[KEHRSEITE DER ANGST]

 

Nr. 191

Während Verschwörungstheorien die Kehrseite der Diktatur, die selbst eine Verschwörung ist, sind, ist die Zugehörigkeit zur vermeintlich richtigen Gruppe die Kehrseite der Angst, ja die Angst selbst.  Richtig sein zu wollen ist nichts weiter als die Angst vor dem falsch sein müssen.

Parteiungen beginnen in der Familie und halten selbst dort ein Leben lang vor. Auf Klassentreffen reden wir noch nach einem halben Jahrhundert exakt mit den gleichen Leuten wie in unserer Jugend. Dagegen kann und soll man nichts tun. Aber dieser scheinbar natürliche Hang zur Apartheid führt uns leider auch in den Irrglauben, dass  die eine Gruppe von Menschen falsch, die andere aber richtig sei. Das dichotomische Weltbild, die Ansicht also, dass alles zwei Seiten habe, stimmt ja schon bei der vielzitierten Münze nicht.

Jede Gruppe pervertiert, jede Meinung, die zur Institution wird, erstarrt in Rechthaberei. Obwohl jeder weiß, wie zufällig Grenzen sind, wie zufällig Geburt und Genetik und Geschick sind, halten wir selbst Ort, Zeit und Tatsache unserer Geburt für richtig. Auch das Anwachsen der Menschheit auf unvorstellbar große Mengen schreckt uns nicht ab, an die Richtigkeit unserer Existenz zu glauben. Das ist eine Überlebensstrategie, gewiss, aber dieselbe hat mein Nachbar auch.  Unsere Zugehörigkeiten zu Gruppen lassen uns gerade nicht an diese Pluralität, sondern an unsere Exklusivität glauben. Zwar zweifeln wir auch an uns selbst, aber nur, um immer wieder in den Schoß einer, der richtigen Gruppe zurückzufallen.

Die großen Ideen, Religionen und Revolutionen haben bis jetzt leider nicht den Gedanken der Gleichheit durchsetzen können, befördert worden ist er jedoch schon. Ihr Ideal ist auch nicht die Freiheit, sondern die Zugehörigkeit. Nicht nur Durchsetzungskraft und Aggressivität der Megagruppen sind dabei schädlich und zerstörerisch, sondern auch ihre jeweiligen Selbstinszenierungen als Märtyrer und Opfer der anderen. Jedes Phänomen ist sozusagen sein eigener Spiegel. Die goldene Regel, auf die sich jeder gern beruft, ist leider auch umkehrbar: Du musst immer behaupten, dass das, was du anderen antust, auch dir angetan wurde. In gereimter Form wird es nicht besser: Das, was ich selber denk und tu, das sprech ich auch den andern zu.  Und jeder, der sich als Märtyrer inszenieren kann, hofft darauf, dass sein Leiden als sein Rechthaben wahrgenommen wird. Im Laufe der langen Menschheitsgeschichte gibt es Fortschritte in Technologie und Technik, sogar in Moral und Empathie, aber auch in der Rechtfertigung, und das ist ein wahrer Rückschritt.

Obwohl alle großen Propheten und Philosophen davor warnten und weiter warnen, neigen wir außer zu Ausreden und Rechtfertigungen auch zu deren Spiegelung, den Schuldzuweisungen. Weitverbreitet ist die Ansicht, dass durch Rache oder wenigstens Strafe Gerechtigkeit hergestellt würde. Obwohl es offensichtlich ist, dass Freiheit und Wohlstand viel bessere Wege zur Gerechtigkeit sind, glauben viele an die Kraft der Strafe statt an die Kraft der Liebe.

Viele Menschen haben Angst, dass jenseits der Sortierungen und Strafen eine große Leere oder Bedeutungslosigkeit oder Beliebigkeit folgen könnte. Welche Leere und Beliebigkeit war je größer als nach großen Sortierungs- und Strafaktionen? Der zweite Weltkrieg hat all diese schädlichen Gedanken ad absurdum geführt. Es gibt keine Sorten Menschen. Jede Strafe ist gleich schädlich. Vielleicht wird der Raum eng für die Kopfabschläger. Immer mehr Menschen werden taub für die Hassprediger.

Die Frage ist nur, ob die Rückzugsgefechte uns wütender erscheinen als die großen dreißigjährigen Kriege oder ob der Focus, der durch unsere flächendeckende Nachrichtenversorgung entsteht, gleichzeitig als Mikro- und Teleskop und Speicher des Bösen wirkt. Man kann es aushalten, man kann sich ändern oder anpassen, als Märtyrer sterben oder Auswandern.

Wandern ist immer mutig. Die Hutterer (siehe dort) sind vor den Rechthabern solange geflohen, bis sie, und das klingt beinahe biblisch, an einen Ort kamen, an dem sie in Frieden so leben können, wie sie es für richtig halten und auch wollen. Der eine flieht vor Verfolgung, der andere flieht zum leichteren Brot, wie zum Beispiel die Siebenbürger Sachsen schon zum zweiten Mal. Niemand sollte darüber richten.

Man kann sich Nachbarn nicht aussuchen. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, aber man muss nicht alle aushalten.

Man kann seine Angst aushalten. Man kann sich mit anderen zusammentun und eine Gruppe gründen, aber sie wird in Rechthaberei enden, besonders dann, wenn man oft recht hat. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber. Ein Mann, vor wenigen Tagen in Ägypten, hatte Angst, dass sein Kamel weglaufen könnte, hat es mit gefesselten Beinen bei 43° C in der Sonne stehen lassen. Fünfundzwanzig Dorfbewohner haben vergeblich versucht, das aufgebrachte Tier zu beruhigen. Es biss seinem nichtswürdigen Besitzer den Kopf ab. Das ist verständlich, und wir sind sogar auf der Seite der gequälten Kreatur, aber richtig ist Rache nicht. Wir müssen weiter denken. Es genauso unrichtig eine Gruppe zu gründen, um eine andere auszuschließen. Man kann sich da auch nicht auf die innere Perspektive zurückziehen, der Blick von außen muss genauso möglich bleiben.

