttestamentarisch nachgegeben wurde, der aber für immer geächtet ist durch die Unverhältnismäßigkeit. Das Leid wird durch Rache immer verstärkt, vergrößert. Dagegen verbessert sich das Gesamtsystem, wenn man etwas für andere tut. Das gilt sogar auch für die Grünspan-Initiative. Denn wir wissen heute, dass man Menschen nicht hindern darf, dahin zu gehen, wohin sie wollen. Leben – und wieviel mehr fliehen – heißt aber immer Risiko. Man kann das Leben genauso wenig optimieren wie Märkte, Regierungen und Wasserströmungen. Auch dafür ist Grünspan ein Zeuge. Er ging mit fünfzehn Jahren ohne Schulabschluss von seinen Eltern weg und es ist ihm alles gescheitert, außer in die Geschichte als leuchtendes Fanal einzugehen. In dem Punkt ähnelt er Gavrilo Princip. Auf den wenigen Fotos, die es gibt, sieht er nicht glücklich aus. Er ist gerade von der französischen Polizei verhaftet worden. Glücklichsein scheint nicht der Sinn des menschlichen Lebens zu sein, nur zu leben, ohne etwas zu tun, aber auch nicht.

Niemand von uns kann die Konsequenzen seines Handelns absehen, nur machen die meisten so wenig, dass  man die Folgen vernachlässigen kann. Es wäre also fatal, wollte man die Ermordung des Legationssekretärs Ernst vom Rath als voraussehbares Signal zum Holocaust deuten. Also etwa so: Hitler hätte sich nicht getraut sechs Millionen Menschen umzubringen, wenn Grynszpan[2] nicht vorher den Botschaftssekretär erschossen hätte. Das ist absurd, so kann es nicht gewesen sein, vielleicht war es nicht einmal so, dass die Nazioberen auf ein Signal gewartet haben. Dafür dass sie gewartet haben, spricht eigentlich nur der erste September 1939, wo sie den Anlass, das Signal auf perfide Weise selbst geschaffen haben. Auch zum neunten November 1938 kann man annehmen, dass Goebbels nachgeholfen hat, denn der Legationssekretär hatte außer den Schussverletzungen auch eine Krankheit, die er sich durch homosexuellen Geschlechtsverkehr zugezogen hatte. Wenn man ihn sterben ließ, und dafür spricht einiges, hatte man nicht nur einen Märtyrer mehr, sondern einen schwulen Nazi weniger. Indessen war Ernst vom Rath genauso wenig Nazi wie Grynszpan von der jüdischen Weltverschwörung beauftragt.  Vom Rath orientierte sich an seinem Onkel Köster, dem deutschen Botschafter in Paris, mit seiner kritischen Sicht auf die Nazis. Dieser Köster wurde wahrscheinlich von Hitler in Paris belassen, um dem Naziregime einen pluralistischen Anschein zu geben. Später wurde er ermordet. Grynszpan wurde von der Verzweilflung seiner ausweglosen Lage getrieben. Er hatte nirgendwo eine Aufenthaltgenehmigung. Als er hörte, dass seine Eltern und Geschwister nach Polen ausgewiesen worden waren, kaufte er sich vom ersparten Geld eine Waffe und ging in die deutsche Botschaft. Wahrscheinlich hat vom Rath ihn empfangen, weil er das genau so sah. Grynszpan ist ein Vorkämpfer der Freizügigkeit. Eigentlich wollte er dagegen protestieren, dass seine Eltern in ein Land ihrer Unwahl abgeschoben wurden, er aber nirgendwohin konnte, denn er war auch keine Pole mehr, Deutscher schon gar nicht, in Brüssel zeitweilig geduldet, in Paris illegal. Er war ein Europäer aus Hannover, der sich nach Geborgenheit sehnte, denn als er nach dem Einmarsch der Deutschen zufällig frei kam, begab er sich in die Obhut der französischen Behörden. Er war kein Anarchist. Was mag er dann im deutschen Gefängnis und im KZ Sachsenhausen getan und gedacht haben? Er folgte jedenfalls der Strategie seines französischen Verteidigers, indem er darauf bestand, dass er gar nicht hätte ausgeliefert werden dürfen und dass er vom Rath aus homosexuellen Kreisen kannte. Das rettete ihn vor einem Schauprozess mit Todesstrafe. Rettete ihm diese Argumentation auch das Leben? Vielleicht war es aber noch ganz anders. Grynszpan hatte sich eine Waffe gekauft, um den deutschen Botschafter zu erschießen. In der deutschen Botschaft angekommen, traf er auf Rath, den er kannte und der sich das Leben nehmen wollte, weil er diese furchbare Krankheit hatte. Rath riet ihm, ihn zu erschießen und den Botschafter zu verschonen. So haben sie beide in einem letzten Einvernehmen ihre Probleme gelöst. Wäre Grynszpan die Reinkarnation von Hiob, so hätte er überlebt. Er wäre vielleicht der US-Finanzminister geworden oder gewesen. Später glaubte er nicht mehr an Fanal und Rache, sondern an Worte. Er sagte zum Beispiel: Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meine. Er war in Satzkonstruktionen geflüchtet, denen niemand folgen konnte und sie deshalb lieber bewunderte als kritisierte. Er hatte erkannt, dass Zinsen, Schulden und Wachstum nicht nur rein quantitative Parameter sind, sondern auch durch die Qualität der dahinter stehenden Leistungen und Waren bestimmt sind. Das alles hätte er nicht wissen können, wenn er nicht an jenem neunten November den Mann erschossen hätte, der erschossen werden wollte, aber damit gelichzeitig das Fanal für die Würde des Menschen geliefert hat. Er war der moderne Hiob.

