SCHULD UND SÜHNE

Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird?

Beethoven an Struve, 1795

 

Nr. 395

Der Kollateralschaden der Demokratie ist der Zweifel. In den vordemokratischen Zeitaltern war die Erziehung durch Zweifel und zum Zweifel die Voraussetzung zur Weiterentwicklung, zur Fortentwicklung aus dumpfen Sklaven- und Feudalverhältnissen. Alle autoritären Gesellschaftsmodelle setzen auf Loyalität, alle Solidarmodelle gehen vom Konsens aus. Aber beides ist falsch.

Sobald der Diktator kippt oder auch nur wackelt, schlägt die vermeintliche Treue in Schadenfreude um. Die Ratten waren alle nur Opportunisten. Sie hoffen auf einen neuen Herrn, selten eine Herrin. Und dieses seltsame Wort gibt uns wieder Gelegenheit, über das Gegenteil des Gegenteils nachzudenken und zu der Erkenntnis zu kommen, dass jede Medaille tausend Seiten hat, so viele wie ein guter Roman. Das Gegenteil eines Herren ist eine Dame, sie ist sein Komplement, aber wenn sie nicht untergeordnet sein will oder soll, muss sie den weiblichen Titel, der im Patriarchat nichts gilt, ablegen. Sie wird zur Herrin und gibt damit zu, dass Herr eben doch mehr ist als Frau. So geht es vielen Politikerinnen. Auch Merkel hatte lange diesen Hang zur übergestülpten Männlichkeit. Es waren ihre Jäckchen, die sie zur etwas lächerlichen Herrin machten. Mit dem Titel ‚Mutti‘, den ein bösartiger Journalist ihr gab, war nicht gemeint, dass sie die Mutter der Nation als Pendent zum Vater der Nation, dem Gebieter des Vaterlandes, sei, sondern es war ihre Piefigkeit gemeint. ‚Mutti‘ ist ein Kinderwort, so wie ‚Opa‘. Nachdem sie nun auch die dritte Krise gemeistert (schon wieder ein Herr) hat, bleibt den meisten Kritikern die Kritik im Halse stecken. Und übrigens: gegen solchen Spott wehren sich Autokraten durch Blasphemie-Paragrafen.

Solidarität ist das Lebenselixier allen menschlichen Seins. Aber sie wurde in den letzten fünftausend Jahren teilweise durch eine Staatsfürsorge substituiert. Und das daraus notwendig resultierende Staatsversagen führte zu dem Wunsch nach Demokratie und schließlich zur Demokratie.

Die Geschichte von David und Goliath ist die Grunderzählung des Staatversagens. Der König kassiert Steuern und gibt sie sicher ungerecht für sich und sein Volk aus. Zur Fürsorge gehörte damals auch der Krieg um die besten Weideplätze und der Feind wurde durch die eigene Propaganda als ein seelenloses, aber doch irgendwie unbesiegbares Monster dargestellt. Und nun kommt der kleine David, sechzehn Jahre alt, der seinen großen Brüdern den Proviant für die Schlacht bringen soll. Er kommt gerade rechtzeitig, um die Frage des Königs nach einem Freiwilligen, übrigens eine typische Militärfrage, vorlaut beantworten zu können. Meist wird der Ausgang der Geschichte so interpretiert, dass Macht zu Ohnmacht wird, wenn auf der anderen Seite Verstand eingesetzt wird.

Es ist aber zunächst die Geschichte des ohnmächtigen Königs, des Staatsversagens also. Und immer, wenn der Staat am Versagen ist, fragt er nach Freiwilligen zur Rettung. In der Suche nach Freiwilligen liegt aber ein vordemokratisches Element. Durch eine Rettungstat kann sich jemand von ganz unten, David war ein Hilfshirt und das jüngste Kind, in die Elite katapultieren. Der König muss ihm dann, um die Beförderung zu legitimieren, seine Tochter zur Frau geben.

Dieses vordemokratische Element der Auswahl führt zur allmählichen Zerstörung der Vorstellung von der Natur und der Natürlichkeit der Hierarchie. Wie kann, fragt man sich tausend Jahre später und tausend Beispiele weiter, die Hierarchie göttlich und naturgegeben sein, wenn sie durch ein einfaches Katapult – mit dem David das Monster Goliath exekutierte – außer Kraft gesetzt wird?

Der Goliath des stotternden und hyperventilierenden Davids Edison waren die Dunkelheit und die Einmaligkeit. Er erfand die Glühbirne als automatisierte Kerze und den Phonographen als Wiederholer bis dahin einmaliger Kunstereignisse. Der Adel des Geldes, zu dem er dann – im Gegensatz zu seinem erfolgloseren Konkurrenten Nikola Tesla – gehörte, war längst als Alternative zur Geburtselite akzeptiert.