Es wäre leicht zu denken, dass sich ein Hauptbahnhof und ein Dom ausschließen, der eine ist ein Ort der Kontemplation, der meditativen Einkehr, des Gebets und des stillen Hilferufs, vielleicht auch der transzendenten Bewunderung; der andere dagegen die Quintessenz von Kommunikation, Aufklärung, Freiheit und sogar Gleichheit. Und doch stehen sie in Köln direkt nebeneinander, auf sie beide führt die Hohenzollernbrücke über den Rhein hin. Sichtbar und nachdrücklich hat die Kirche ihren Alleinvertretungsanspruch, ihre Richtlinienkompetenz und ihre Deutungshoheit verloren. Aber das ist auch gut so. Sie muss sich diese vergangenen Ansprüche nicht nur mit dem Bahnhof, sondern auch mit dem Museum für moderne Kunst, dem archäologischen Museum und der Philharmonie teilen. Die Philharmonie ist ein umgekehrter Turmbau zu Babel und leidet ihrerseits unter einer schwingenden Decke. Die Bahn ächzt unter der Konkurrenz von vielleicht hundert Fernbusunternehmen. In manchen Städten dürfen sie nicht bis ins Zentrum fahren. Im Dom dagegen dürfen auch Muslime beten, was die ultrarechten Christen und die Salafisten stört. Aber im Dom predigt auch ein Mann von gestern: er sagt, dass es so ist, weil es so ist, und will das, was er glaubt, auch gern beweisen, nur kann er es nicht. Indessen schwingt und swingt der Riesendom, die größte gotische Kirche Europas, unter den Klängen einer Megaorgel und widerspricht auf die schönste Weise aller verkündeten Demut. Auf der Treppe vor dem Dom, die konstruktiv ein Wahrzeichen der betonverstärkten Domplatte ist, sitzen Menschen aus allen Ländern und mit jedem Glauben und Aberglauben, auch Ungläubige und Widersinnige, die man früher verbrannt hätte und hat. Die Bettler spielen ihre professionelle Rolle kontinuierlich seit dem Mittelalter. Prozessionen prozessieren gegen Prozesse. Und eine Ameise zittert und zitiert aus der Bibel, die sie im Mülleimer fand: Gehe zur Ameise, du Fauler, und lerne…

MENSCHE ÄNDERE DICH

In einer Zeit der Inflation von fast allem gibt es auch das überbordende Angebot der Unterrichtsfächer. Jeder, der meint herausgefunden zu haben, was für die Menschen der Zukunft wichtig sein kann, macht daraus ein neues Unterrichtsfach. Durch die vielen neuen Fächer entsteht aber nicht nur Beliebigkeit, sondern auch ein Großteil der Gleichgültigkeit. Die permanente Verfügbarkeit der Fakten lässt den Schüler gegen eine Schule abstumpfen, die nach wie vor glaubt, Fakten vermitteln und zu Festigung und Leistungsüberprüfung abfragen zu müssen. Es besteht die Vorstellung von reiner Quantifizierung des Wissens und Denkens fort. Die Qualifizierung der Menschen versteckt sich hinter Bergen von Scheinwissen und falschen Ansprüchen, zum Beispiel die vorgebliche Erziehung zu Werten. Dieses Scheinwissen zeigt sich am besten in Abfrage-Shows im Fernsehen. Millionär wird, wer weiß, wo die längste Brücke der Welt war.

Werte und Charakter sind relativ unabhängig von der Schule, andererseits sind sie nicht a priori vorhanden. Wissen kann und muss nicht mehr das Ziel der Schule sein, weil es allgemein verfügbar ist. Wir suchen eher Sinn als Fakten, die genauso inflationär sind wie alle Dinge. Also sollte die Schule mit ihrem neuen Fächerkanon lebenspraktisch, berufs- und freizeitvorbereitend, also kreativ, und wertestabilisierend sein.

Die Inflation von fast allem erscheint einerseits als Atomisierung, andererseits als Entfremdung. Gerade die Schule aber zeigt, dass das Leben keineswegs beschleunigt wurde, wie immer wieder behauptet wird. Die Schule verharrt geradezu auf ewiggestrigen Positionen, sie scheint stehengeblieben zu sein. Dass sie tatsächlich nicht stehenbleibt, liegt an den lebendigen Menschen, die in ihr, allen Verwaltungsvorschriften und -vorstellungen zum Trotz, agieren.

Die wirkliche Verwandlung besteht aber in dem Wechsel vom produktiven zum konsumtiven Leben. Seit mehr als einem Jahrhundert tun wir fast nichts mehr. Wir konsumieren, beschäftigen uns mit dem Konsumieren und kommentieren den Konsum. Der Hauptinhalt unseres Denkens ist Werbung, zunehmend auch die Apothekenrundschau. Auch Nachrichten, besonders Katastrophen und Kriege, werden nur noch konsumiert, niemand kommt auf die Idee, sich nach ihnen zu richten. Die sogenannte Medienflut besteht zu 99% aus überflüssigen Mitteilungen, in der Sprache der Medien selbst: aus Redundanz, die sich aus Tautologien speist. Selbst die Wetterberichte, ein schönes Beispiel für Inflation, gehen kaum über das empirisch Wahrnehmbare, den Blick aus dem Fenster, hinaus. ‚Fenster‘ heißt denn auch das am häufigsten benutzte Weltsimulationsprogramm unserer Lieblingsspielzeuge.
Noch im neunzehnten Jahrhundert standen Essen und Bewegung sowohl in einem Kausalzusammenhang als auch in einem annähernden Gleichgewichtsverhältnis. Seit der Überwindung von Hunger und Not muss mehr als die Hälfte der Menschheit ernsthafte Programme zur Gewichtsreduzierung absolvieren. Der jetzt mögliche Konsum hat das Gleichgewicht nach der anderen Seite hin ausschlagen lassen. Wir reden noch von Not und leiden schon lange unter Übergewicht.