[1] jiddisch für Ghetto

[2] polnische Schreibweise

 

 

QUERULANTEN ODER QUERDENKER

Nr. 194

Wer zweimal widerspricht, wird als renitent ausgebuht. Im ranking der Rhetorik steht die Rechtfertigung allemal höher als der Rat, weshalb es nach einem Tag Diskussion schon keinen Fakt und keine Wahrheit, ja, auch keine Meinung mehr gibt, sondern nur noch Parteien. Der berüchtigte Satz von Kaiser Wilhelm, mit dem er alle zum Krieg peitschen wollte, dass er keine Parteien mehr kenne, sondern nur noch Deutsche, war ein populistischer Appell, bei dessen Wirkung man allerdings die überhöhte Autorität des Kaisers nicht unterschätzen darf, dieser Satz stimmt höchstens umgekehrt.

Der Sachverstand lässt sich also immer vom Gefühl überrumpeln. Er kapituliert vor der erdrückenden Faktenlage. Jeder Fakt hat tausend Ursachen, jede dieser Ursachen hat aber auch tausend Folgen, von denen 999 nichts mit der Intention zu tun haben. Statt diese Komplexität immer wieder zu bedenken – denn verstehen kann man sie nicht – folgen wir lieber dem einfachen Schema, dass im besten Fall die Intention gleich der Ursache und diese gleich dem Ergebnis sei. Wir glauben das, weil wir nicht wirklich in der Welt leben, sondern immer in imaginären Räumen. Unsere Welt, schrieb schon Schopenhauer, ist nichts als unser Wille und unsere Vorstellung. Und Andy Warhol setzte fort: I NEVER READ I JUST LOOK AT PICTURES. Und das alles ist immer so gedeutet worden, dass der manipulierte Wille als der authentische wahrgenommen wurde. Kaum jemand ist nicht manipuliert. Je mehr die Nachrichtenmittel, um mal ein Wort aus der völlig absurden und überholten Sprache der Militärs zu benutzen, wir zur Verfügung haben, desto imaginärer ist unsere Vorstellung. Der Satz wäre natürlich trivial, wenn nicht ein zweiter folgen würde: Aber je imaginärer unsere Vorstellung von der Welt ist, desto mehr nehmen wir sie auch für die Wirklichkeit. Das Verachten, beispielsweise, der Medien unterstellt eine bessere Kenntnis. Man glaubt lieber einem Einzelnen, der sich zum Augenzeugen, zum Inbegriff der Authentizität erklärt, als den gut aufgestellten und deshalb in der Regel gut informierten öffentlichen Medien. Wenn man eine bestimmte Tendenz sucht, zum Beispiel dass es nicht so gut ist, mit Russland im Streit zu liegen, dann glaubt man sogar RUSSIA TODAY. Merkwürdigerweise sind am glaubwürdigsten Bauprojekte, obwohl sie fast gar nichts mit Politik zu tun haben: Wer die dritte Bosporusbrücke gebaut hat, kann nicht lügen, denn sie ist Fakt, sie ist zu sehen. Man kann sie übrigens genauso wenig begehen wie ihre Vorgängerinnen, weil es andernfalls zu viele Selbstmörder gäbe. Als Peter Scholl-Latour, der omnipräsente Korrespondent der öffentlichen Medien Deutschlands, immer älter, aber nicht weniger präsent wurde, sagte er fast nur noch: ICH WAR DA als einziges und wichtigstes Argument. ICH WAR DA, sagte der Blinde, und ich hätte es sehen können. Indessen müssen nicht die Medien gescholten werden, die wir wollen und bezahlen,. sondern unser Medienkonsum. Wir setzen uns vor den Fernseher und verwechseln ihn mit einem Fenster. Wir nennen ein Computerprogramm WINDOWS und glauben, hinter dem Monitor wäre die Welt. Allerdings ist diese Verwechslung kein Produkt der Neuzeit. Der verzerrte Blick ist der gleiche wie in der Steinzeit, nur die Nachrichtenmittel haben sich geändert. Es mag eine qualitative Verstärkung von den Dogmen zu den Platinen geben, aber man darf auch wieder die quantitative Zunahme der Menschenmassen nicht unterschätzen. Jetzt wird ein ganz normaler Fake von einer Milliarde Menschen geglaubt, nicht mehr nur von einem Dutzend. Das Dutzend ist so unwichtig geworden, dass wir im Begriff sind, das Wort zu vergessen. Der Einzelne gerät in Vergessenheit, er zählt nur noch als Zahl.

