‚SYSTEMSPRENGER‘

 

Nr. 396

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve 1795

 

‚Systemsprenger‘ ist ein äußerst expressiver Film aus dem Jahr 2019 von Nora Fingscheidt, der beim Deutschen Filmpreis in diesem Jahr zurecht acht Titel gewann. Der Titel mag nicht ganz glücklich gewählt sein, denn das delinquente Mädchen will auf keinen Fall das System sprengen, vielmehr kann sie sich nicht in das System einordnen, weil ihr von Anfang an ein Platz verwehrt war. Wir nehmen das Milieu und die Probleme, von denen der Film meisterhaft und ohne moralische Vorhaltungen erzählt, nur ungern zur Kenntnis. Es ist dem so genannten mainstream der Vorwurf zu machen, dass er am liebsten nur sich selbst mit fertigen Erklärungen zur Kenntnis nimmt. Wer wird schon gerne unterwandert?

Das Coronavirus brachte uns – der Welt, jedenfalls der Menschheit – eine echte Krise. Eine Krise kann auch immer ein Versagen der Regierung sein, aber hier kann man wahrscheinlich noch nicht einmal der chinesischen Regierung, die zu schelten sonst ein sehr dankbares Unterfangen ist, Vorwürfe machen. Schon dass es verschiedene Erklärungsmuster der Entstehung, wahrscheinlich eine Zoonose, gibt, zeigt unsere Hilflosigkeit. Aber wie in der Menschheitskrise, die durch das Große Erdbeben von Lissabon 1755 ausgelöst wurde, helfen Schuldzuweisungen nicht weiter, und so ist diese Katastrophe nicht nur der Beginn der Aufklärung und Säkularisation, sondern auch der pragmatischen Regierungspolitik. ‚Begraben wir unsere Toten und bauen die Stadt neu auf‘, soll der Kanzler des portugiesischen Weltreichs damals gesagt haben. Und in Hannover fand der Philosoph Leibniz den Begriff der Theodizee. Aus der Tamborakrise ging nicht nur das Fahrrad hervor, sondern auch der allgemeine Gedanke der Substitution. Es ist also möglich, dass sich aus der schnellen Abfolge mehrerer Krisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein neues Weltgefüge ergibt, das auf Nachhaltigkeit, Regionalität, Ressourcenschonung und Transparenz, kurz auf Empathie statt Wachstum und Wachstumsemphase setzt. Die Zeit der Großmächte, der Kriege und des Waffenhandels und vielleicht sogar der Rivalitäten könnte von Regierungen beendet werden, wenn sie ihr schnelles, effektives und koordiniertes Handeln, das sie in der Krise hinzugewonnen haben, in der Zeit nach der Krise kreativ fortzuführen imstande sind. Auch Ursachenforschung wird es nach der Krise geben, und sie wird vielleicht zu dem Ergebnis gelangen, dass der Klimawandel, die Flüchtlingskatastrophe und die Coronapandemie in engerem Zusammenhang stehen als wir bis jetzt vermuten können und wahrhaben wollen. Wir sehen Zusammenhänge nur schwer, weil wir die Weltgeschichte* als Fernsehserie erleben, Folge für Folge, und unsere Interpretation zwischen Eindämmung und Verdammung flattert.

1

So kann es sein, so kann es kommen. Aber gerade in dem – historischen – Moment, in dem die Menschheit vor dem Spagat steht, handeln zu müssen, aber nicht zu wissen, wohin es geht, pochen manche Menschen auf verbriefte Rechte, auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Auch ohne Krise weiß niemand, was morgen passiert, aber die Wahrscheinlichkeit, dass nichts Außergewöhnliches passiert, ist dann eben höher. In Kriegs-, Krisen- und Pestzeiten ist dagegen die Wahrscheinlichkeit höher, dass das Ungewöhnliche, sogar das Systemsprengende passieren kann. Unsere Ahnen haben nach dem zweiten Weltkrieg immer ihre Verwunderung geäußert, dass ausgerechnet sie überlebt haben, die überlebenden Holocaustopfer haben sogar ihr Gewissen nie beruhigen können, dass sie, aber nicht ihre Eltern und Geschwister überlebt haben. Das Leben des Dichters Paul Celan ist vor fünfzig Jahren an diesem Dilemma zerbrochen.

Es ist unverantwortlich, im Moment der Krise Grundrechte oder überhaupt Mittel einzufordern, die die Krise nicht beenden können. Natürlich ist es das Recht der Linken, auch öffentlichkeitswirksam an ihrer Vision festzuhalten, aber ist es auch hilfreich? Die Grundrechte sind immer in Gefahr. Aber je demokratischer ein Gemeinwesen ist, desto mehr kann sich der Einzelne auf seinen Schutz verlassen. Im Moment gibt es lediglich eine Prioritätenverschiebung. Der Beitrag dieser Linken zur Fortentwicklung der Gesellschaft besteht also lediglich in der Selbstdarstellung. Vom Sprengen des Systems ist nichts zu sehen.

2

Neben Bill Gates als dem Hauptverursacher sehen die Rechten auch den nun nächtlichen Austausch der autochthonen deutschen – in anderen Ländern der dortigen –  Bevölkerung gegen die als Flüchtlinge getarnten und von den Regierungen jetzt nicht nur eingeladenen und geduldeten, sondern gezielt platzierten Muslime und Afrikaner. Es gab die Vermutungen, dass die Kirchen geschlossen sind, damit die Muslime die Ramadanbeschränkungen nicht als diskriminierend empfinden, das ist das Wiederaufleben der angeblichen Weihnachtsabschaffung. Plötzlich entdecken die Rechten ihre Liebe zur Kirche. Keiner von ihnen kommt auf die Idee, dass ein hygienisches Versammlungsverbot alle betreffen könnte?

Es ist zwar menschlich verständlich, Verursacher in Menschengestalt zu vermuten, aber es ist nicht besonders evident. Jeder weiß heute, dass der erste Weltkrieg mit einem Attentat begann, aber niemand glaubt, dass dieses Attentat, so erschütternd es auch aufgefasst worden sein mag, die Ursache des Krieges war. Wir sehen heute die beiden Weltkriege sogar als eine Einheit** mit ungeheuer komplexen Ursachen und Folgen an. Auch der Beitrag der Rechten zur Fortentwicklung der Gesellschaft besteht lediglich in Selbstdarstellung. Vom Sprengen des Systems ist nichts zu spüren.