So ist es auch mit der Bildung. Die Schulen sind zu Anstalten des überregulierten, überimitierten und maßlosen Konsums geworden. Ein Schüler ist ein Mensch, der an einem Tag Datenmengen in der Größenordnung und Komplexität von drei oder vier Spielfilmen verarbeiten soll. Das führt zu der schon erwähnten Beliebigkeit und Gleichgültigkeit, zumal der Inhalt der Filme leicht auch austauschbar und variant beschaffbar ist. Während der Lehrer noch mit der Filmapparatur kämpft, haben die Schüler schon die Kernsätze des künftigen Aufsatzes ausgetauscht. Während der Lehrer noch an Invarianz glaubt, wissen die Schüler, dass alles variant ist. Selbst Dissertationen bestehen nicht mehr aus Gedanken, sondern aus leicht beschaffbaren Kernsätzen und verschulten Modulen. Bestseller behaupten, was die Mehrheit immer wieder lesen will.

Aber in dieser festgefahrenen Situation liegt auch die Chance zur Umkehr, nicht der Richtung, sondern der Traktion: der Schüler wird zum Produzenten seiner selbst, wenn jedes Unterrichtsfach, um lebenstauglich zu werden, permanent interaktiv ist.
Im Dreifächermodell sind dies Theater, Spurensuche und Fußball, weshalb es auch Baden-Powell-Modell genannt werden könnte. Lord Baden-Powell gründete die Boyscouts, weil er die Defizite der Bildung oder umgekehrt gesagt, die Entfremdung einer ganzen Generation sah. Er wurde an der Universität abgelehnt, bestand aber die Aufnahmeprüfung bei der Armee als Landesbester. Er war ein erfolgreicher General und lehnte aber den Krieg als Mittel der Auseinandersetzung ab. Er verachtete die herkömmliche Bildung und schuf die immer noch weltgrößte Jugendorganisation, die alle ihre schlechten Kopien überlebte.

Dem Fach Theater ordnet sich von selbst das natürliche Rollenspiel der Kinder, aus dem es hervorgegangen ist, unter. Weiter aber beinhaltet es Sprachen, Literatur, Musik, Kunst und die Teile der Philosophie, die mit der Vermarktung des entstandenen oder aufgeführten Dramas sowie mit seinem Praxisbezug zusammenhängen. Der ‚deus ex machina‘ mag der Angelpunkt zum zweiten Fach sein, der Spurensuche, zu der alle Religionen gehören. Die Beschäftigung mit einer Religion schließt nicht die anderen Religionen aus, die Verinnerlichung aller Religionen schließt nicht die traditionelle Übernahme oder individuelle Wahl der einen Religion aus. Zur Spurensuche gehören aber vor allem auch Naturkunde und Mathematik, einschließlich der Netzwerke und ihrer Programmierung. Naturbetrachtung wird vorrangig in Exkursionen und Spielen stattfinden, die auch wieder der Angelpunkt zum nächsten Fach sind, das wir Fußball nennen. Aber die Schüler werden eben nicht nur Fußball spielen, sondern sich überhaupt taktisch bewegen, einmal ihrem eigenen Körper gegenüber (fitness und bodybuilding), zum anderen in der Natur, was jeder Beschränkung zuwiderlaufen wird. Exkursionen werden das Normale sein, das Zusammenfallen von Diskurs und Exkurs. Baumbestimmung geht in das Fußballturnier im Nachbardorf über, das sein neuestes Theaterstück in Englisch oder Türkisch zeigt. Die Prüfungen finden im Verfassen von Texten, im traditionellen scouting, gekoppelt mit einer Wanderung im unbekannten Gebiet statt.
Das Vierfächermodell sieht eine ähnlich komplexe Struktur vor, bezeichnet sie aber konventioneller mit Deutsch, Sprachen, Naturkunde/Mathematik und Kunst/Bewegung.
Das Fach Deutsch meint Sprachkunde, Computerbenutzung, Literatur, Theater, Geographie und Geschichte sowie Philosophie und Religion, also eigentlich alles, was hier zu erleben ist. Das Fach Sprachen hingegen (nicht: Fremdsprachen!) meint alles, was nebenan passiert: Englisch als die uns allen befreundete und nahe Sprache sowie die Sprachen unserer tatsächlichen und geographischen Nachbarn, also Türkisch, Französisch, Polnisch etwa. Natur und Mathematik hebt die atomisierte oder dichotomisierte Betrachtung von Bild (Natur) und Abbild (Mathematik) auf und modelliert im Programmieren. Kunst und Bewegung dagegen sind die Vermittlung zum Alltag der Kinder und Jugendlichen. Hier tun sie, was sie immer tun: spielen. Spielen ist aber, so wie auch schon im Dreifächermodell, als eine äußerst produktive und komplexe Tätigkeit zu gestalten. Während Computerspiele und die bisherige Schule zwar taktisches Verhalten etwa im Stil von ‚Mensch ärgere dich nicht‘ voraussetzen und resultieren, bilden Theater und Fußball doch die Welt, das Leben und den Menschen durch Tätigkeit und, in begrenztem Umfang, Kreativität, ab. Das neue Spiel heißt ‚Mensch ändere dich und die Welt‘.

 

 

Exkurs: Der gefangene Wärter

Wer lange an Orten verbleibt, nimmt deren Charakter an. Der Schornsteinfeger wird jeden Tag aufs neue schwarz und der Lehrer bleibt immer Schüler. Dass Lehrer jung bleiben, ist umso wünschenswerter, als ihr Altersdurchschnitt so dramatisch steigt, dass sie sich gezwungen sehen, gegen sich selber öffentliche Demonstrationen zu veranstalten.
In ihrem Inneren glauben sie aber, ihre Kindlichkeit einerseits durch Entertainment verschleiern, andererseits durch autoritäres Droh- und Verwaltungsverhalten verschärfen zu müssen.