Trotzdem haben es die Querdenker heute leichter. Sie können sich eine Öffentlichkeit schaffen, wo früher für sie mediale Dunkelheit war. Sie können darauf bestehen, dass sie immer wieder angehört werden. Jede Verwaltung wird gelähmt, wenn sie am Tag, sagen wir, tausend emails erhält. Das hält auf Dauer niemand aus. Eine Bank, der man das Darlehen in Eincentmünzen heimzahlte, müsste schließen. Im Internet kursieren nicht nur Verschwörungstheorien, die es aber seit  Beginn der Neuzeit gibt, sondern auch immer wieder fast gleichnishafte Geschichten über den Sieg des einfachen Mannes und der einfachen Frau über die Willkür der Behörden. Diese Willkür gibt es in rohen Ländern als Steinigung oder Aufhängen an Baukränen, in aufgeklärten Ländern als Gerichtsprozess oder Entmündigungsverfahren. Der Unterschied ist die Umkehrbarkeit des einen Verfahrens oder die Unumkehrbarkeit des anderen. Aber immer erklärt die eine Seite sich für Recht und Ordnung, Fortschritt und Volkswohl, die andere Seite wird dagegen als Querulant denunziert.

Das Dilemma, dass eine Behörde nur für glaubwürdig gehalten wird, wenn sie sich durchsetzt und erfolgreich ist, dass das aber nur unter Missachtung sozusagen von 999 Nebenwirkungen realisierbar ist, hat auch jeder einzelne Mensch. Seine Lösung heißt Scheitern. Und weil wir mit dem Scheitern nicht leben können oder wollen, bleibt es ein ewiges Dilemma. Ewig ist ein relativer zeitlicher Begriff., nichts ist ewig, aber alles lebt fort, alles stirbt, aber bleibt bewahrt.

Der EU-Austritt Großbritanniens ist ein gutes Beispiel für unser Gedankenexperiment. Die Briten sind nicht weniger oder mehr Querulanten als andere, aber ihre Regierung hat etwas getan, das eigentlich nur Diktatoren tun. Sie hat die Ursache des eigenen Versagens nach außen, in die EU, verlegt. Dann zeigt sich: es gibt gar nicht den oder die Briten. Britannien ist ein administratives Konstrukt wie alle anderen Länder der Welt. Der eine Bürger sieht sich als Schotte, der andere glaubt, er sei Europäer, der eine Christ, der nächste Jude oder Muslim. Noch vor kurzem war man wenigstens Mann oder Frau, so glaubte man und so wollen die rechtskonservativen Populisten ihren followern weismachen. Dass selbst die Eltern mehr Konstrukt als Tatsache sind, dafür stehen die Dioskuren auf der Piazza del Quirinale auf einem der sieben Hügel Roms. Sie sind Halbbrüder und gleichzeitig Zwillinge, sterblich und gleichzeitig unsterblich, von ihrem genetischen Schicksal ebenso domestiziert, wie die Pferde oder anderen mobiles, die sie domestizieren, wie wir alle, eine vollendete Metapher des Menschseins. Wo sie übrigens heute stehen, sind sie eine Kopie der Kopie der Kopie.

Wünschen wir uns für die Zukunft neben einem Leben ohne Verunglimpfung, und einer Behörde ohne Nebeninteressen auch eine Welt, in der man nicht querdenken muss, sondern einfach nur denken kann.

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Dioskuren

 

VARIATIONEN AUF DEN LETZTEN SATZ VON NEANDER

          

              Ich will mich lieber zu Tode hoffen, als durch Unglauben verloren gehen.