3

Manchmal legt eine Krise auch Tatsachen frei, die sonst eher verborgen bleiben. So haben sowohl islamistische Ayatollahs im Iran als auch die evangelikalen Haus- und Hassprediger des US-Präsidenten die Ursache der Pandemie in einer Strafe Gottes erkannt, die er den Menschen wegen der Homosexualität schickte. Der alttestamentarische Begriff der Gottesstrafe ist im Neuen Testament durch die Nächsten- und Feindesliebe mehr als aufgehoben. Yesus geht – im Gegensatz zu allen Fundamentalisten, die übrigens schon wieder Sündenerlasse verkaufen – von der Gleichartigkeit aller Menschen aus. Die Vorstellung von Tat oder Untat und darauffolgender notwendiger Strafe ist – gelinde gesagt – mittelalterlich. Die gesamte moderne Welt hat ihren wirtschaftlichen und sozialen Erfolg gerade den Gedanken der Empathie und der Resozialisierung zu verdanken. Der von Generalfeldmarschall Graf von Schlieffen – angesichts des ersten Genozids der Neuzeit – ausgerufene Rassenkampf und der von Lenin kurze Zeit später als tödlich deklarierte Klassenkampf sind gescheiterte Ausläufer des Paradigmas von der angeblich nicht schädlichen Prügel. Selbst das ewiggestrige und auch gerade genüsslich mit seinem Scheitern beschäftigte fundamentalistische System Saudi-Arabiens hat das Auspeitschen als Strafe abgeschafft. Vielleicht hören nun ihre Gegner, die Ayatollahs im Iran, auf, Homosexuelle an Baukränen aufzuhängen. Das ist alles Selbstdarstellung, die nicht nur kein System sprengt, sondern Menschen tötet, was allen Menschen nach allen Philosophien und Religionen verboten ist.

Die Coronakrise und ihre hoffentliche Bewältigung durch die Logistik der Eindämmung, auf die wir als Fernsehserienseher der Weltgeschichte so sehr hoffen, könnte als Wegweiser oder vielleicht sogar als Weg gedeutet werden, endlich alle Menschen nichts als Menschen sein zu lassen und zu behandeln. Das ist kein frommer Wunsch, noch nicht einmal eine Vision, das ist der einzige Sinn, den das Leben der Menschheit haben kann, wenn es überhaupt einen Sinn hat. Aber dafür spricht wenigstens Beethoven***.

 

*nach einer Idee von Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927-1931

**nach Imanuel Geiss und Eric Hobesbowm

***als Metapher für alles Transzendentale: NO DEAL BUT IDEAL.

 

SCHULD UND SÜHNE

Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird?

Beethoven an Struve, 1795

 

Nr. 395

Der Kollateralschaden der Demokratie ist der Zweifel. In den vordemokratischen Zeitaltern war die Erziehung durch Zweifel und zum Zweifel die Voraussetzung zur Weiterentwicklung, zur Fortentwicklung aus dumpfen Sklaven- und Feudalverhältnissen. Alle autoritären Gesellschaftsmodelle setzen auf Loyalität, alle Solidarmodelle gehen vom Konsens aus. Aber beides ist falsch.

Sobald der Diktator kippt oder auch nur wackelt, schlägt die vermeintliche Treue in Schadenfreude um. Die Ratten waren alle nur Opportunisten. Sie hoffen auf einen neuen Herrn, selten eine Herrin. Und dieses seltsame Wort gibt uns wieder Gelegenheit, über das Gegenteil des Gegenteils nachzudenken und zu der Erkenntnis zu kommen, dass jede Medaille tausend Seiten hat, so viele wie ein guter Roman. Das Gegenteil eines Herren ist eine Dame, sie ist sein Komplement, aber wenn sie nicht untergeordnet sein will oder soll, muss sie den weiblichen Titel, der im Patriarchat nichts gilt, ablegen. Sie wird zur Herrin und gibt damit zu, dass Herr eben doch mehr ist als Frau. So geht es vielen Politikerinnen. Auch Merkel hatte lange diesen Hang zur übergestülpten Männlichkeit. Es waren ihre Jäckchen, die sie zur etwas lächerlichen Herrin machten. Mit dem Titel ‚Mutti‘, den ein bösartiger Journalist ihr gab, war nicht gemeint, dass sie die Mutter der Nation als Pendent zum Vater der Nation, dem Gebieter des Vaterlandes, sei, sondern es war ihre Piefigkeit gemeint. ‚Mutti‘ ist ein Kinderwort, so wie ‚Opa‘. Nachdem sie nun auch die dritte Krise gemeistert (schon wieder ein Herr) hat, bleibt den meisten Kritikern die Kritik im Halse stecken. Und übrigens: gegen solchen Spott wehren sich Autokraten durch Blasphemie-Paragrafen.

Solidarität ist das Lebenselixier allen menschlichen Seins. Aber sie wurde in den letzten fünftausend Jahren teilweise durch eine Staatsfürsorge substituiert. Und das daraus notwendig resultierende Staatsversagen führte zu dem Wunsch nach Demokratie und schließlich zur Demokratie.

Die Geschichte von David und Goliath ist die Grunderzählung des Staatversagens. Der König kassiert Steuern und gibt sie sicher ungerecht für sich und sein Volk aus. Zur Fürsorge gehörte damals auch der Krieg um die besten Weideplätze und der Feind wurde durch die eigene Propaganda als ein seelenloses, aber doch irgendwie unbesiegbares Monster dargestellt. Und nun kommt der kleine David, sechzehn Jahre alt, der seinen großen Brüdern den Proviant für die Schlacht bringen soll. Er kommt gerade rechtzeitig, um die Frage des Königs nach einem Freiwilligen, übrigens eine typische Militärfrage, vorlaut beantworten zu können. Meist wird der Ausgang der Geschichte so interpretiert, dass Macht zu Ohnmacht wird, wenn auf der anderen Seite Verstand eingesetzt wird.

Es ist aber zunächst die Geschichte des ohnmächtigen Königs, des Staatsversagens also. Und immer, wenn der Staat am Versagen ist, fragt er nach Freiwilligen zur Rettung. In der Suche nach Freiwilligen liegt aber ein vordemokratisches Element. Durch eine Rettungstat kann sich jemand von ganz unten, David war ein Hilfshirt und das jüngste Kind, in die Elite katapultieren. Der König muss ihm dann, um die Beförderung zu legitimieren, seine Tochter zur Frau geben.

Dieses vordemokratische Element der Auswahl führt zur allmählichen Zerstörung der Vorstellung von der Natur und der Natürlichkeit der Hierarchie. Wie kann, fragt man sich tausend Jahre später und tausend Beispiele weiter, die Hierarchie göttlich und naturgegeben sein, wenn sie durch ein einfaches Katapult – mit dem David das Monster Goliath exekutierte – außer Kraft gesetzt wird?