Das ganze neunzehnte Jahrhundert über kämpfte das demokratische gegen das autoritäre Prinzip, gleichzeitig die Globalisierung gegen das Nationalstaatssystem. Globalisierung ist im Gegensatz zum Nationalismus keine Ideologie, sondern eine Methode, eine Möglichkeit des Marktes. Beide fanden im Kolonialismus ein zeitlich begrenztes gemeinsames Dach. Der Vietnam- und der Algerienkrieg sind so gesehen Triumphe über den Kolonialismus und für die Demokratie.

Es ist kein Wunder, dass der rechte, recht unbekannte Theoretiker Renaud Camus, den wir am vorigen Sonntag vorgestellt haben, den Algerienkrieg und seine Folgen für Frankreich traumatisch erlebt hat und dem Verlust durchaus rachsüchtig nachtrauert, während der weltberühmte Großautor Albert Camus, dessen Mutter Analphabetin war, aus Algerien stammt – ohne Araber oder Berber zu sein – und wie David und wie Edison höchst erfolgreich für den Verstand und das Licht votierte.

In der Anfangsphase der Demokratie, in der wir uns jetzt befinden, leben die Menschen mit ihren eingelernten Zweifeln, die sie den Sturz der angeblich felsenfesten Autoritäten lehrten, fort. Sie vermuten hinter jeder gewählten Persönlichkeit Korruption und Allmachtsfantasien. Andererseits verlangen sie aber auch Allwissen und Allmacht. Einerseits fragen viele Bürger, wie jemand Gesundheitsminister sein kann, ohne Arzt zu sein. Andererseits vermuten sie aber, wenn ein Arzt Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation ist, Dr. Tedros Adhanom Gebreyesus, dass er gerade deswegen korrupt sein muss. Andere glauben sogar, dass er eine Marionette von Bill Gates sei. Bill Gates seinerseits aber wird als neuer Weltgesundheitsdiktator beschimpft. Wir erinnern uns: er hat große Teile seines – allerdings unermesslich und unvorstellbar  großen – Vermögens für die Bekämpfung von AIDS gestiftet. Sie setzen also Zweifel, die früher nicht nur berechtigt, sondern notwendig waren, für die Bekämpfung derjenigen Gesellschaft ein,  die für ihre Ahnen das Ziel war: ‚die Gedanken sind frei‘ – so sangen heimlich die ersten Demokraten Deutschlands in den Kerkern ihrer Staatsversager. Und heute bemerken sie nicht, dass sie wählen und zweifeln und ihre abstruse Meinung hinausposaunen können, ohne dass sie von jemandem gehindert würden.

Es ist das Paradox der Diktatur, dass sie von Treue lebt und immer in Verrat und Attentat endet. Es ist das Paradox der Demokratie, dass sie von der Solidarität lebt, die gleichzeitig ihr letztes Ziel ist, und dass sie aber von denjenigen, die der Autorität nachtrauern, missbraucht und mit sozusagen demokratischen Möglichkeiten bekämpft wird. Schon Goebbels hat das mit großer Schadenfreude verkündet, aber wo ist er geblieben? Seine heutigen Bewunderer, die sich auch so gerne mit ihm vergleichen lassen, sollten bedenken, dass er – nachdem er seinen Krieg verloren hatte und Deutschland in Schutt und Asche gelegt war –  erst seine sechs Kinder ermordete, dann seine Frau, die in Wirklichkeit Hitler liebte, weswegen er eine tschechische Filmschauspielerin liebte, und schließlich sich selbst erschoss. Manchmal enden die Monster von selbst und benötigen keinen David.

Wir haben auf den bisherigen 1000 Seiten (wirklich!) immer die Hierarchie, also die angeblich natürliche, tatsächlich aber immer zeitweilige oder konstruierte Rangfolge der Menschen als Verursacherprinzip der Ungleichheit (besser: Ungleichartigkeit) dargestellt: Rassismus, Klassismus oder Sexismus, auch die Religionen schließen sich gerne gegenseitig aus statt ein. Nur kein Synkretismus, rufen ihre alle ein wenig fundamentalistisch angehauchten Würdenträger. Dabei ist alle Kultur synkretisch, zusammengewürfelt, ineinander verschachtelt, kollateral verästelt. Es gibt neben Israel nur ein einziges Gebiet, das die jüdische Religion im Namen führt: die Jüdische Autonome Oblast Birobidshan, von Stalin aus antisemitischen Gründen gegründet, aber zeitweilig doch von vielen Juden angenommen. Jetzt aber ist nur ein Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens und es gibt nur eine Synagoge, und in der beten die wenigen Menschen den berühmtesten und größten Juden aller Zeiten an: Yesus. Wir haben gerade Ostern gefeiert, aber statt an die Auferstehung eben jenes Yesus zu denken, dachten wir an den Frühling und die Fruchtbarkeit und färbten Eier als deren Symbol, wie die Slawen taten, die vor uns hier gelebt haben und andere Götter hatten als wir.