Was man mit zunehmendem Alter an Erfahrungen gewinnt, verliert man aber auch an Geschwindigkeit, Flexibilität, Multifunktionalität, Emotionalität, Freudigkeit. Charisma ist immer Jugend gekoppelt mit einem anderen Faktor. Jugend ist das Erstaunenswerte, das eigentliche Wunder des Lebens. Wir erkennen das zwar bei Wunderkindern, weigern uns aber zu sehen, dass alle Kinder Wunderkinder sind. Warum, wenn das so ist, Jugend dann so spät erst als Lebensalter entdeckt wurde und immer noch nicht als sich selbst organisierende Lernepoche gesehen wird, liegt in der mangelnden Reflexion sowohl des eigenen Lebens als auch der Gesellschaft insgesamt, liegt weiter in der Überschätzung der Versorgungsleistung und in der Überschätzung der egozentrischen Erfahrung . Die nachgeäffte Mode der Jugend kann wirkliche Jugend nicht ersetzen.
Die Ereignishaftigkeit der Jugend besteht darin, dass jedes Ereignis tatsächlich neu, frisch, eruptiv und tiefgreifend ist, während es sich durch fortwährende Wiederholung kumulativ abschleift. Die Irreversibilität ist es, die uns veranlassen müsste endlich zu erkennen, dass man die Jugend nicht in billigem Abfragen und Bestrafen verschleudern darf, seine eigene nicht und die der anderen schon gar nicht.
Das Gefangensein in der Kindlichkeit spricht dafür, die kindliche Untersuchungssucht beizubehalten, den Forscher- und Unternehmungsdrang, zumal das Erziehungsziel nicht mehr der relativ passive Arbeitnehmer, sondern der hochflexible Unternehmer ist. Wir wollen nicht mehr befehlen. Also müssen wir auch nicht mehr gehorchen. Wir wollen Netzwerke nutzen, also müssen wir auch Netzwerk sein.
Das Bildungsideal von Baden Powell: learning by doing, Spurensuche, Theater und Fußball ist wichtiger und richtiger als zehn Tonnen Lehrplan und Kompetenzgerede, wenn die Grundlagen der Schule Anwesenheit und Abfragen bleiben.
Hinter diesem Bildungsideal verbergen sich nicht nur alle traditionellen Schulfächer, sondern vor allem auch die Herangehensweise des Unternehmens, hier im doppelten oder ursprünglichen Sinne des Wortes. Das, was das Kind und der Jugendliche wollen, etwas unternehmen, um ein anderes Etwas zu erkennen, muss in die Schule hineingelegt werden.
Fußball, Theater und Computer sind ohnehin schon allgegenwärtig, schon lange muss man sich wundern, wie schwerfällig sie Eingang in die Schule gefunden haben. Die ganze heutige junge Generation hat den Computer durch learning by doing erfahren. Die fehlende Experimentierfreudigkeit ist es, die älteren Menschen den Umgang mit jeder neuen Technik erschwert. Wenn man also einen Computer in einem Regelwerk versteckt, wird man ihn nicht wiederfinden. Das gilt aber für alle Gegenstände. Erfreulicherweise wurde in den letzten Jahren die Priorität der Rechtschreibung durch die der Schreibung abgelöst. Dazwischen wurde aber immerhin ein Regelwerk eingebaut, das zunächst nur autorlose Texte gebiert. Genauso fraglich ist es, warum man die Regeln des Hochsprungs oder der Genetik kennen muss, wenn es um Bewegung und Naturkenntnis geht. So bewundernswert viele Biologielehrer die Natur kennen, so wenig ist es verständlich, dass sie die Schüler Regeln wissenschaftlicher Naturbetrachtung lehren, die niemand braucht als der Wissenschaftler selbst. Überhaupt: Lehrer sind nicht nur Kinder geblieben, was wunderbar ist, sie sind leider auch Opportunisten, die sich hinter Schulräten, Punktetabellen, Lehrplänen und Anwesenheitskontrollen stets und fast perfekt zu verstecken wissen. Lehrer sind oft Menschen mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz, aber ohne besonderes Interesse. Aus der Geschichte ragen nur die Lehrer hervor, die ein solches apartes Interesse, gerade oft auch in Biologie, Politik oder Heimatgeschichte, entwickelt haben.
Lord Baden Powell ist auf seinen reformpädagogischen Ansatz nicht nur durch seine Betrachtung der sozialen Frage, wie man das damals nannte, gekommen, sondern im Gegenteil durch seine Bewunderung der jugendlichen Späher und Spurenspürer in einer Kriegshandlung im zweiten Burenkrieg. Auch biografisch ist er interessant, indem er zum Militär ging, weil ihn die Universität, wie auch schon vorher die Schule, ablehnte. Später lehnte er den Krieg ab, führte ihn aber weiter und gewann sehr oft, entwickelte während seiner militärischen Tätigkeit sein boyscouting.

Statt also die Natur in abstrakten Regelwerken zu verpacken, sollten wir überlegen, ob wir den gesamten naturwissenschaftlichen Unterricht nicht als eine Art Spurensuche anlegen sollten. Man kann die Spuren der Menschheit in den Wäldern schweigen hören. Man kann die chemischen Prozesse der Überdüngung riechen. Der dringend gebotene Energiesparwahn zieht eine Schneise der Verwüstung durch das Land, die es zu untersuchen gilt. Die Städte haben oft eine reichere Flora und Fauna als der von Monokulturen geplagte ländliche Raum. So wird jede Unterrichtsstunde – die wir auch endlich beenden müssen, die preußische Zerhackstückung der Welt in 45-Minuten-Takte – zur Unternehmung. Lasst uns die Zoos, Orte der Gefangenenpsychosen, abschaffen zugunsten von Beobachtungssafaris jeder Schulklasse der ganzen Welt nach Afrika. Lasst uns Afrika zum Ferienparadies für die Afrikaner und alle anderen Menschen machen!
Theater und, heute gleichberechtigt und numerisch überlegen, Film sind eine mimetische Spurensuche menschlichen Verhaltens. Die Umkehrung vom konsumierten zum produzierten Theater bringt genau so einen Unternehmungsgewinn wie der Wandel vom betrachteten zum gespielten Fußball. Indem die Schule den Konsum so zur Norm machte wie der Rest der Gesellschaft, verspielte sie das Aktivpotenzial der Kinder und Jugendlichen, den vielbeschworenen, aber allzu oft vergessenen wirklichen Reichtum, der mit autoritärem Restgehabe in einer zunehmend demokratischer werdenden Umgebung mit Füßen getreten wird.