Der Goliath des stotternden und hyperventilierenden Davids Edison waren die Dunkelheit und die Einmaligkeit. Er erfand die Glühbirne als automatisierte Kerze und den Phonographen als Wiederholer bis dahin einmaliger Kunstereignisse. Der Adel des Geldes, zu dem er dann – im Gegensatz zu seinem erfolgloseren Konkurrenten Nikola Tesla – gehörte, war längst als Alternative zur Geburtselite akzeptiert.

Das ganze neunzehnte Jahrhundert über kämpfte das demokratische gegen das autoritäre Prinzip, gleichzeitig die Globalisierung gegen das Nationalstaatssystem. Globalisierung ist im Gegensatz zum Nationalismus keine Ideologie, sondern eine Methode, eine Möglichkeit des Marktes. Beide fanden im Kolonialismus ein zeitlich begrenztes gemeinsames Dach. Der Vietnam- und der Algerienkrieg sind so gesehen Triumphe über den Kolonialismus und für die Demokratie.

Es ist kein Wunder, dass der rechte, recht unbekannte Theoretiker Renaud Camus, den wir am vorigen Sonntag vorgestellt haben, den Algerienkrieg und seine Folgen für Frankreich traumatisch erlebt hat und dem Verlust durchaus rachsüchtig nachtrauert, während der weltberühmte Großautor Albert Camus, dessen Mutter Analphabetin war, aus Algerien stammt – ohne Araber oder Berber zu sein – und wie David und wie Edison höchst erfolgreich für den Verstand und das Licht votierte.

In der Anfangsphase der Demokratie, in der wir uns jetzt befinden, leben die Menschen mit ihren eingelernten Zweifeln, die sie den Sturz der angeblich felsenfesten Autoritäten lehrten, fort. Sie vermuten hinter jeder gewählten Persönlichkeit Korruption und Allmachtsfantasien. Andererseits verlangen sie aber auch Allwissen und Allmacht. Einerseits fragen viele Bürger, wie jemand Gesundheitsminister sein kann, ohne Arzt zu sein. Andererseits vermuten sie aber, wenn ein Arzt Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation ist, Dr. Tedros Adhanom Gebreyesus, dass er gerade deswegen korrupt sein muss. Andere glauben sogar, dass er eine Marionette von Bill Gates sei. Bill Gates seinerseits aber wird als neuer Weltgesundheitsdiktator beschimpft. Wir erinnern uns: er hat große Teile seines – allerdings unermesslich und unvorstellbar  großen – Vermögens für die Bekämpfung von AIDS gestiftet. Sie setzen also Zweifel, die früher nicht nur berechtigt, sondern notwendig waren, für die Bekämpfung derjenigen Gesellschaft ein,  die für ihre Ahnen das Ziel war: ‚die Gedanken sind frei‘ – so sangen heimlich die ersten Demokraten Deutschlands in den Kerkern ihrer Staatsversager. Und heute bemerken sie nicht, dass sie wählen und zweifeln und ihre abstruse Meinung hinausposaunen können, ohne dass sie von jemandem gehindert würden.

Es ist das Paradox der Diktatur, dass sie von Treue lebt und immer in Verrat und Attentat endet. Es ist das Paradox der Demokratie, dass sie von der Solidarität lebt, die gleichzeitig ihr letztes Ziel ist, und dass sie aber von denjenigen, die der Autorität nachtrauern, missbraucht und mit sozusagen demokratischen Möglichkeiten bekämpft wird. Schon Goebbels hat das mit großer Schadenfreude verkündet, aber wo ist er geblieben? Seine heutigen Bewunderer, die sich auch so gerne mit ihm vergleichen lassen, sollten bedenken, dass er – nachdem er seinen Krieg verloren hatte und Deutschland in Schutt und Asche gelegt war –  erst seine sechs Kinder ermordete, dann seine Frau, die in Wirklichkeit Hitler liebte, weswegen er eine tschechische Filmschauspielerin liebte, und schließlich sich selbst erschoss. Manchmal enden die Monster von selbst und benötigen keinen David.

Wir haben auf den bisherigen 1000 Seiten (wirklich!) immer die Hierarchie, also die angeblich natürliche, tatsächlich aber immer zeitweilige oder konstruierte Rangfolge der Menschen als Verursacherprinzip der Ungleichheit (besser: Ungleichartigkeit) dargestellt: Rassismus, Klassismus oder Sexismus, auch die Religionen schließen sich gerne gegenseitig aus statt ein. Nur kein Synkretismus, rufen ihre alle ein wenig fundamentalistisch angehauchten Würdenträger. Dabei ist alle Kultur synkretisch, zusammengewürfelt, ineinander verschachtelt, kollateral verästelt. Es gibt neben Israel nur ein einziges Gebiet, das die jüdische Religion im Namen führt: die Jüdische Autonome Oblast Birobidshan, von Stalin aus antisemitischen Gründen gegründet, aber zeitweilig doch von vielen Juden angenommen. Jetzt aber ist nur ein Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens und es gibt nur eine Synagoge, und in der beten die wenigen Menschen den berühmtesten und größten Juden aller Zeiten an: Yesus. Wir haben gerade Ostern gefeiert, aber statt an die Auferstehung eben jenes Yesus zu denken, dachten wir an den Frühling und die Fruchtbarkeit und färbten Eier als deren Symbol, wie die Slawen taten, die vor uns hier gelebt haben und andere Götter hatten als wir.

Vielleicht ist auch die Hierarchie auf eine noch ältere Grundstruktur zurückzuführen: auf die Anmaßung des Richtens, die Erkennung einer Schuld und die Verhängung einer Sühne. Es gibt einen Hadith*, der besagt, dass ich, statt meinen Bruder oder meine Schwester einer Untat zu bezichtigen, siebzig Entschuldigungsgründe suchen soll, die für sie sprechen, die Gründe für die Tat sein könnten, die allgemein akzeptiert würden, und dass ich dann aber sagen soll: vielleicht gibt es einen weiteren Grund, den ich nicht gefunden habe. Und obwohl die moderne Rechtsprechung, das von Anselm Ritter von Feuerbach begründete positive Recht etwa so vorgehen, die Tat untersuchen, den Täter in seiner Würde als Mensch und mögliches Opfer vorangegangener Untaten anderer – zum Beispiel seiner Eltern oder des Staatsversagens – anerkennen,  obwohl also die gesamte nördliche Welt diesem Hadith folgt, ohne ihn jedoch explizit zu erwähnen, ohne ihn aber auch ausdrücklich zu verwerfen,  verbleiben große Teile des Südens und der Anhänger der Autoritäten mindestens in der Vorstellung harter Sühne, wenn nicht sogar in Rache.