I

In Deutschland verschwinden in jedem Jahr tausend Menschen. Durch Altern oder Wandern können wir uns nicht verloren gehen. Auch nach allen Metamorphosen bleiben wir uns innerlich immer gleich. Das soll nicht heißen, dass wir uns nicht entwickeln, aber wir entwickeln uns nicht aus uns heraus. Auch die Natter bleibt sie selbst ohne ihr Natternhemd. Das Gesicht verändert sich, der Körper mag stark oder schwach werden, aber wir sind immer noch der oder die, die wir waren, als wir die Hand unserer Mutter oder unseres Vaters suchten, um im Gedränge des Lebens nicht verloren zu gehen. Dieses Urvertrauen ist nichts anderes als der Glaube, der uns unser ganzes Leben begleitet, begleiten muss. Wir können nicht nichts glauben, genauso wie wir nicht nichtkommunizieren können. Durch die Kommunikation versichern wir uns, dass der andere noch da ist und nur so können wir unsere eigene Existenz wahrnehmen. Glauben ist das Fundament des Lebens, Wissen ist das Attribut des Glaubens. Wer weiß, dass er nichts weiß, ist deshalb noch lange nicht verloren. Erst wenn wir nicht mehr glauben, dass wir uns finden können, wird es uns nicht mehr geben. Glauben ist immer absolut, Wissen dagegen relativ, an einen Zeitpunkt gebunden. Jede Generation hält ihr Wissen für den Gipfelpunkt, schon die Eltern werden als Unwissende verurteilt. Dagegen hat der Glauben keinen Gipfel, sondern ist immer wieder zur Tiefe fähig.

Ein Variante des Glaubens ist das Hoffen. Es macht uns nur dann zum Narren, wenn wir auf ganz Unwahrscheinliches hoffen. Im Hoffen liegt genauso viel Scheitern wie im Tun. Scheitern widerspricht weder dem Glauben, noch dem Hoffen oder der Tat. Vielleicht war mit der Verurteilung des Hoffens auch unser ständiges Glauben an Kausalzusammenhänge gemeint, das sowohl zu unsinnigen Fragen wie auch zu überflüssigen Antworten führen kann. Niemand kann beantworten, warum etwas passiert. Die meisten Tatsachen haben mit uns nichts zu tun, ja sind selbst nur Interpretationen. Aber wir können mit den Tatsachen zu tun haben: ‚wer Gutes vollbringt, dem wird Besseres als das‘ (27:90; 28:85) oder ’suchet, so werdet ihr finden‘ (Matthäus 77). Bei aller dankbaren Wertschätzung der Meditation, wie sie im Beten oder Denken oder Schweigen Gewinn bringt, sind wir doch immer aufgefordert, zum besten unserer Mitmenschen und damit für uns selbst zu handeln. Wer hilft, verbessert die Gesamtsituation, das ist die Lösung des Allmendedilemmas und die Summe aller Ethik.

Wir können mit dem Tod nur leben, weil wir nicht an ihn, sondern an uns glauben. Jeder Mensch lebt fort, aber je länger er lebt, je mehr er tut, je mehr Kinder und Schüler er hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass mehr als ein Stein von ihm bleibt. Es wird ein besseres Sterben, wenn wir glauben oder hoffen oder sogar noch etwas tun können. Das Geheimnis des Todes gleicht dem der Geburt, schreibt Rumi (‚Der Weg, der sich bewegt wie du‘). Trotzdem bleibt der Tod etwas Schweres, von dem wir nicht glauben, dass wir es tragen können. Jeder Trost ist uns recht.

II

‚Gott ist in uns allen‘ zu sagen, ist nichts neues und doch können wir uns wundern, wo er überall gesucht und besucht wird. Die Häuser, die wir ihm bauen, vom Felsendom in Jerusalem bis zur wunderlichen Dorfkirche von Ludorf, sind indessen unsere Häuser. Wir haben sie erbaut, um in ihnen erbaut zu werden. Sie sprechen zu uns, sie sind unser Echo und manchmal auch unsere Zuflucht oder Zuversicht. Aber sie bleiben zerbrechliche Häuser. Genauso ist es mit den Gruppen. Jede Gruppe ist Therapie. Aber die Gruppen sind fragil und vergänglich. Ihre Interpretationen verändern sich. Die Veränderung ist in die Welt hineingeschaffen. Sie ist am besten beschreibbar mit dem Gesetz der großen Zahl, so wie die Metapher für Harmonie der Goldenen Schnitt ist. Aber viele empfinden auch die Symmetrie als vollkommene Schönheit. Mathematik ist nur perfekt, weil sie nicht wahr ist. Insofern war das Bilderverbot überflüssig, denn man kann sich kein Bild machen, das übereinstimmt, auch keine mathematische Formel. Dennoch sind Bilder und Formeln und Gleichnisse hilfreich. Auch die so sichere Naturwissenschaft besteht aus Metaphern. Der Kern unseres Verhältnisses zu Gott steht in der Bergpredigt (Matthäus 5-7) und in der Sure 29, jeweils ist die Thora eingeschlossen: Wir können uns ein Haus der Interpretationen bauen, aber es wird fragil sein wie das Haus der Spinne oder die Hagia Sophia (29:42); wenn dich jemand nötigt, eine Meile mit dir zu gehen, so gehe zwei Meilen mit ihm (Matthäus 541). Daraus folgt, dass jeder Streit innerhalb der Religionen und zwischen den Religionen überflüssig ist. Religionen sind Interpretationen. Nur Gott selbst kann nicht veralten. Der Koran, die Bibel oder die Thora können nicht zwischen Gott und den Menschen stehen, wenn Gott tatsächlich im Herzen der Menschen ist. Dass er es ist, zeigt und zeugt der unerschütterliche Glaube, der die Menschheit von Anbeginn begleitet. Seine unterschiedlichen Formen und Bekenntnisse und Bücher dürfen uns nicht hindern, Gott, der in jeder Seele ist, zu bezweifeln.

