VERSCHWUNDENE MENSCHEN

Nr. 351

Immer wieder verschwinden Menschen. Viele werden schon am nächsten Tag wiedergefunden. Manche wollen ihr bisheriges Leben verlassen und ein neues beginnen. Vielleicht haben sie Schulden, vielleicht das Gegenteil: Überdruss, vielleicht belastet sie eine unerwiderte Liebe. Jugendliche beginnen mit dem verschwinden oft eine Drogen- oder Outlaw-Karriere. In vielen Wohlstandsländern, wie auch bei uns, nehmen sich viele Menschen das Leben.

Philosophisch und evolutionär mag der Tod erklärlich sein, die Religionen können tröstlich sein, aber für das namenlose Verschwinden von Menschen in einer überinformationellen und auch hochfürsorglichen Welt gibt es keine Erklärung.

Zwei Dörfer neben meinem lebten anfangs der neunziger Jahre in einer aus der DDR übrig gebliebenen verwahrlosten Siedlung Menschen am Rand der Gesellschaft. Nur mühselig gelang es ihnen, sich in das überbürokratisierte Sozialsystem des neuen Staates einzufügen. Für sie war die Welt aus den Fugen, und sie versuchten mit Gelegenheitsjobs und kleinen Diebstählen auf der einen, auf der anderen Seite aber mit Insistieren auf ihrem Lebensrecht und mit Umzügen in eine bessere Welt, wo die Beamtinnen in den Sozialämtern netter wären, sich diese ihre Welt neu einzurichten. Manchmal war auch einfach der Verkauf des Hauses, in dem sie bisher gelebt hatten, der Grund, die Gegend zu verlassen. Ein schon etwas älterer alleinstehender Mann, nennen wir ihn R., blieb übrig. Seine Nachbarn, die alten wie die neuen, versicherten immer wieder, dass sie ihm bessere Lebensbedingungen angeboten hätten, ein Zimmer, den Dachboden, einen alten Campinganhänger. Er blieb aber in seinem Schuppen ohne Fenster, ohne Strom und ohne Wasser. Er ging früh schlafen und stand spät auf. Man konnte das an der Tür zu seinem Schuppen erkennen, wenn man auf der an dieser Stelle engen Dorfstraße an dem Hof vorbeifuhr. Heute fragt man sich: wer half ihm, wenn er krank war. Manchmal stand er an der Bushaltestelle, um in die Kreisstadt zu fahren. An anderen Tagen fuhr er mit seinem Fahrrad und mit klappernden Flaschen im aufmontierten Einkaufskorb in die ‚Deine Kette‘ genannte ehemalige Konsumverkaufsstelle der benachbarten Kleinstadt, um sich ein paar Flaschen Bier zu kaufen. Manchmal versuchte er dabei eine Flasche Schnaps zu stehlen. Wenn er erwischt wurde, erhielt er als Strafe ‚gemeinnützige Arbeitsstunden‘, über deren Ableistungen in Gemeinschaft oder für Projekte er sich so freute, dass er leise verkündete, dass er wieder stehlen werde, um wieder hier arbeiten zu dürfen. Einige Nachbarn gaben ihm hin und wieder etwas Arbeit, die er auch still und gerne verrichtete. Das verdiente Geld trug er stets mit seinem klappernden Fahrrad in den Konsum, der jetzt DEINE KETTE heißt. Wie er den Winter überstand, wissen wir nicht. Im Winter sah man ihn fast nie. Jetzt ist er an Krebs gestorben, im Dorf wird aber auch gemunkelt, dass ihm niemand Essen und trinken und Medikamente brachte. Die Hütte, die manch anderer noch nicht einmal als Hühnerstall benutzt hätte, wurde sogleich abgerissen. Die Kriminalpolizei ermittelte wegen unterlassener Hilfeleistung. Auf dem Friedhof weiß niemand etwas von einer Beerdigung. Alle bisher befragten kannten seinen Namen nicht, sondern nannten ihn R. Wenn die Landschaft ein Gemälde wäre, würde er fehlen.