Demokratie geht im Gegenteil davon aus, dass sich der Täter selbst seiner Würde beraubt hat, die ihm nun durch das, was wir Resozialisierung nennen, schrittweise wiedergegeben werden kann. Wahre und vollkommene Demokratie immunisiert gegen Untaten. Das ist es. Sie bedarf nicht der Schuldfeststellung und der Sühne, sondern der Verbesserung. Wir erinnern an einen unserer schönen Sätze: WENN JEDER DIE SCHULD BEI SICH SUCHT, IST DER TÄTER SCHNELL GEFUNDEN.** Das wird das Zeitalter sein, wo es nur Menschen geben wird. Zur Feierstunde der Schließung des letzten Gefängnisses wird der pensionierte Gefängnisdirektor, das letzte Opfer von Schuld und Sühne, die Waldsteinsonate von Beethoven spielen. Das ist eine Vision, sicher, aber zu fliegen war auch eine Vision, wie auch Licht und Geschwindigkeit und Reproduktion und weltweiter Alphabetismus.

 

 

*überlieferte Weisheit des Propheten Mohammed, diese geht möglicherweise auf Al-Buchari zurück

**oder: NICHT DER GEGENWIND IST SCHULD, SONDERN UNSRE UNGEDULD.

 

DIE PEST VON RENAUD CAMUS

 

Nr. 394

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve 1795

 

III

Wenn man Rechte oder Rechtsextreme fragt, warum sie eigentlich ihre eigenen Theoretiker nicht lesen, erhält man selten eine Antwort. Rechte Lektüre ist auch nicht spektakulär, vielleicht ist Oswald Spengler mit seinem Jahrhundertwerk ‚Der Untergang des Abendlandes‘ nach wie vor der lesbarste: ‚Der Einzelne leistet Verzicht, indem er die Bücher weglegt.‘ [S. 548] ‚Die Rasse beherrscht und formt das gesamte Begreifen.‘ [S. 893] Das sind Sätze, wie aus Stein gehauen, aber austauschbar. Genauso ist schon vorausgesagt worden, dass die Klasse das Begreifen bestimme oder Frauen nichts verstünden, weil sie nichts verstehen können, dass Afrikaner als Sklaven geboren würden und dass es bald keine Bücher mehr gäbe. Stattdessen gibt es mehr bedrucktes Papier als in allen vorigen Zeitaltern zusammen. Oswald Spengler befand sich im besten Verein mit den Zeugen Jehovas, die sogar das Datum des Untergangs der Welt, nicht nur des christlichen Abendlandes, wussten. Zu unserem Glück ist das alles nicht eingetreten. Den einfachen Grund dafür kennen wir alle: man kann die Geschichte weder vorwärts noch rückwärts wissen, auch dann nicht, wenn man sich göttlich erleuchtet glaubt oder durch seine angebliche Rasse oder Nation bevorzugt ist.

Das rechte Gedankengebäude hat überhaupt nur etwa die Größe einer damals so genannten Wandzeitung im Ostblock: übersichtlich, ein paar vielsagende Bilder, zwei, drei Losungen, schnell zusammengeschustert. Diese Wandzeitung hat nur drei Hauptthesen:

Erstens gibt es einen GROSSEN ADMINISTRATOR, eine Gruppe, einen Führer, eine Elite, eine Religion oder Kultur, die nicht nur die Masse führt, sondern die Ereignisse macht, weshalb sie auch immer eindeutig erklärbar sind. Obwohl die Regierungen und die Mächtigen dieser Welt entweder unfähig oder gekauft sind, machen sie ganz ausdrücklich jedes Ereignis. Niemals dürfen sie auf dieser Wandzeitung überrascht, überfahren oder überfordert sein. Und noch mehr: die Mächtigen dieser Welt gebieten über ein riesiges Heer von Medienknechten, die ‚das Reich des Falschen und der Fälschungen‘ [S. 104][1] am Laufen halten.

Erstaunlicherweise gilt dieses Macherprinzip auch für die nichtelitären Schichten: sie sagen etwas und dann machen sie es ungehindert auch genauso. Zitiert wird der Lehrer einer Pariser Berufsschule, dessen überwiegend maghrebinischen und schwarzafrikanischen Schüler nicht glauben können, dass sie Franzosen sind, die aber glauben, dass sie eines Tages Frankreich übernehmen werden. Auch in Berliner Berufsschulen sitzen Jugendliche in sogenannten berufsqualifizierenden Lehrgängen, die BMWs malen oder in ihren Smartphones aufheulen lassen, die sie, wenn sie so weiter machen, nie besitzen werden. Das hat mit der Herkunft nicht viel zu tun. Andererseits ist der Traum vom Mercedes für viele Migranten die Triebkraft fleißiger und meist selbstständiger Arbeit, ohne die heute weder Frankreich noch Deutschland denkbar wären.

Die Triebkraft des Widerstands gegen die Regierenden dagegen sind der Ruin und die Versklavung, in die die Regierungen ihre Völker führen. Interessanterweise werden nicht nur die politischen Mittel in der Vergangenheit gesucht, am Schluss von Renaud Camus‘ Broschüre befindet sich ein 10-Punkte-Fahrplan in die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft des verhassten Systems, das man bekämpfen will.

Die zweite These besagt, dass die Menschen von Natur aus nicht nur ungleich sind, sondern in Ränge geteilt: ein Brite ist kraft seiner Zugehörigkeit zum britischen Empire mehr wert als ein Moldawier. Wir wissen weder, ob Hitler noch ob Renaud Camus und seine geistige Gefolgsmannschaft – denn er scheint weit einflussreicher als Kubitschek – die Sache mit den Rassen ernst meinen oder auch nur meinen können. In dem Sinne, dass natürlich alle Quellen zweifelhaft sind, zitieren wir einmal mehr aus den Gesprächen, die der Danziger Senatspräsident Rauschning mit Hitler tatsächlich geführt, aber eben auch selbst aufgeschrieben hat. In dem Kapitel über die Beherrschung der Massen durch Magie folgt Hitler – Rauschning zufolge – zunächst Spengler, wenn er sagt, dass es einen Begriff geben muss, der über dem der alten historischen Nationen steht, die Rasse. Aber dann setzt er fort: “Ich weiß natürlich so gut wie alle diese neunmal klugen Intellektuellen, dass es im wissenschaftlichen Sinn keine Rasse gibt. Aber Sie als Landwirt und Züchter kommen ohne den Begriff der Rasse zur Ordnung Ihrer Züchtungsergebnisse nicht aus. Und ich als Politiker brauche einen Begriff, der es erlaubt, die bisher auf geschichtlichen Zusammenhängen beruhende Ordnung aufzulösen und eine ganz neue antihistorische Ordnung zu erzwingen und gedanklich zu unterstützen.“[2]