Der Rest ist keinesfalls Schweigen (Shakespeare), denn wenn wir erkannt haben, dass Gott in uns ist, dass Gott Liebe ist und Vergebung, Heil und Auferstehung, Hilfe und Gabe, dann kann es keine Differenzen zwischen Menschen geben. Das ist auch immer wieder leicht erkennbar. Davon ist die Welt voll, davon sind die Bücher voll: nur, wer glaubt Recht zu haben, verweigert Menschlichkeit, niemals, wer recht glaubt, nämlich an Mitmenschlichkeit.

Natürlich kann man jetzt einwenden, wie unterscheidet sich diese Art von Sozialromantik von Freitags- oder Sonntagspredigten? Sie unterscheidet sich nicht, sie will sich auch gar nicht unterscheiden. Es geht eben nicht darum, dass eine Lehre, ein Buch, eine Gruppe Recht hat, sondern dass wir alle das Leben der Menschen verbessern. Gott und die Menschen hängen so zusammen wie der Baum und die Erde. Deshalb sollten sich alle Religionen vereinigen, alle ihre schönen Häuser allen Menschen zur Verfügung stellen, all ihre weisen Rabbiner, Priester und Imame, ihre Mönche und Nonnen, ihre Lehrer und Diakone sollten mit uns allen sprechen. Viele tun das auch jetzt schon. Aber es gibt immer wieder Rückfälle in den Streit der Gruppen, der doch nichts ist als ein Streit der Fakultäten. Keiner kennt den Weg, aber wir alle zusammen können ihn suchen. Wenn Neander ein Theoretiker gewesen wäre, der Rumi gelesen hätte, dann könnte das folgende von ihm gewesen sein: die Juden sind  aus der Tutench-Amun-Sekte hervorgegangen, der ersten monotheistischen Religion. Jesus und seine Jünger dagegen waren Essener, eine zölibatäre und nonmonetäre Gruppierung, deren oberstes Gebot die Liebe war. Und schließlich seien die Muslime in Wahrheit die Abkömmlinge der Arianer, jener Christen, die nicht an die Gottessohnschaft des Jesus glaubten.

Anmerkung

Im Tal der Düssel ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts etwas Merkwürdiges passiert: es ging ein Mann lange nach seinem Leben in die Wissenschaftsgeschichte, sogar in den Begriffsapparat der Wissenschaft ein, der ganz und gar in die Geschichte des Glaubens gehört, nicht nur weil er einige Dutzend tiefreligiöser Lieder geschrieben hat, sondern weil er so fromm und charismatisch war, dass seine begeisterten Zeitgenossen ein Tal nach ihm benannten. Er starb schon mit nur dreißig Jahren und soll auf dem Sterbebett unseren Satz gesagt haben. Aber damit nicht genug, zweihundert Jahre nach seinem Tod wurden in dem nach ihm benannten Tal Knochen eines ausgestorbenen Menschen gefunden, der eine Nebenlinie zu dem heute lebenden homo sapiens darstellt. Neander war die griechische Übersetzung von Neumann, es war damals Mode und Zeitgeist, seinen Namen zu gräzisieren oder zu latinisieren. Der Koran ist weitaus poetischer als die Bibel, hätte Neander die Bibel geschrieben oder auch nur übersetzt, wäre sie poetischer. Joachim Neander war ein pietistischer Pfarrer, der sein Studium nicht abschloss, der nicht ordiniert wurde und der von 1650 bis 1680 in Bremen, Düsseldorf und Mettmann lebte.

SCHNITTMUSTER

 

Nr. 193

Es ist wohl absurd anzunehmen, dass das, was man sieht, das ist, was ist oder was man denkt, dass es wäre oder wovon man glaubt, dass es war. Und diese Feststellung mag so trivial sein, wie das Wort ‚Feststellung‘ selbst, denn man kann nichts feststellen, auch die Mechanik, aus der das Wort stammt, nicht. Alles, was man feststellt, lockert und überlagert sich und vergeht wie das nicht Festgestellte. Alle Kulturen schieben sich übereinander und koexistieren mehr, als dass sie sich bekämpfen oder vergessen.