Vielleicht ist auch die Hierarchie auf eine noch ältere Grundstruktur zurückzuführen: auf die Anmaßung des Richtens, die Erkennung einer Schuld und die Verhängung einer Sühne. Es gibt einen Hadith*, der besagt, dass ich, statt meinen Bruder oder meine Schwester einer Untat zu bezichtigen, siebzig Entschuldigungsgründe suchen soll, die für sie sprechen, die Gründe für die Tat sein könnten, die allgemein akzeptiert würden, und dass ich dann aber sagen soll: vielleicht gibt es einen weiteren Grund, den ich nicht gefunden habe. Und obwohl die moderne Rechtsprechung, das von Anselm Ritter von Feuerbach begründete positive Recht etwa so vorgehen, die Tat untersuchen, den Täter in seiner Würde als Mensch und mögliches Opfer vorangegangener Untaten anderer – zum Beispiel seiner Eltern oder des Staatsversagens – anerkennen,  obwohl also die gesamte nördliche Welt diesem Hadith folgt, ohne ihn jedoch explizit zu erwähnen, ohne ihn aber auch ausdrücklich zu verwerfen,  verbleiben große Teile des Südens und der Anhänger der Autoritäten mindestens in der Vorstellung harter Sühne, wenn nicht sogar in Rache.

Demokratie geht im Gegenteil davon aus, dass sich der Täter selbst seiner Würde beraubt hat, die ihm nun durch das, was wir Resozialisierung nennen, schrittweise wiedergegeben werden kann. Wahre und vollkommene Demokratie immunisiert gegen Untaten. Das ist es. Sie bedarf nicht der Schuldfeststellung und der Sühne, sondern der Verbesserung. Wir erinnern an einen unserer schönen Sätze: WENN JEDER DIE SCHULD BEI SICH SUCHT, IST DER TÄTER SCHNELL GEFUNDEN.** Das wird das Zeitalter sein, wo es nur Menschen geben wird. Zur Feierstunde der Schließung des letzten Gefängnisses wird der pensionierte Gefängnisdirektor, das letzte Opfer von Schuld und Sühne, die Waldsteinsonate von Beethoven spielen. Das ist eine Vision, sicher, aber zu fliegen war auch eine Vision, wie auch Licht und Geschwindigkeit und Reproduktion und weltweiter Alphabetismus.

 

 

*überlieferte Weisheit des Propheten Mohammed, diese geht möglicherweise auf Al-Buchari zurück

**oder: NICHT DER GEGENWIND IST SCHULD, SONDERN UNSRE UNGEDULD.

 

DIE PEST VON RENAUD CAMUS

 

Nr. 394

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

Beethoven an Struve 1795

 

III

Wenn man Rechte oder Rechtsextreme fragt, warum sie eigentlich ihre eigenen Theoretiker nicht lesen, erhält man selten eine Antwort. Rechte Lektüre ist auch nicht spektakulär, vielleicht ist Oswald Spengler mit seinem Jahrhundertwerk ‚Der Untergang des Abendlandes‘ nach wie vor der lesbarste: ‚Der Einzelne leistet Verzicht, indem er die Bücher weglegt.‘ [S. 548] ‚Die Rasse beherrscht und formt das gesamte Begreifen.‘ [S. 893] Das sind Sätze, wie aus Stein gehauen, aber austauschbar. Genauso ist schon vorausgesagt worden, dass die Klasse das Begreifen bestimme oder Frauen nichts verstünden, weil sie nichts verstehen können, dass Afrikaner als Sklaven geboren würden und dass es bald keine Bücher mehr gäbe. Stattdessen gibt es mehr bedrucktes Papier als in allen vorigen Zeitaltern zusammen. Oswald Spengler befand sich im besten Verein mit den Zeugen Jehovas, die sogar das Datum des Untergangs der Welt, nicht nur des christlichen Abendlandes, wussten. Zu unserem Glück ist das alles nicht eingetreten. Den einfachen Grund dafür kennen wir alle: man kann die Geschichte weder vorwärts noch rückwärts wissen, auch dann nicht, wenn man sich göttlich erleuchtet glaubt oder durch seine angebliche Rasse oder Nation bevorzugt ist.