Nur genauso wie wir alle wissen, dass es keine menschlichen Rassen gibt, dass der Begriff aus der Sphäre der domestizierten Tiere stammt, genauso gut wissen wir alle, dass es teils uralte Vorurteile gibt, die man nach Bedarf bedienen kann. Jeder kennt das Gerede über die Geldgier der Juden, die Betrügereien und die aufdringliche und angeblich überflüssige Bettelei der Zigeuner, die Unfähigkeit der Afrikaner, sie wird auch in Renaud Camus‘ Broschüre beschworen. Es kann nur rhetorische Absicht sein, wenn der Autor so tut, als würde der Leser nicht bemerken, dass Gleichheit und Gleichartigkeit nicht das gleiche sind. Wenn die Afrikaner deshalb ärmer sind als die Europäer, weil sie a priori ‚minderwertig‘ sind, wie erklärt die neue Rassenansicht dann die Armen und Obdachlosen französischer und deutscher Abkunft? Es gibt selbstverständlich Intelligenzunterschiede zwischen den Menschen, aber wir wissen nicht, ob sie nicht allesamt korrigierbar sind: wie viele Intelligente vergeuden ihre Intelligenz durch Drogen oder Mangel an Ehrgeiz und wie viele angeblich Unintelligente sehnen sich nach einem besseren Leben und finden es auch durch Bildung? Wer sich heute noch Afrikaner als analphabetische Skelette vorstellt, ist heillos veraltet.

Die Faszination, die die Quantität der menschlichen Fortpflanzung schon auf Hitler ausübte, pflanzt sich über Renaud Camus und andere auch auf die heutigen Rechtsextremen fort. Der Schlüssel zu weniger Kindern weltweit ist Wohlstand und Bildung. Allerdings gibt es immer Ausnahmen, wie zum Beispiel Israel, wo die höchsten Geburtenraten bei den ultraorthodoxen Juden und den Arabern liegt, der höchste Bevölkerungszuwachs aber durch die Aufnahme von 700.000 russischen Juden zu verzeichnen war. Die Bevölkerung Israels hat sich seit Gründung des Staates verzehnfacht. Israel hat nicht nur Wohlstand und ein hervorragendes Bildungssystem, sondern ist kraft seiner bloßen Existenz lebendiger Antirassismus.

Dagegen meint Renaud Camus unterscheiden zu müssen zwischen moralischem – nach seiner Meinung erlaubtem – Antirassismus und zu bekämpfendem dogmatischen Antirassismus. Der Leser, der hier einen bedenkenswerten Gedanken gefunden zu haben glaubt, sieht sich arg  – wenn nicht arglistig – getäuscht, wenn er schließlich erfährt, dass die Existenz von Rassen nur deshalb bezweifelt wird, weil es der Wissenschaft nicht gelang, sie zu definieren und dass es deshalb ‚einer gehörigen Portion Verachtung bedarf, um die Menschen als gleich anzusehen‘ [S. 117]

Und die dritte These schließlich ist die schädliche Massenmigration, gemeint ist aber die Immigration. Sie hat immer einen Verursacher, eine Einladung durch die Linken oder als Alibi für die Juden. In der Massenmigration vereinen sich alle drei Thesen: es gibt einen Macher, die Menschen sind ungleich, daher die Eingewanderten schädlich, und durch sie entsteht der größtmögliche Schaden für das aufnehmende Land. Hier ist sich Renaud Camus, der in einem Renaissanceschloss wohnt und auf einen gepflegten Stil achtet, nicht zu schade oder zu fein, seine Leser, normalerweise seine Gesinnungsgenossen, mit den übelsten Schilderungen zu bestätigen, falls sie auch an den vorprogrammierten Schaden der vorprogrammierten Migration glauben sollten.

IV

Die Pest von Renaud Camus ist der GROSSE AUSTAUSCH, den ein GROSSER, aber leider unbekannter ADMINISTRATOR zunächst am französischen, dann aber auch am deutschen und allen anderen europäischen Völkern vollzieht. Das Wort wird auf neunzig Seiten dreißigmal erwähnt, aber nirgendwo wird genau erklärt, was und wie da angeblich passiert. Der Leser wird immer wieder aufgefordert, ‚aufzuwachen‘ und seiner empirischen Wahrnehmung zu trauen. Es ist denkbar, dass ein naiver Leser, wenn er am Schluss der Broschüre angekommen ist, auch den GROSSEN AUSTAUSCH sieht. Vieles, was wir nicht verstehen, wäre mit dieser Vorstellung erklärbar. Evidenz und Faktizität ist für Renaud Camus übrigens das gleiche oder jedenfalls gleichwertig. Noch denkbarer ist es aber, dass den schon voreingenommenen Lesern ein Argumentationsmaterial an die Hand gegeben wurde. Sie zitieren das Büchlein so, als wäre es ein Tatsachenbericht. Immer wieder wird das natürliche Gefühl der Benachteiligung in den ruinösen Zustand umgegossen. Der vielleicht wirklich, aber vor allem eingebildete Benachteiligte glaubt natürlich lieber, dass die Regierung für seinen Nachteil verantwortlich ist und nicht sein eigenes Unvermögen. Renaud Camus knüpft geschickt an allgemein übliche Argumentationsreihen an. So wird von vielen die Vereinzelung in den modernen, überwiegend urbanen Gesellschaften beklagt. Bei R. Camus wird diese Individuation aber auf die zunehmend fremde Umgebung zurückgeführt. Diese Überfremdung führt einerseits zu der verhassten multikulturellen Gesellschaft, andererseits aber zur Herrschaft des Islamismus. Genauso wenig evident ist seine Doppelthese, dass der Islam – gemeint sind die islamischen Länder – ‚entwaffnet und abgemagert‘ ist, so dass es keinen Sturm auf Europa wie 1453 mehr geben könne, andererseits aber hat der Islam ‚seine Waffen keineswegs abgelegt‘ [S. 77]. Das bleibt ein Rätsel. Die Argumentation hatten auch schon die mittelalterlichen Päpste. Wir hingegen können uns fragen, ob der Eroberungsdrang der osmanischen Sultane, die tatsächlich auch Kalifen waren, nicht seinen Ursprung in dem normalen imperialistischen Trieb zur Vereinnahmung von Ressourcen, Erweiterung der Macht, Trotz und Machtdemonstration liegen. Das Osmanische Reich hat nicht nur Steuern eingetrieben, sondern auch jeden zehnten Knaben. Das ist ganz sicher grausam gewesen und wird heute nicht gebilligt und zur Nachahmung ausgeschrieben. Aber für viele dieser geraubten Knaben lag darin auch eine große Chance, von der auch die weinenden Mütter wussten. Immerhin sind der größte Baumeister des Osmanischen Reiches, Mimar Sinan, der Michelangelo des Orients, und der berühmteste und mächtigste Großwesir, Sokollu Mehmet Paşa, Sprosse der Devşirme, der Knabenlese, wie dieser teils wohltätige Raub hieß. Mehmet II., der Sultan, der tatsächlich Europa bedrohte, indem er Konstantinopel eroberte, wollte übrigens das Christentum mit dem Islam vereinigen, wofür die Hagia Sophia ein mächtiges, bis heute uneingelöstes Versprechen ist.