Der Bischof von Ulm verurteilte das Fliegen als unmöglich und unnötig. Der Bischof von Köln verfluchte den Bahnhof neben seinem Dom, der seinen Standort einer demokratisch-ökonomischen Entscheidung verdankte und zur Säkularisierung mehr beitrug als das Kommunistische Manifest. Der Bischof von Florenz benannte seinen Bahnhof nach der neben ihm liegenden Kirche Santa Maria Novella. Wer war wem eine Neuheit, wer novellierte was? Die Kirche erscheint mit ihrem gotischen Innenraum so schlicht, wie der Bahnhof chaotisch. Der Bahnhof bildet die sich kreuzenden Wege der Reisenden nicht ab. Das hundert mal fünfzig Meter große Fundamentalkreuz der Kirche sollte sicher eine der vielen Grundlegungen eines, wenn nicht ewigen, so doch dauerhaften Fundamentalismus werden. Zu unserem Glück durchkreuzten sich alle diese Pläne wie von selbst. Es handelt sich einfach um Gebäude von Menschen für Menschen, Gebäude voller Wirklichkeiten und Metaphern. Der sehr junge Maler Masaccio (‚der Koloss‘) malte in dieser Kirche, die damals noch nicht neben dem Bahnhof stand, das erste Bild mit Zentralperspektive, das so dreidimensional wirkt, dass man von weitem annehmen könnte, dahinter läge eine weitere reale Kapelle. Ist es das erste dreidimensionale Bild, ist es das erste erhaltene dreidimensionale Bild oder ist es das erste dreidimensionale Bild, das wir kennen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nichts. Alles, was wir wissen, müssen wir vorher glauben und können wir hinterher vergessen.

Gebäude, Gemälde, Gedanken und Gefühle gehen ineinander über. Wir wissen nie, ob wir gerade verzaubert oder entzaubert sind. Wir brauchen beides wie den Hunger und die Sätte, den Schlaf und die Wachheit. Alle Kritik an neuen Medien oder neuen Verhaltensweisen ist demzufolge nichts weiter als die Fortschreibung eines immer wirkenden Generationswiderspruchs. Die Verzückung, die die Pilger im Mittelalter angesichts riesiger romanischer oder gotischer Gebäude und der in ihnen vollbrachten Heilungen und anderen Wandlungen empfanden,  steht in nichts den Verzückungen nach, die durch die durch die permanente Selbstkopierung durch Selfies oder andere Fotos in so großer Zahl sich sozusagen selbst reproduzieren, dass man aus ihrer Summe das lange gesuchte Gesamtkunstwerk herstellen könnte. Dazu passt, dass Milliardäre sich jetzt selbst klonen lassen, weil sie ernsthaft glauben, dass sie mit dem Geld identisch wären und außer Waren auch Sinn kaufen könnten. Aber das eben ist nicht neu, denn der Mensch der Gotik glaubte genauso widersinnig, die Wundmale des gekreuzigten und gepfählten und gehängten Vorfahren an und in sich zu spüren. Er kopierte das Leid und das Glück anderer Menschen, kumuliert in der einen, dann aber millionenfach reproduzierten Metapher.

Kulturen folgen ebensowenig wie Generationen aufeinander. Sie schieben sich in- und übereinander wie die uns heute völlig unverständlichen Schnittmusterbögen, die noch vor wenigen Jahren Zeitungen beigelegt waren, damit man nach ihnen billig nähen konnte. Heute ist alle Billigkeit nicht zu unterbieten. Der alte Mann oder der junge Junge, die am Straßenrand die solitäre Kuh hüteten, die einer Familie eine ausgewogene calcium- und fettreiche Ernährung ermöglichte, sind zur Karikatur einer Gesellschaft geworden, die zum zweiten Mal im Butterberg ertrinkt. In jedem Menschenleben treten solche höchst gegensätzlichen Bilder auf. Die Paradigmen menschlichen Wirtschaftens und Verhaltens wechseln vielleicht immer noch alle fünfzig Jahre. Die Beschleunigung, nicht die Geschwindigkeit, mag eine Verzauberung sein. Die Entzauberung tritt ein, wenn man am Ende des Lebens das Gleiche erblickt, wie die Alten zu sehen glaubten, als man selbst jung war. Die Pest von 1348 ist nicht nur eine Krankheit gewesen, sondern ein tiefsitzender Schrecken und insofern ist sie mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima von 1945 vergleichbar. Die Pest reproduziert und potenziert sich durch den Floh der Ratte, die Zerstörungskraft der Atombombe gebiert sich aus der Spaltung des einst für das kleinste Teilchen gehaltene Atom, dessen Name die Metapher für das nicht mehr Teilbare war. Die Vorstellung und der Wunsch nach solcher Zerstörungskraft mag aus dem Gedanken des Tsunami entstanden sein, der am Allerseelentag 1755 Lissabon und die gesamte christliche Welt so sehr erschütterte, dass sie die Aufklärung hervorbrachte. Die Asche des Vulkans Tambora gebar das Fahrrad, indem im Jahr ohne Sommer 1816 die Pferde aufgegessen wurden oder verhungerten, jedenfalls fehlten. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Schlechte das Gute gebiert, sondern dass sie nicht auseinanderzuhalten sind. In die eine Kultur steckt die andere ihre Zunge hinein. Was man sieht, ist nicht das, was ist. Was ist, sieht man nicht.