Das wahre Gefangenendilemma besteht darin, dass der Wärter zum Gefangenen seiner autoritären Strafideologie wird. Er glaubt zum Schluss selbst, dass Gefangensein Freiheit bringen kann. Der dichotomische Reflex von Schuld und Sühne, projiziert auf ein Bildungssystem des Abfragens veralteten Wissens, ist eine gigantische Zusammenfassung aller vordemokratischen Zustände. Wie ein Wunder scheint es, dass die Demokratie vor den Netzwerken entdeckt wurde.

QUELLE ODER MÄANDER

[pınar yahut menderes]

Nr. 190

                                                                                                                         [Am Tag der kalten Sophie]

Dass der Mathematiker John Forbes Nash jr. mehr als eine halbe Stunde brauchte, um auf der Speisekarte ein Essen auszuwählen, wissen wir schon, aber dass Albert Einstein vor neunzig Jahren in der Preußischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag hielt, dessen erster Teil sich mit der konträren Zirkulation der Teeblätter in einer Tasse befasste, passt in unsere heutige Gedankenwelt.

Über einem Rapsfeld, dessen sattes Gelb Anlass zu Gemälden und Gedanken gibt, läuft eine Telefonleitung entlang der Straße, zwischen zwei Leitungsmasten leuchtet ein Kirchturm. Man sieht sofort die Verwandtschaft der drei Bildelemente. Der Kirchturm erscheint als eine Energie- und Navigationsquelle, die Leitung als Energie- und Navigationstransport, der Raps dagegen hat nur Energie zu bieten und vollendete Schönheit, das satteste Gelb des Frühsommers, der an Grün und Gelb nicht reicher sein könnte: Sumpfdotter, Löwenzahn, Schellkraut.

Aber so sind wir Menschen: weil wir zu faul zum Denken sind, lieben wir unsere Denkfehler. Die Kirche, wie auch jedes andere Gotteshaus, erhebt uns nicht, weil es ein Gottesbau ist, sondern weil der Architekt, der vielleicht an Gott, aber auf jeden Fall an die Wirkung konzentrierten Raums glaubte, die  ihm als gottgegeben erschienen sein mag, einen Bau errichtete, der die Absicht hatte, uns zu erheben. Zwar ist es unübersehbar, dass uns ein großer und reicher, wunderschöner und höchst kunstvoller Bau, etwa die Hagia Sophia in Istanbul oder der Petersdom in Rom, besonders faszinieren, aber eine winzige Kirche in Eritrea hat fast dieselbe Wirkung auf die Menschen, weil sie jeden Sonntag nicht nur voller gläubiger und fröhlicher Menschen ist, sondern noch hunderte um sie herum singen und tanzen und beten und sich segnen lassen. Das ist zweifelsfrei eine Energiequelle. Aber die Quelle dieser Quelle war die Idee und die Quelle der Idee war das Ei, weshalb schon in der römischen Antike ‚ab ovo‘, vom Ei an, gesagt wurde, wenn man die Quellenlosigkeit der Quellen beschreiben wollte. Jeder kennt das Kinderrätsel, das so ernst ist wie alle Kinderfragen, wer zuerst dagewesen sei: die Henne oder das Ei. Daraus folgt, dass eine Kirche nichts über Gott aussagt, sondern über den Zeitgeist der Architektur, der Religion, der Kommunikation.

Aus heutiger Sicht erscheint die Kommunikation vor der Erfindung des Telegraphen als sinnentleert und wirkungslos. Wer so denkt, ist schon wieder in seinen Denkfehler verliebt: er oder sie unterstellt, dass es einen Sinn an sich gäbe. Tatsächlich ergibt sich der Sinn erst aus dem Getanen, aus der Tat, so wie sich die Absicht aus dem Bild der Welt ergibt und nicht etwa aus der Welt selbst. Das wussten schon die Alten und nannten das, was ist, das Getane: den Fakt. Der Sinn ist das, was sich ergibt, wenn etwas gelingt. Aber vieles scheitert. Wir verdrängen hin und wieder, dass wir einfach selbst denken und dies unseren Mitmenschen mitteilen können. Aber das ist nicht neu und nicht durch die von uns selbst erfundene Leitung – als Metapher für den Strom und die Führung – bestimmt, sondern durch unsere Vorsicht, Unfähigkeit und Faulheit. Alle Probleme der Welt sind Folgen von Kommunikationsanomalien, woraus zwingend folgte, dass die Lösung aller Probleme die Optimierung der Kommunikation wäre. Aber sowohl Shakespeare als auch der in einem Taxi in einer scharfen Kurve unweit New York vor fast genau einem Jahr verunglückte John Forbes Nash jr. haben ziemlich deutlich erkannt, dass der Mensch lieber in einem Defizit verharrt, als den Schritt in ein neues Optimum oder Desaster zu wagen.