Ich will damit zweierlei sagen: hinter jedem hingeworfenen Schlagwort liegt eine manchmal verborgene, immer aber kollateral verästelte Geschichte und sollte nicht die Zeit gekommen sein, dass wir aus dem Bösen[3], das die Menschen sich seit jeher angetan haben, lernen sollten, auf dass es umkehrbar würde. Wenn wir eine funktionierende Universität in Düsseldorf haben, warum soll dann nicht der Wissenshungrige aus Senafe[4] in ihr studieren können?

Die Lehre aus den nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen kann nur sein, dass wir die Menschen nicht in Gruppen oder Qualitäten einsortieren sollten, weil das falsch ist und nicht, weil es keine Definition gibt. Den Unterschied zwischen Preis oder Wert und Würde hat schon der große Kant aus Königsberg erklärt. Die Gleichheit des Menschen liegt in seiner Würde, die auch nicht durch Einreise- und Ausreiseverbote geknickt werden kann. Einen Wert des Menschen kann es nicht geben, selbst nicht, wenn man es positiv meint und ausdrückt. Das Wort Wert impliziert immer den Preis, der der Würde entgegengesetzt ist.

Die perfideste Stelle der Broschüre [S. 70f.] ist denn auch die Behauptung, dass alle Sklaven immer freiwillig dem Ruf ihrer Sklavenhändler gefolgt sind, weil sie die angeblich höhere Kultur gelockt hat. Kann man wirklich so blind sein oder wirken wollen? Die höhere Kultur erschien den geraubten Menschen als blanke Willkür, als Brutalität, als Dämon und Mordmaschine, und das war sie auch, denn sie hat aus der Würde des Menschen, so wie spätere Diktaturen auch, einen Wert und Preis gemacht.

Wenn Rousseau schreibt, dass ein Sklave in gewisser Weise freiwillig seine Freiheit gegen seine Versorgung tauscht, dann meint er damit den hohen Rang der Selbstbestimmung gegenüber der Unterwerfung. Allerdings wusste Rousseau und wissen wir, dass die meisten Sklaven, wenn sie die Freiheit suchten, den Tod fanden.

Von Freiheit ist in diesem Büchlein keine Rede. Vielmehr will der Autor glauben machen, dass Gewalt und Verbrechen in modernen Gesellschaften zunähmen, was die Regierung mit gefälschten Statistiken kaschiere. Der Einwanderer, der gegen uns getauscht wird, gleicht aber Schrödingers Katze: er ist gleichzeitig dumm und minderwertig und uns strategisch weit überlegen, weshalb wir, die Höherwertigen, das nur mithilfe solcher Broschüren, für die es in Frankreich zurecht und zum Glück keinen Verlag gab, erkennen können.

 

 

 

 

[1] Renaud Camus, Revolte gegen den Großen Austausch, Verlag Antaios, 3. Auflage, Schnellroda 2019

[2] Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Europa Verlag Zürich, Nachdruck der Erstfassung von 1940 im selben Verlag, S. 218f.

[3] Das ‚Böse‘ gibt es natürlich nicht als Substanz, wohl aber als Attribut, als die Summe aller falschen Entscheidungen.

[4] kleine Stadt in Eritrea, Ostafrika

DIE PEST VON ALBERT CAMUS

 

Nr. 393

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve 1795

 

I

Vor einigen Tagen sagte in einer abendlichen Diskussion ein IT-Experte, ein bekennender Atheist, dass er hoffe, dass Gott das oder das richten werde. Scherzhaft wurde er von mir darauf hingewiesen, dass, selbst Allmacht und Allgegenwart vorausgesetzt, Gott niemals die oft widerstrebenden Wünsche oder Bitten von rund acht Milliarden Menschen erfüllen kann. Wir hatten schon früher darauf hingewiesen, dass sich Gott in dem Sinne schon rein arithmetisch ausschließt. Stattdessen aber, wenn alle diese kleinen Menschen danken würden, wenn sie ihr Leben als – wenn schon nicht glücklich – so doch erträglich oder gar zufriedenstellend empfänden, dann könnte der GROSSE ADMINISTRATOR aus den Summen der Zustimmungen alte Regularien bestätigen oder neue entwickeln. Das würde auch erklären, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Grad der Gläubigkeit und dem Glück oder Unglück gibt. Dann sind Katastrophen immer noch nicht ausschließbar, aber sie nehmen nicht zu, sondern ab, und das Gesamtsystem droht nicht wirklich zu kippen.

Der atheistische IT-Experte fragte mich dann, ob mir bewusst sei, dass ich soeben die Wirkungsweise natürlicher und künstlicher neuronaler Netze beschrieben hätte. Ich musste das leider verneinen, obwohl ich darauf verweisen konnte, dass ich seit langem von kumulativen und reflexiven, statt nur additiven Prozessen beim Lernen – und damit ist keinesfalls nur Schule gemeint – ausgegangen bin.

Wenn man so auch an die gegenwärtige ideologische und hygienische Gesamtkrise heranginge, könnte man besser verstehen, dass der Staat nicht allmächtig und allwissend und sein Handlungsspektrum mit trial and error besser beschrieben ist. Allerdings hat er durch seine Aufgeblähtheit auch genügend Expertise und durch seine über zweihundertjährige Existenz in dieser neuzeitlichen Form auch eine Unmenge an Erfahrungen, die vor allem auch als Recht codiert sind. Und darüber spannt sich – beinahe selbst verständlich – der riesige Schirm der allgemeinen Menschlichkeit als Übermoral ohne Moralapostel.

Die Meinung des einzelnen Menschen, die seit der Entdeckung der Individualität ebenfalls gefragt ist, erscheint wie ein Kanu in den Stromschnellen des Lebens. Der Staat dagegen, und das ist nicht die eine Führungsfigur, sondern die Unmenge an überbordender Bürokratie, der Staat ist wie ein riesiger Flugzeugträger, mächtig, aber nahezu unbeweglich. Auch in der Krise ist es durchaus möglich, dass einzelne Menschen, seien sie nun sachverständig oder nicht, Meinungen und Vorschläge haben. Dabei ist es nicht schwer, eine höhere Evidenz zu erreichen. Evidenz, Einsichtigkeit, ist eher von Rhetorik, Redekunst, abhängig als von Tatsachen, die ohnehin niemand genau kennt. Es können aber auch Vorschläge darunter sein, die besser auf die Situation zu reagieren imstande wären. Nur, wenn man diesem – also jedem – Vorschlag folgte, läge die Rettung in einem Chaos sich widersprechender Aktionen. Der Staat ist durch die Krise zur Spontaneität gezwungen, zu der er nicht fähig sein kann.