Als Brunelleschi die berühmte Kuppel des Doms Santa Maria del Fiore in Florenz errichtete, wollte er eine Kuppel bauen, aber wir erfreuen uns an dem Gefühl der Treppe in der doppeltschaligen Wand, an dem Gedanken der zauberhaften Technologie. Es gibt höhere Gebäude, es gibt schönere Gedanken, aber es gibt dieses Gefühl: in sich selbst nach oben zu gelangen, selbst der Aufstieg zu sein, von dem man träumte, mit den Augen zu hören, wie es bei Shakespeare heißt, nur in der Kuppel des Florentiner Doms. Wenige Meter davon entfernt hat ein ganz junger Maler sozusagen aufgeschrieben, was seine großen Meister Brunelleschi und Donatello ihm flüsterten: der wahre Zauber ist die Perspektive, die große Entzauberung.

Die Freilegung und Restaurierung der Fresken Masaccios in der Florentiner Kirche Santa Maria del Carmine wurden übrigens von der Computerfirma Olivetti finanziert, die wie ihre Produkte aus der Schreibmaschine hervorging und während der Mussolini-Diktatur nur überleben konnte, indem ihr Besitzer sich taufen ließ. Das ist es, was ich meine.

 

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OLIVETTI

 

 

Trinität der florentinischen Frührenaissance:

BRUNELLESCHI 1377-1446  DONATELLO 1386-1466 MASACCIO 1401-1428

EINE SCHULE IST KEIN VERWALTUNGSAKT

 

Nr. 192

…und Kunst wird mundtot durch Autorität…

 

Einst gab es in Berlin eine höchst engagierte Gruppe von Eltern behinderter Kinder, die gerne mit ihren Kindern Sport treiben wollten. Sie haben mit riesigem Aufwand eine halbverfallene Turnhalle unweit ihres Wohngebietes renoviert. Als sie fertig waren, zog in das für eine Million Euro notdürftig hergestellte alte und schöne Schulgebäude die Schule A ein, deren Plattenbau abgerissen wurde und die stattdessen mit Mitteln der EU ein neues Gebäude am alten, verträumten Randstandort erhielt. Als sie dort gemeinsam mit einer anderen Schule B einzog, wurde das alte Schulgebäude weiter als Filiale genutzt, und nun wurde auch hier die Turnhalle abgerissen und eine neue gebaut. Zur Einweihung ließ sich der Staatssekretär eine Rede von einem Lehrer schreiben, hielt sie und verschwand.  Inzwischen hatte der Schulleiter B versucht, die Schule A mit seiner zu vereinigen. Das wäre auch gut gelungen, wenn er und die Schulräte einfach gewartet hätte, bis Strukturen der Zusammenarbeit entstanden wären. Er wartete aber, bis der Zorn der Lehrer A soweit angewachsen war, dass sie alle verfügbaren Mittel einsetzten, um die Selbstständigkeit ihrer Schule zu erhalten. die Schulräte ließen ihre Briefe an den Senator verschwinden, aber der letzte Brief fand seinen Weg dann doch noch. Ein Schulrat wurde geopfert. Die Fehde schien beigelegt und in den Turnhallenneubau der alten Schule zogen nun Flüchtlinge ein.

Ein kluges Amt hätte vielleicht verstanden, dass nur eine gute Schule sich der Auflösung widersetzt, dass die Energie von Lehrern besser im Lehren und Lernen aufgehoben ist. Immer mehr profilierte sich die Schule A am beschaulichen Stadtrand zu einer Heimstatt der Integration, aber auch der Spezialisierung und scheute sich dabei nicht, auch das Handwerk nach wie vor einzubeziehen. Klassen wurden nicht genehmigt, so dass die Schule zwar nicht quantitativ wuchs, aber qualitativ. Warum müssen überhaupt Klassen genehmigt werden? Warum kann eine Schule nicht ohne die Vormundschaft von Schulräten bestehen, die sich nun ihrerseits die Klinke in die Hand geben? In Brandenburg und Berlin suchen sie sich Schulen zum Überwintern. Vielleicht ist es sogar so, dass die Fluktuation hoher Verwaltungsbeamter zur einer Ideologie der Schließung und Neueröffnung von Schulen, Theatern und Jugendklubs führt, dass die Unverschämtheit der Ämter, wie es im Hamlet heißt, nur Ausdruck ihrer Unfähigkeit wäre zu verwalten, was man nicht verwalten sollte und kann? Schule A soll jetzt für immer beseitigt werden.