Bleibt der Raps, die Ästhetik des Frühsommers. Er ist ein Speicher der Energie, die wir verbrennen und verpulvern. Wir überlassen den Boden der Desertifikation und verstecken uns hinter dem ästhetischen Fremdwort, um die Wirklichkeit, die wir nicht erkennen, sondern nur erschaffen können, dann auch noch zu umgehen. Wir haben sie geschaffen, um uns über die nächsten Jahre zu verhelfen. Die nächsten Jahrhunderte lassen wir dabei außer Acht, weil sie nicht in unseren Blickwinkel passen. Aber auch unsere Mitmenschen erfassen wir immer noch zu sehr als Fremde, als Außenstehende, gar als Bedrohung.  Der Mensch sieht sich immer als Singular und kann doch nur als Plural überleben. Globalisierung heißt bei weitem nicht nur die Marmelade aus Argentinien zu importieren und den Turnschuh nach Ouagadougou zu exportieren, auch nicht nur, Entwicklungshilfe zu leisten, auch nicht nur Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist alles selbstverständlich. Vielmehr sollten wir wieder lernen, jeden anderen Menschen, jeden anderen Gedanken als Bereicherung, ja, als Geschenk zu begreifen.

 

 

Drei Thesen:

Diese Gedanken entstanden, als ich mit drei fröhlichen und neugierigen, absolut dankbaren und bescheidenen Flüchtlingen aus Eritrea über Land fuhr in Betrachtung all der Dinge, die in diesem Text vorkommen, darunter Kunst und Kirchen und Raps. Daraus folgt, dass wir immer wieder unsere Welt und unsere Gedanken mit Menschen aus ganz anderen Gegenden der Welt betrachten und überprüfen sollten. In Eritrea gab es das Christentum tausend Jahre länger als in Deutschland. Die Armut des Landes besteht eher in einem Mangel an Freiheit als an Brot (Injera), das allgegenwärtig ist und am liebsten kollektiv genossen wird.

Übrigens stammt auch die Redewendung ‚ab ovo‘ nicht aus der Naturbetrachtung, die es, wie wir gesehen haben, nicht geben kann, sondern aus der Kritik der Dichtung als Reflexion des Reflektierten: Horaz kritisierte damit den nach seiner Meinung falschen Beginn der Schilderung des Trojanischen Krieges aus den beiden Zwillingseiern der Leda, aus denen nicht nur Helena, sondern auch Klytemnestra und Castor und Pollux, die Protektoren der Navigation,  entschlüpften, der Anfang war also Chaos. In Prenzlau gibt es eine Skulptur der Leda mit dem Schwan und daran steht der Hinweis: KEIN TRINKWASSER. Castor und Pollux belehren uns, dass wir alle Zwillinge sind und sterblich und unsterblich zugleich, unbekannter Herkunft und namenloser Zukunft, stets zwischen Olymp und Hades unterwegs, wahrscheinlich nicht geradewegs, sondern mäandrierend, Sinus ist unser Kreuz.

Die neue Hamletfrage ist: die Wahl zwischen zwei Nash-Gleichgewichten und die Unmöglichkeit und Unnötigkeit innerhalb all der rotierenden und mäandrierenden Teeblätter eine Quelle zu erkennen. Es gibt n Antworten und n Jahre, die Fragen zu finden. Das Verhalten der Menschen ergibt sich vielmehr aus dem Verhalten, aus dem schon Getanen, aus den Reflexionen der Taten.

 

Auf dem Foto sieht man die Kirche St. Sophia zu Brüssow.

Der Titel wird auch in Türkisch wiedergegeben, weil der Fluss inzwischen Menderes heißt und in der Türkei mäandriert und seine Symbole und Erkenntnisse verbreitet.

Angosom und all den anderen sage ich: Du musst dich nicht bedanken, du bist das Geschenk.

KLAGENDE ODER KLÜGERE SCHÜLER

 

Nr. 189

Vieles hat sich verbessert, aber vieles könnte besser sein. Wenn man richtig erziehen wollte, müsste man in die Zukunft sehen können, und die wäre anders, wenn man richtig erzogen hätte. Aber schon Freud wusste: es geht nicht. Der Grund ist: es gibt nur kleine Wahrheiten, keine großen, aber weil so viele Menschen lügen, wollen sie gern glauben, dass es umgekehrt sei.

Die Nordkoreaner wurden vom Großvater des heutigen Diktators dazu aufgefordert, hinter jedem Baum einen Japaner oder Nordamerikaner zu vermuten. Die Einhaltung dieses Gebots erklärte den absoluten Stillstand der nordkoreanischen Gesellschaft bis auf den heutigen Tag. Allerdings gibt es jetzt erste Aufbrüche.

Wir haben nicht zu viele Bäume, hinter denen vermeintliche Feinde stehen, sondern wir haben zu viele Regeln, die uns hindern, initiativ zu sein. Je mehr Regeln wir uns gegeben haben, desto mehr Supervisionäre brauchten wir und haben wir erhalten. Aber Supervisionäre sind nicht nur keine Visionäre, sondern das Gegenteil. [Und um dem dummen Satz von Helmut Schmidt zu widersprechen, von dem allerdings keiner weiß, warum und in welchen Zusammenhängen er ihn sagte, und witzige Sätze müssen nicht richtig, noch nicht einmal gut sein, muss man nur Willy Brandt und Helmut Schmidt vergleichen.]  Um zu zeigen, was Bürokratie kann, aber was sie auch nicht kann, folgt nun