Deshalb setzt er übergroße Geld- und Gütermengen als Vorsorge ein. Auch in der Expertise muss er sich rechtzeitig auf ein selbstgeschaffenes Monopol verlassen, was ein Widerspruch in sich selbst ist. Während es im Gesamtsystem immer Alternativen gibt, muss in der Krise zeitweilig eine Meinung monopolisiert werden, ohne den kritischen Blick ganz zu verlassen.

Immer aber gilt: nach dem Spiel kommen die Spielverderber und nach der Katastrophe die Besserwisser.

Der Staat, mag man ihn nun schätzen oder nicht oder sogar an ihn als den neuen GROSSEN ADMINISTRATOR glauben, kann nicht anders – ganz wie in einem künstlichen neuronalen Netz – als die bestätigenden Hinweise möglichst vollständig zu sammeln und immer wieder, aber so mittelfristig wie möglich*, zu entscheiden, ob die angelaufenen Aktionen noch sinnvoll sind oder nicht. Der Staat muss handeln, selbst wenn seine Aktivität als Aktionismus wahrgenommen würde. Die Revolte gegen ihn wäre nur eine Revolte gegen sein Nichtstun.

Die gegenwärtige, durch die Pandemie einer neuen Viruskrankheit ausgelöste, Krise, die von Politikern mit der Herausforderung durch den zweiten Weltkrieg verglichen wird, zeigt uns dagegen unmissverständlich, dass es keinen GROSSEN ADMINISTRATOR gibt. Alle Handlungen von Menschen, ob sie nun im Kanu in einer norwegischen oder bosnischen Stromschnelle oder im Flugzeugträger im Persischen Golf sitzen, sind fehlbar. Niemand ist ‚to big to fail‘, auch nicht die Automobilindustrie oder die Finanzwirtschaft als Ansammlungen von Menschen, und schon gar nicht der Staat. Diese Krise zeigt die Fehlbarkeit unseres Assekuranzdenkens. Darunter verstehen wir die Hinnahme großer Nachteile durch die Versicherung des Überlebens: wir überdüngen den Boden, um nie mehr zu hungern, und schließen dann trotzdem eine Sterbegeldversicherung ab, damit unsere Hinterbliebenen nicht für etwas bezahlen müssen, das sie nicht verschuldet haben, und wir neiden und verbeißen jedem den Zutritt zu unserm Versicherungs- und Adipositasparadies. Dieses Assekuranzdenken führt auch dazu, dass Menschen, die angesichts der Krise in archaische und atavistische Ängste verfallen und hamstern, sich nicht nur des Inputs (Nudeln) versichern wollen, sondern auch des Outputs (Toilettenpapier).

II

Wie ein Skript zu dieser unsere Welt in den Grundfesten erschütternden Krise liest sich der 1948 erschienene Roman von Albert Camus, in dem er eine Pestepidemie in der sowohl realen als auch fiktiven Stadt Oran beschreibt. Es ist eine Grundkonstante im Werk von Albert Camus, die Welt als absurd anzusehen, gegen die nur Diagnose durch die Kunst als einzige Therapie gesetzt ist. Die heutige Welt erscheint in vielen Elementen als die Verwirklichung der Romantik mit ihrer Forderung nach Poetisierung, was wir heute als Kunst allgemein bezeichnen und in fast inflationärer Weise produzieren und konsumieren. Es gibt keinen Automobilkatalog, der nicht hochkünstlerisch gestaltet und formuliert wäre. Und der Roman ‚Die Pest‘ ist selbst ein hervorragendes Beispiel für die Rolle der Kunst als Diagnostikerin. Der Erzählstil von Albert Camus ähnelt manchmal dem seines Zeitgenossen Ivo Andric in ‚Die Brücke über die Drina‘, das kann an der Übersetzung liegen, aber auch daran, dass beide einen überschaubaren Ort gewählt haben, an dem sie sowohl ihre Geschichte erzählen als auch ihre Philosophie entwickeln. Auch die heute nicht mehr so übliche Autorsprache stützt die Ähnlichkeit.

Das fiktive Oran im Roman war eine Stadt von nicht ganz 200.000 Einwohnern, also nach heutigen Maßstäben eher klein. Das Leben wird als bürgerlich und durchaus modern dargestellt. Es geht nicht um ethnische Konflikte, im Gegenteil, unser Mottosatz von Beethoven, obwohl der erst im Jahr 2000 in einem einst verschollenen Brief entdeckt wurde, kommt vor, was zeigt, dass er Allgemeingut einer menschlichen Menschheit ist. Der Arzt, aus dessen Sicht die Pestepidemie gezeigt wird und der sich dann auch selbst als der Erzähler outet, sagt in einer äußerst interessanten Diskussion von zwei Protagonisten: „…aber wissen Sie, ich empfinde mehr Solidarität mit den Besiegten als mit den Heiligen. Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.“** Auch unser eritreischer Rapper FILIMON, jetzt in Deutschland, weiß: „Mensch ist Mensch und Papier ist Papier.“

Die relative Abgeschlossenheit der Stadt – Stadttore, Mauern – ermöglicht ihre schnelle Isolation. Genau wie heute wird der Schrecken der rasanten Entvölkerung durch eine „unendliche geometrische Progression“ (S. 60) der Infektion an die Wand gemalt. Und genau wie heute muss sich der leitende Arzt gegen den Vorwurf der Schwarzmalerei zur Wehr setzen. Er gibt die höchst aktuelle Antwort: „Es handelt sich darum, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.“

Im Gegensatz zu unserem fast anonymen Virus, das aus der Fledermaus oder dem Schuppentier entsprang, wählte Albert Camus für seine Parabel die seit der Antike bekannte und gefürchtete Pest, deren Erreger aber erst im zwanzigsten Jahrhundert als vom Rattenfloh entflohenes Bakterium erkannt wurde. Die Pest kommt aus dem Orient, das Wort, was allgemein Seuche bedeutet, aus Rom. Immer schon wurde die Pest mit Schuld und Schuldigen verbunden. Auch im zurecht berühmten Roman spielen Denunziation und Ordnungspolizei eine große Rolle. Die Heimsuchungen der Menschen sind eben nicht nur Natur-, sondern auch Mentalkatastrophen. Denunziation ist immer auch Distanzierung, weshalb – in der Umkehr gedacht – social distancing ein durchaus unredlicher Gedanke ist.