Aber was ist eine Schule? Was vom Amt aus gesehen ein Ort der kalten Zahlen, statistischen Schnipsel und widersetzlichen Lehrern sein mag, ist in Wirklichkeit der Aufenthaltsort unserer Kinder für zwölf Jahre ihres Lebens, acht Stunden am Tag. Sie lernen dort zwar nicht alles, was sie brauchen, aber von vielen Dingen die Basis. Zwar hatte fast jeder von uns einen Lehrer, den er hasste, aber fast jeder von uns hatte auch einen Lehrer, den er liebte, weil er ihm ein Fach, eine Sache oder das Leben näherbrachte. Viele Kinder fahren mit der Schule das erste Mal von zu Hause weg. Viele fahren mit ihren Lehrern das erste Mals ins Ausland. Andere gehen zum ersten mal ins Theater, das wird übrigens immer wichtiger, weil sie nur dort sehen können, wie Kunst gemacht wird, die sie millionenfach kopiert immer mehr konsumieren. Viele erleben ihre erste Liebe oder ihre erste Enttäuschung in der Schule. Die Schule ist kein Ort der kalten Fakten, sondern der Emotionen, der Erziehung und der Erbauung. Die Schule muss heute viele Funktionen der Eltern übernehmen, der Religion, der Großeltern, die noch arbeiten und deshalb nicht für ihre Enkel da sind.

histor. klasse driesener

Während die hochbezahlten Schulräte in ihren Büros sitzen und sich neue Punktsysteme und Verordnungen ausdenken, jagt in der Schule eine Innovation die andere. Die Computer haben fast alle Lernbereiche ebenso durchdrungen wie die Lebensbereiche außerhalb der Schule. Aber beinahe noch schöner ist es, dass in den letzten zehn Jahren, von der Schulverwaltung fast unbemerkt, alle diejenigen in Abiturklassen, in neunten und zehnten Klassen oder in Berufsvorbereitungen sitzen, die in anderen Ländern nicht nur auf der Straße oder im Regen stehen, sondern Autos anzünden und Barrikaden bauen, weil sie keine Perspektive für sich sehen. Die Jugendarbeitslosigkeit ist bei uns auch deshalb nicht so hoch, weil viele Jugendliche in Schulen, besonders in Berufsschulen, aufgefangen werden. In Fortführung eines Gedankens des ehemaligen Innenministers Otto Schily könnte man sagen: Wer Musikschulen und OSZs schließt, gefährdet die innere Sicherheit.

Es ist eben auch nicht egal, in welcher Schule man lernt. Vielmehr ist es besonders wichtig, dass jeder Jugendliche das Gefühl hat, er hätte sich die Schule und damit einen Teil seiner Zukunft selbst ausgesucht und selbst gestaltet. In einem OSZ kann es passieren und passiert es, dass ein Jugendlicher, der keinen Schulabschluss und seit der zweiten Klasse nicht mehr mit einem Lehrer gesprochen hat, den Hauptschulabschluss, die mittlere Reife oder sogar das Fachabitur erhält oder in eine praktische Ausbildung oder in einen Arbeitsplatz vermittelt wird. Und ‚vermitteln‘ ist in einer Berufsschule ein oftmals langer Prozess des aufholenden Lernens, der sanften Moderation und der geschickten Unterbringung. Deshalb gibt es zwischen vielen (leider nicht allen) Lehrern und vielen Schülern ein fragiles Vertrauensverhältnis.

Pädagogisch gesehen ist eine Schule mehr Kunst als Wissenschaft, mehr Meißener Porzellan als Kartoffelstampfer. Wer Schulen also als eine zufällige Ansammlung von beliebigen Menschenmengen ansieht, hat nichts verstanden. Vielmehr sind Schulen ein sich ständig verändernder Organismus mit einem bestimmten, unverwechselbaren Charakter.

Die Überforderung der Berliner Verwaltung zeigt sich in viel größeren Zusammenhängen wie dem fast schon berüchtigten Großflughafen oder in den menschenunwürdigen Zuständen am LAGESO. Aber warum kann man nicht am kleinen Beispiel beginnen, diesen selbstzerstörerischen Trend umzukehren?  Fangen wir bei den Eltern an, die für ihre Kinder einst die Turnhalle renovierten…