DAS GROSSE FACEBOOK GLEICHNIS

Im Jahre 2015 kamen nach Deutschland über eine Million Flüchtlinge, von denen eine halbe Million als Asylbewerber blieben, von denen ein nicht genau bestimmbarer Anteil nach geltendem Recht anerkannt werden wir, ein anderer Teil wird geduldet oder abgeschoben. Die Ämter waren heillos überfordert. Als Beispiel für eine katastrophale Überforderung mag das Berliner LAGESO, Amt für Gesundheit und Soziales stehen. Bürger und Wohlfahrtsorganisationen mussten ihm zu Hilfe eilen. [Dass die Berliner Verwaltung insgesamt ihre Aufgaben nicht mehr lösen kann, sieht man vor allen Bürgerämtern, und dort stehen nur die dringlichen Fälle, die anderen haben online Termine in den nächsten Wochen und Monaten.] Zehntausend jugendliche unbegleitete Flüchtlinge sind verschwunden. Die sechzehn Bundesländer und die Bundespolizei haben verschiedene Erfassungssysteme mit nicht kompatibler Software. Obwohl allen Flüchtlingen mehrfach und in allen Ländern Fingerabdrücke abgenötigt werden, sind diese nicht vergleichbar, Flüchtlinge sind also nicht verfolgbar. Die wenigen kriminellen Flüchtlinge werden also nicht von einer perfekten Polizei verfolgt, sondern sie erleben den gleichen Schlendrian wie in ihren Herkunftsländern, nur besser aussehend. Im besten Fall, und das ist der schlechteste Fall, wird der tatsächliche Delinquent erschossen. Papiere liegen monatelang in Erstaufnahmebüros. Namen werden in Varianten geschrieben, so dass sich Leistungen oder Identitäten verschleiern können. Es gibt nur wenige böse Sätze, aber einer, der gleichzeitig auch noch dumm ist [aber ist nicht alles Böse dumm?], lautet: AMTSSPRACHE IST HIER DEUTSCH. Nein, wir sind hier in Europa und alle Bürokraten haben einen Hochschulabschluss. Zudem können Ämter gar nicht sprechen. Menschensprache ist Empathie oder umgekehrt! Überfüllte Ämter sind überfordert. Der Profiteur ist die immer die selbsternannte Alternative, wenn man sein Modell als alterativlos bezeichnet. Solche selbsternannten Alternativen preisen das Gestern als Lösung.

Statt dieses gestrigen Verhaltens hätte man [und könnte man bei der nächsten Krise] moderne Medien und Methoden anwenden können.

Jeder Flüchtling, der in Europa ankommt, erhält ein Smartphone mit einem Facebookprofil, das zu seiner Sicherheit durch fingerprints unterfüttert wurde. In dem Telefon befindet sich auch ein Wörterbuch seiner Herkunftssprache, das dann jeweils auf die Sprache des Aufenthaltslandes umgestellt wird. Damit haben auch die Flüchtlinge mit eher seltenen Sprachen wie Tigrinya, Urdu, Somali, Farsi oder Deri eine bessere Chance der Verständigung. Flüchtlinge wie Bürokraten haben Sicherheit durch ein Medium, das sie bestens beherrschen, statt in Methoden herumzutappen, die sich selbst überholt haben.  

Das ist keine Vision, das ist verpasste Wirklichkeit. Als 1990 ein ganzes Land mit fünfzehn Millionen Einwohnern mit Geld und Waren des täglichen Bedarfs, einschließlich der Südmilch aus Stuttgart, versorgt wurden, war das auch kein Wunder und keine Vision, sondern Wirklichkeit eines oft verschmähten und gescholtenen Kapitalismus. Eine Flotte von blauen Mercedeslastern setzte sich nachts in Bewegung und am nächsten Morgen erwachte ein Land in einem andern Land und konnte zwischen Südmilch und Nordmilch wählen. Ein Denkmal davon findet sich in der Berliner Brunnenstraße als Inschrift. Dieses Haus, steht da, stand früher in einem anderen Land, aber der Glaube der Menschen kann Berge und Häuser versetzen.

So hinken eine Schule, eine Bürokratie und ein ganzes Land hinter sich selbst her, weil sie den Glauben an sich, der einmal ihr Markenzeichen war, verloren haben. Fast zehn Prozent von uns folgen einer obskuren Sekte, die wie alle rechts- und linksextremen Parteien oder Gruppierungen nur ANTI und NEIN und GESTERN zu bieten haben. Die restlichen neunzig Prozent sind erstarrt wie das Kaninchen vor der Schlange. Wollen wir nicht endlich die Fernseher ausschalten, um dieses unsägliche Gemisch von Pertry, Wagenknecht und Böhmermann nicht mehr ertragen zu müssen?

In Bhutan ist, nach dem damals siebzehnjährigen König, das Bruttonationalglück Hauptparameter des wirtschaftlichen und sozialen Handelns. Aus bösen Diktaturen Afrikas fliehen freundliche und fröhliche Menschen, und sie tun gut daran, einer Politik zu entkommen, die sie mit Sicherheit unglücklich machen wird. Aber ob sie hier glücklich bleiben? Denn was tun wir? Wir runzeln die Stirnen und haben Angst vor unseren eigenen Initiativen. Die kleinen Städte, statt sich über Kinder, Jugendliche und junge Menschen mit guter Laune zu freuen, übergeben sich ihren Bedenken und Gebrechen. Wir sind ein Land geworden, in dem die wichtigsten Botschaften in der APOTHEKENRUNDSCHAU stehen. Obwohl ein Drittel von uns an Adipositas leidet, haben wir Angst, dass uns jemand etwas wegessen könnte.

In der deutschen Schule wird um Zensuren und Rechtsvorschriften, Punktesysteme, siebzig Schultypen und seit zwanzig Jahren über das Abitur gestritten. In Berlin wachen fünfzig Schulräte  darüber, dass es keine klagenden Schüler gibt.

Es geht mir gut, es geht mir eigentlich immer gut, singt AnnenMayKantereit. Wann singen wir endlich wieder mit? Und wann trauen wir uns wieder Visionen zu statt nur Supervisionen.

 

Das GROSSE FACEBOOK GLEICHNIS folgt einer Idee Caspar David Stordeurs. Danke.

ZAHLENDREHER

 

 

Nr. 188

 

Man sieht sich lieber als Märtyrer der Zeit oder, wie es moderner heißt, der Sachzwänge. denn als erfolglosen Neuerer. Zu allen Zeiten war es schwer, eine eigene Idee zu entwickeln und sie durchzusetzen. Dagegen hilft eigentlich nur zweierlei: einfach mit der Masse mitlaufen oder sich als Opfer stilisieren.  Plagiate wollen wir nicht als ernsthafte Möglichkeit anerkennen.