‚Er war selbst schuld.‘ Mit diesem Satz schleichen wir uns gern aus der Verantwortung für unsere Mitmenschen. Neuerdings gibt es sogar wieder eine Partei, die die sozialdarwinistische Ansicht vertritt, jeder – und jedes Land – sei sich selbst der oder das nächste, da ohnehin nur der stärkere gewinnt, wir seien nicht das Sozialamt der Welt. Mit dem Satz, dass jemand selbst schuld war, unterstützen wir den Hang zum monokausalen Denken. So wie niemand allein seines Glückes Schmied ist, so ist auch keiner allein seines Unglücks Müllmann. Wieder zwei Dörfer weiter in die andere Richtung wohnt eine Frau in einem Container, weil eine Abrissfirma, die die dem Nachbarn gehörende Scheune – schon das war fragwürdig – entsorgen sollte [ENTSORGEN, ABSCHIEBEN, WEGWERFEN – die Konservativen immer vorneweg] ihr Haus versehentlich mit abriss. Zum Glück, dessen Schmiedin sie nicht war, musste sie an diesem Tag zum Arzt, sonst hätte sie keinen Arzt mehr gebraucht. Das Unglück kommt mit Schuld daher, sicher, aber auch mit Unwetter und bürokratischen oder technischen Katastrophen, mit Neid und Missgunst, mit Eifersucht, Streit und Sozialdarwinismus. Wenn wir die Schuld bei uns suchen würden, wären die Täter schneller gefunden.

Im Februar des vorigen Jahres ertrank unter dem Eis des Sees unserer Kreisstadt ein blutjunger Flüchtling aus Pakistan. Er war ein freundlicher junger Mann, wie seine Kollegen und Mitbewohner bestätigen. Er arbeitete in einer gastronomischen Einrichtung der Kreisstadt, einem Mittelding zwischen Hotel und Jugendherberge. So gesehen war er erstaunlich gut integriert.

Man kann die Faszination der Südländer für das Eis beobachten und verstehen. Vor vielen Jahren rief mein erster afrikanischer Freund I’M JESUS, als er über sein erstes Eis lief. Später wurde er erschossen – beinahe auch wie Yesus –, weil er zur falschen Befreiungsorganisation gehörte. Eis ist ein Phänomen, das es nur im Norden oder in großer Höhe gibt, vielleicht nicht mehr lange.

Der junge Mann, der Neubürger der Kreisstadt, hatte jedenfalls den ersten Urlaub in seinem Leben – bei uns genießen schon die kleinsten Kinder den Urlaub der Eltern als eigenen – und er ging vielleicht gern spazieren. Er ging auf das Eis, brach ein, rief um Hilfe, wurde auch gehört, aber die schnell eintreffenden Rettungskräfte konnten ihn nicht finden. Das Eis hatte ihn verschluckt. Wenn die Landschaft ein Gemälde wäre, würde er fehlen. Es gab dann eine großangelegte Suchaktion, darin sind wir groß. In diesem Fall war die aufwändige Suche vergebens, in vielen anderen Fällen rettet sie Leben. Der Junge wurde dann auf einem muslimischen Friedhof in Berlin beerdigt. Auf seinem Grab steht eine Nummer. Darin sind wir klein.

Integration ist nicht ein überwiegend juristischer und sozialbürokratischer Prozess, der sogar bei genuin-inländischen Menschen schwerer zu fallen scheint als bei – auffälligeren – neu zugewanderten. Integration geht nur, wenn man über den eigenen Gartenzaun, die Landesgrenze und Herkunft hinaus zu blicken bereit und fähig ist. Integration heißt nachfragen.

VARIATIONEN AUF DEN LETZTEN SATZ VON NEANDER

          

              Ich will mich lieber zu Tode hoffen, als durch Unglauben verloren gehen.

I

In Deutschland verschwinden in jedem Jahr tausend Menschen. Durch Altern oder Wandern können wir uns nicht verloren gehen. Auch nach allen Metamorphosen bleiben wir uns innerlich immer gleich. Das soll nicht heißen, dass wir uns nicht entwickeln, aber wir entwickeln uns nicht aus uns heraus. Auch die Natter bleibt sie selbst ohne ihr Natternhemd. Das Gesicht verändert sich, der Körper mag stark oder schwach werden, aber wir sind immer noch der oder die, die wir waren, als wir die Hand unserer Mutter oder unseres Vaters suchten, um im Gedränge des Lebens nicht verloren zu gehen. Dieses Urvertrauen ist nichts anderes als der Glaube, der uns unser ganzes Leben begleitet, begleiten muss. Wir können nicht nichts glauben, genauso wie wir nicht nichtkommunizieren können. Durch die Kommunikation versichern wir uns, dass der andere noch da ist und nur so können wir unsere eigene Existenz wahrnehmen. Glauben ist das Fundament des Lebens, Wissen ist das Attribut des Glaubens. Wer weiß, dass er nichts weiß, ist deshalb noch lange nicht verloren. Erst wenn wir nicht mehr glauben, dass wir uns finden können, wird es uns nicht mehr geben. Glauben ist immer absolut, Wissen dagegen relativ, an einen Zeitpunkt gebunden. Jede Generation hält ihr Wissen für den Gipfelpunkt, schon die Eltern werden als Unwissende verurteilt. Dagegen hat der Glauben keinen Gipfel, sondern ist immer wieder zur Tiefe fähig.