Im Haus des Arztes liegen die ersten toten Ratten, und der alte Concierge, der sie beseitigt, ist das erste Opfer.

Nicht das zweite Opfer, inzwischen ist die Krankheit voll ausgebrochen und die Toten werden mit der Straßenbahn in Massengräber befördert – ganz ähnlich wie die Militärlastwagenkolonnen im heutigen Bergamo -, aber ein weiteres prominentes Opfer ist der zunächst fundamentalistische Priester Paneloux. Zwei seiner Predigten umschließen den Roman wie eine philosophische Klammer, die aber unfähig ist. In der ersten Predigt wettert er gegen die Schuld der Welt und seiner Mitbürger, exkludiert sich fein säuberlich aus der Sünde kraft seiner Soutane und kraft seiner Redeposition. Aber die Kraft seiner Rede ist schon längst verblasst. Nach langem Widerstreben reiht er sich endlich bei den Helfern ein und muss mitansehen, wie das Kind des Untersuchungsrichters qualvoll, noch verlängert durch ein neuartiges Medikament, stirbt. Das ist zum Glück keine Tatsache, sondern eine der besten Todesszenen der Weltliteratur. Sie bringt den Priester zu einer zweiten, versöhnlicheren Predigt, in der er die Theodizee angesichts des unschuldigen Kindes zu erklären versucht, und er steigert sich trotzdem zu der falschen Annahme, dass der Priester des Arztes nicht bedarf. Er stirbt wie sein Herr, in dem ihn die – vorher vom ihm selbst verprellten – Helfer durch Einschlafen verlassen. Passend zum kommenden Freitag: Könnt ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?*** Der Priester stirbt ohne medizinische Hilfe, die er ablehnt, und der Leser glaubt einen Moment an Strafe. Und es zeigt sich, dass der einzige GROSSE ADMINISTRATOR der Künstler ist, der uns einen Roman zu lesen, sein Bild oder seinen Film zu sehen, seine neunte Sinfonie oder seinen Rap zu hören und seinen Tanz oder sein Haus zu erleben gibt. Man kann die Welt nur modellieren, nicht wirklich schaffen, vielleicht – und das zeigt sich in der Krise, in der Pest – noch nicht einmal wirksam verändern. Wir bleiben Teil der Natur – DENN WIR ESSEN SCHUPPENTIERE – und wir bleiben Schafe, insofern wir uns Hirten unterstellen und in Herden einreihen.

Ein kleiner Hilfsbeamter der Stadtverwaltung, Grand, hat ebenfalls große Schwierigkeiten, sich in die Hilfeleistungen zu involvieren. Er ist, wie er glaubt, nicht nur ungeheuer wichtig für die Stadt, sondern auch berufen, einen ganz großen Roman zu schreiben. Allerdings füllt er viele Seiten mit immer neuen Varianten des sich aber trotzdem immer gleichbleibenden nichtssagenden ersten Satzes. Aber gerade er, der ebenfalls an der Pest erkrankt, ist berufen, aufzuerstehen, gesund zu werden, die Pest zu überwinden und das Symbol des Endes der Epidemie zu werden.

Alle Figuren des Romans konzentrieren sich um den erzählenden Rieux, dessen Frau schwer erkrankt in einem Kurort verweilt, dessen Mutter stattdessen ihm den Haushalt führt und die Emotionen ordnet, alle Handlungsstränge ranken sich um diesen Arzt. Die ganze Zeit versucht er, der Krise einen Sinn abzugewinnen. Er überzeugt den Priester Paneloux, schließlich sogar den widersetzlichen Journalisten Rambert, der zu seiner Frau nach Paris zurück will, den Politiker Tarrou, der gerne ein Heiliger ohne Gott wäre, davon, dass der einzige Sinn der Krise und des Lebens überhaupt, die tätige Empathie, mithin die Liebe ist. Empathie mag ein Modewort sein, aber es ist es deshalb, weil wir unter unserer selbstgeschaffenen Assekuranzwelt wie in einem Käfig leiden. Uns sind die Hände vor lauter Sicherheitswahn gebunden. Je goldener unser Käfig wird, desto verachtungsvoller wollen wir ihn verwerfen. Aber er klebt wie Pech und Schwefel an unseren Händen. Das Wort Pech stammt keineswegs aus dem Märchen von den beiden symbolischen Marien, sondern aus der Verteidigung der Burgen, von wo aus es auf die Angreifer geschüttet wurde.

Der Leser weiß die ganze Zeit, die er verbraucht, um den Roman zu lesen, dass es sich um eine Fiktion handelt. Und trotzdem gelingt es dem großen Autor, die Fiktion als einen Tatsachenbericht erscheinen zu lassen. Dadurch hat er die Kraft, nicht nur als Parabel, sondern auch als Parallele gelesen werden zu können.

Den Zeitgenossen von Albert Camus erschien das Buch wie eine Parabel auf die Resistance, die in einem abgeschlossenen Raum gegen die Infektion des Zeitgeistes und der Denunziation operieren musste, ohne zu wissen, ob das Ziel realistisch, die Operation sinnvoll, der Tausch Freiheit gegen Leben machbar ist. Der Erfolg ist nie vorprogrammiert, und zu scheitern ist eben kein Pech. So gesehen ist die Pest nur die Metapher für das normale Leben: wir wissen nicht, ob und wie wir überleben.

Wenn wir aus dem Buch lesen, dass es keinen GROSSEN ADMINISTRATOR gibt, dann kann uns das versöhnlich gegen die Fehler unserer Zeitgenossen, seien sie Politiker, Virologen oder Romanschreiber, und gegen unsere eigenen Fehler stimmen. Und gegen den Verlauf des Lebens kann man sich nur insofern stemmen, indem man anderen hilft. Albert Camus hatte ein, aus heutiger Sicht, etwas eigenartiges Weltbild, das er mit Anarchosyndikalismus bezeichnete, was heute schon niemand mehr versteht, aber aus dem wir lernen können, dass regional verankerte Genossenschaften oft besser sind als global vernetzte Konzerne. Das Wort Genossenschaft ist durch die vielen Genossen (‚Völker hört die Signale, auf zum letzten Gefecht‘, ‚Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt‘), die es gab, in Verruf geraten. Aber der Name ist Schall und Rauch: Genosse, Gefährte, Schwester, Bruder, Mitmensch, Mensch.

 

 

 

*in the long run we are all dead, Lord Keynes

**S. 290, rororo, 89. Auflage, 1997

***Matthäus 26,40

 

LIES AM NÄCHSTEN SONNTAG: DIE PEST VON RENAUD CAMUS