Die Masse und ihre Führer stellen sich natürlich und als gesunden Menschenverstand dar, der dann auch im Englischen common sense heißt. Es ist nicht nötig aufzuzählen, was der gesunde Menschenverstand schon alles als normal angesehen hat und ansieht. Unter Führung ihrer Priester zogen Millionen Menschen zu den Volksbelustigungen der Exekutionen. Ein besonders krasser Fall mag der siebzehn Jahre junge Jesse Washington gewesen sein, dessen Erhängung und Verbrennung ein tausendköpfiger Mob johlend zusah, der anschließend Postkarten mit dem Grauen verkaufte, aber es war leider in allen Kulturen und Religionen üblich. Das wird deutlich und deutlicher, wenn man mit jungen Flüchtlingen am Richtstein und am Standort des Militärgalgens einer mittelalterlichen Stadt steht. Heute kann man wenigstens fliehen. Fliehen konnte man schon immer, aber heute wird man doch weitaus freundlicher aufgenommen. Die Ausnahmen, wie das alte Preußen, aber auch Russland, Amerika oder das Habsburger Reich, sollten gefeiert werden.

Viel zu sehr glauben wir Loser, dass Innovation in die Geschichtsbücher gehört. Vielmehr reicht es, wenn die Innovation die Herzen erreicht. Innovation ist alles, was über den reinen Broterwerb und die bloße Pflichterfüllung hinausgeht. Die großen Denker haben unter Pflicht freilich etwas anderes verstanden: die Pflichten, die wir am Menschengeschlecht haben, deren Erfüllung uns erst zu Menschen macht. Jede Ordnungsmacht nutzt den Widerspruch aus, der sich zwischen den rein semantischen Unterschieden eines einzigen Wortes auftut, ja, sie fördert das Missverständnis. jede Diktatur tut so, als sei ihr meist durch Zufälle nach oben gespülter Unrat Heil und Heiland zugleich.

Und wir, die Loser, glauben den Sprüchen und Botschaften, ohne sie zu befragen. Wir befragen auch uns nicht genügend, denn sonst würden wir nicht immer und immer wieder den entrollten Lügenfahnen hinterherrennen. Das ist bekanntlich ein Zitat aus Goethes Faust II. Der Vorsitzende der NPD hat es neulich im Schweriner Landtag Walther von der Vogelweide zugeschrieben. Wir wollen nicht auf die Unbildung des Migranten Pastörs verweisen, sondern auf den Ge- und Missbrauch von Sprüchen.

Im untergegangenen Ostblock wurden die sogenannten Klassiker des Marxismus-Leninismus nicht nur in Vorlesungen und Reden zitiert. Einige dieser Zitate sind in die Spruchweisheiten gelangt. Sie dienten gleich- und gegenseitig zum Beweis des Systems und das System bewies mit seiner Existenz die Sprüche. Wir sind heute zurecht schockiert, wenn eine politische  oder wissenschaftliche oder wirtschaftliche Instanz Demokratie und Transparenz vernachlässigt, um die Interessen eines Chefs zu verwirklichen. In der Diktatur ist das gang und gäbe, der uralte Ausdruck für Zeitgeist,  und wird mit Sprüchen getarnt.

Es war einmal ein armer kleiner Maurerlehrling. Der musste einen Aufsatz über sich schreiben, aber das konnte er nicht. Schon immer hatte er große Probleme, wenn er etwas schreiben sollte. Zudem konnte er auch nicht öffentlich sprechen, was aber seine Lehrer nicht störte. Immer wieder demütigten sie ihn. Kurz gesagt, gehörte Deutsch nicht gerade zu seinen Lieblingsfächern und deshalb wollte er auch nicht Schriftführer oder Schriftsteller werden, sondern Maurer. Aber er hatte schon eine Idee für diesen Text. Er wollte sagen, dass er schon fähig wäre, etwas zu tun, wenn seine Mutter ihm dabei helfen würde, wenigstens, indem sie ihn erinnerte, mahnte, kontrollierte. Und um das zu sagen, fiel ihm ein Spruch ein, der damals in allen Zeitungen stand, von allen Rednern eifrig zitiert wurde, allgegenwärtig war, vielleicht war er auch auf seiner Jugendweihe zelebriert worden. Er schrieb: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Zwar wurde er etwas unsicher, als er es geschrieben hatte, aber er blieb doch dabei. Und er war immer unsicher, wenn er etwas schreiben oder öffentlich sagen musste. Als er seine Arbeit zurückbekam, saß er mit roten Ohren da, wie immer, ein blonder Junge, unsicher über sich selbst und die Welt. Der Lehrer sprach: Das ist ein hervorragender Text. Du hast etwas großartiges geschrieben, vielleicht sogar entdeckt. Der Junge wurde über und über rot und sagte: Es kann sein, dass ich etwas verwechselt habe. Nein, nein, sagte der Lehrer, du hast nichts verwechselt. Du hast erkannt, wie es richtig heißen muss. Und wenn du heute nach Hause kommst, sagst du dir deinen Satz hundertmal gegen den Spiegel. Und immer wenn du ihn dann andersherum, hörst oder liest, wirst du wissen, dass du richtig und die anderen falsch sind. Und ich sehe das, sagte der Lehrer, ab heute auch so. Und weil du uns einen großen Schritt vorangebracht, wird dein Text als der jahrgangsbeste ausgezeichnet, wie Lehrer so reden.

Wenn man nachts die Landsberger Allee in Berlin stadteinwärts fährt, und ein wenig sinnlose Gespräche führt, einfach um wacher zu bleiben, dann fällt einem vielleicht der angebliche Urheber des ursprünglichen falschen und dummen Spruchs ein, der durch einen leider namenlos gebliebenen blonden Maurerlehrling mit immer roten Ohren korrigiert wurde. Aber vielleicht fällt einem auch nur der Film GOOD BYE LENIN ein, aber vielleicht ist das ganze Leben überhaupt nur ein dejá vue?

Mir fielen diese Geschichte, dieser Spruch und seine Umkehrung wieder ein, als ich die CD einer bemerkenswerten Deutschrockband hörte, nämlich AnnenMayKantereit, und da heißt es: Vertrauen ist gut, Kontrolle für Besserwisser…