Ein Variante des Glaubens ist das Hoffen. Es macht uns nur dann zum Narren, wenn wir auf ganz Unwahrscheinliches hoffen. Im Hoffen liegt genauso viel Scheitern wie im Tun. Scheitern widerspricht weder dem Glauben, noch dem Hoffen oder der Tat. Vielleicht war mit der Verurteilung des Hoffens auch unser ständiges Glauben an Kausalzusammenhänge gemeint, das sowohl zu unsinnigen Fragen wie auch zu überflüssigen Antworten führen kann. Niemand kann beantworten, warum etwas passiert. Die meisten Tatsachen haben mit uns nichts zu tun, ja sind selbst nur Interpretationen. Aber wir können mit den Tatsachen zu tun haben: ‚wer Gutes vollbringt, dem wird Besseres als das‘ (27:90; 28:85) oder ’suchet, so werdet ihr finden‘ (Matthäus 77). Bei aller dankbaren Wertschätzung der Meditation, wie sie im Beten oder Denken oder Schweigen Gewinn bringt, sind wir doch immer aufgefordert, zum besten unserer Mitmenschen und damit für uns selbst zu handeln. Wer hilft, verbessert die Gesamtsituation, das ist die Lösung des Allmendedilemmas und die Summe aller Ethik.

Wir können mit dem Tod nur leben, weil wir nicht an ihn, sondern an uns glauben. Jeder Mensch lebt fort, aber je länger er lebt, je mehr er tut, je mehr Kinder und Schüler er hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass mehr als ein Stein von ihm bleibt. Es wird ein besseres Sterben, wenn wir glauben oder hoffen oder sogar noch etwas tun können. Das Geheimnis des Todes gleicht dem der Geburt, schreibt Rumi (‚Der Weg, der sich bewegt wie du‘). Trotzdem bleibt der Tod etwas Schweres, von dem wir nicht glauben, dass wir es tragen können. Jeder Trost ist uns recht.

II

‚Gott ist in uns allen‘ zu sagen, ist nichts neues und doch können wir uns wundern, wo er überall gesucht und besucht wird. Die Häuser, die wir ihm bauen, vom Felsendom in Jerusalem bis zur wunderlichen Dorfkirche von Ludorf, sind indessen unsere Häuser. Wir haben sie erbaut, um in ihnen erbaut zu werden. Sie sprechen zu uns, sie sind unser Echo und manchmal auch unsere Zuflucht oder Zuversicht. Aber sie bleiben zerbrechliche Häuser. Genauso ist es mit den Gruppen. Jede Gruppe ist Therapie. Aber die Gruppen sind fragil und vergänglich. Ihre Interpretationen verändern sich. Die Veränderung ist in die Welt hineingeschaffen. Sie ist am besten beschreibbar mit dem Gesetz der großen Zahl, so wie die Metapher für Harmonie der Goldenen Schnitt ist. Aber viele empfinden auch die Symmetrie als vollkommene Schönheit. Mathematik ist nur perfekt, weil sie nicht wahr ist. Insofern war das Bilderverbot überflüssig, denn man kann sich kein Bild machen, das übereinstimmt, auch keine mathematische Formel. Dennoch sind Bilder und Formeln und Gleichnisse hilfreich. Auch die so sichere Naturwissenschaft besteht aus Metaphern. Der Kern unseres Verhältnisses zu Gott steht in der Bergpredigt (Matthäus 5-7) und in der Sure 29, jeweils ist die Thora eingeschlossen: Wir können uns ein Haus der Interpretationen bauen, aber es wird fragil sein wie das Haus der Spinne oder die Hagia Sophia (29:42); wenn dich jemand nötigt, eine Meile mit dir zu gehen, so gehe zwei Meilen mit ihm (Matthäus 541). Daraus folgt, dass jeder Streit innerhalb der Religionen und zwischen den Religionen überflüssig ist. Religionen sind Interpretationen. Nur Gott selbst kann nicht veralten. Der Koran, die Bibel oder die Thora können nicht zwischen Gott und den Menschen stehen, wenn Gott tatsächlich im Herzen der Menschen ist. Dass er es ist, zeigt und zeugt der unerschütterliche Glaube, der die Menschheit von Anbeginn begleitet. Seine unterschiedlichen Formen und Bekenntnisse und Bücher dürfen uns nicht hindern, Gott, der in jeder Seele ist, zu bezweifeln.

Der Rest ist keinesfalls Schweigen (Shakespeare), denn wenn wir erkannt haben, dass Gott in uns ist, dass Gott Liebe ist und Vergebung, Heil und Auferstehung, Hilfe und Gabe, dann kann es keine Differenzen zwischen Menschen geben. Das ist auch immer wieder leicht erkennbar. Davon ist die Welt voll, davon sind die Bücher voll: nur, wer glaubt Recht zu haben, verweigert Menschlichkeit, niemals, wer recht glaubt, nämlich an Mitmenschlichkeit.

Natürlich kann man jetzt einwenden, wie unterscheidet sich diese Art von Sozialromantik von Freitags- oder Sonntagspredigten? Sie unterscheidet sich nicht, sie will sich auch gar nicht unterscheiden. Es geht eben nicht darum, dass eine Lehre, ein Buch, eine Gruppe Recht hat, sondern dass wir alle das Leben der Menschen verbessern. Gott und die Menschen hängen so zusammen wie der Baum und die Erde. Deshalb sollten sich alle Religionen vereinigen, alle ihre schönen Häuser allen Menschen zur Verfügung stellen, all ihre weisen Rabbiner, Priester und Imame, ihre Mönche und Nonnen, ihre Lehrer und Diakone sollten mit uns allen sprechen. Viele tun das auch jetzt schon. Aber es gibt immer wieder Rückfälle in den Streit der Gruppen, der doch nichts ist als ein Streit der Fakultäten. Keiner kennt den Weg, aber wir alle zusammen können ihn suchen. Wenn Neander ein Theoretiker gewesen wäre, der Rumi gelesen hätte, dann könnte das folgende von ihm gewesen sein: die Juden sind  aus der Tutench-Amun-Sekte hervorgegangen, der ersten monotheistischen Religion. Jesus und seine Jünger dagegen waren Essener, eine zölibatäre und nonmonetäre Gruppierung, deren oberstes Gebot die Liebe war. Und schließlich seien die Muslime in Wahrheit die Abkömmlinge der Arianer, jener Christen, die nicht an die Gottessohnschaft des Jesus glaubten.

Anmerkung

Im Tal der Düssel ist in der Mitte des 17. Jahrhunderts etwas Merkwürdiges passiert: es ging ein Mann lange nach seinem Leben in die Wissenschaftsgeschichte, sogar in den Begriffsapparat der Wissenschaft ein, der ganz und gar in die Geschichte des Glaubens gehört, nicht nur weil er einige Dutzend tiefreligiöser Lieder geschrieben hat, sondern weil er so fromm und charismatisch war, dass seine begeisterten Zeitgenossen ein Tal nach ihm benannten. Er starb schon mit nur dreißig Jahren und soll auf dem Sterbebett unseren Satz gesagt haben. Aber damit nicht genug, zweihundert Jahre nach seinem Tod wurden in dem nach ihm benannten Tal Knochen eines ausgestorbenen Menschen gefunden, der eine Nebenlinie zu dem heute lebenden homo sapiens darstellt. Neander war die griechische Übersetzung von Neumann, es war damals Mode und Zeitgeist, seinen Namen zu gräzisieren oder zu latinisieren. Der Koran ist weitaus poetischer als die Bibel, hätte Neander die Bibel geschrieben oder auch nur übersetzt, wäre sie poetischer. Joachim Neander war ein pietistischer Pfarrer, der sein Studium nicht abschloss, der nicht ordiniert wurde und der von 1650 bis 1680 in Bremen, Düsseldorf und Mettmann lebte.