Das rechte Gedankengebäude hat überhaupt nur etwa die Größe einer damals so genannten Wandzeitung im Ostblock: übersichtlich, ein paar vielsagende Bilder, zwei, drei Losungen, schnell zusammengeschustert. Diese Wandzeitung hat nur drei Hauptthesen:

Erstens gibt es einen GROSSEN ADMINISTRATOR, eine Gruppe, einen Führer, eine Elite, eine Religion oder Kultur, die nicht nur die Masse führt, sondern die Ereignisse macht, weshalb sie auch immer eindeutig erklärbar sind. Obwohl die Regierungen und die Mächtigen dieser Welt entweder unfähig oder gekauft sind, machen sie ganz ausdrücklich jedes Ereignis. Niemals dürfen sie auf dieser Wandzeitung überrascht, überfahren oder überfordert sein. Und noch mehr: die Mächtigen dieser Welt gebieten über ein riesiges Heer von Medienknechten, die ‚das Reich des Falschen und der Fälschungen‘ [S. 104][1] am Laufen halten.

Erstaunlicherweise gilt dieses Macherprinzip auch für die nichtelitären Schichten: sie sagen etwas und dann machen sie es ungehindert auch genauso. Zitiert wird der Lehrer einer Pariser Berufsschule, dessen überwiegend maghrebinischen und schwarzafrikanischen Schüler nicht glauben können, dass sie Franzosen sind, die aber glauben, dass sie eines Tages Frankreich übernehmen werden. Auch in Berliner Berufsschulen sitzen Jugendliche in sogenannten berufsqualifizierenden Lehrgängen, die BMWs malen oder in ihren Smartphones aufheulen lassen, die sie, wenn sie so weiter machen, nie besitzen werden. Das hat mit der Herkunft nicht viel zu tun. Andererseits ist der Traum vom Mercedes für viele Migranten die Triebkraft fleißiger und meist selbstständiger Arbeit, ohne die heute weder Frankreich noch Deutschland denkbar wären.

Die Triebkraft des Widerstands gegen die Regierenden dagegen sind der Ruin und die Versklavung, in die die Regierungen ihre Völker führen. Interessanterweise werden nicht nur die politischen Mittel in der Vergangenheit gesucht, am Schluss von Renaud Camus‘ Broschüre befindet sich ein 10-Punkte-Fahrplan in die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft des verhassten Systems, das man bekämpfen will.

Die zweite These besagt, dass die Menschen von Natur aus nicht nur ungleich sind, sondern in Ränge geteilt: ein Brite ist kraft seiner Zugehörigkeit zum britischen Empire mehr wert als ein Moldawier. Wir wissen weder, ob Hitler noch ob Renaud Camus und seine geistige Gefolgsmannschaft – denn er scheint weit einflussreicher als Kubitschek – die Sache mit den Rassen ernst meinen oder auch nur meinen können. In dem Sinne, dass natürlich alle Quellen zweifelhaft sind, zitieren wir einmal mehr aus den Gesprächen, die der Danziger Senatspräsident Rauschning mit Hitler tatsächlich geführt, aber eben auch selbst aufgeschrieben hat. In dem Kapitel über die Beherrschung der Massen durch Magie folgt Hitler – Rauschning zufolge – zunächst Spengler, wenn er sagt, dass es einen Begriff geben muss, der über dem der alten historischen Nationen steht, die Rasse. Aber dann setzt er fort: “Ich weiß natürlich so gut wie alle diese neunmal klugen Intellektuellen, dass es im wissenschaftlichen Sinn keine Rasse gibt. Aber Sie als Landwirt und Züchter kommen ohne den Begriff der Rasse zur Ordnung Ihrer Züchtungsergebnisse nicht aus. Und ich als Politiker brauche einen Begriff, der es erlaubt, die bisher auf geschichtlichen Zusammenhängen beruhende Ordnung aufzulösen und eine ganz neue antihistorische Ordnung zu erzwingen und gedanklich zu unterstützen.“[2]

Nur genauso wie wir alle wissen, dass es keine menschlichen Rassen gibt, dass der Begriff aus der Sphäre der domestizierten Tiere stammt, genauso gut wissen wir alle, dass es teils uralte Vorurteile gibt, die man nach Bedarf bedienen kann. Jeder kennt das Gerede über die Geldgier der Juden, die Betrügereien und die aufdringliche und angeblich überflüssige Bettelei der Zigeuner, die Unfähigkeit der Afrikaner, sie wird auch in Renaud Camus‘ Broschüre beschworen. Es kann nur rhetorische Absicht sein, wenn der Autor so tut, als würde der Leser nicht bemerken, dass Gleichheit und Gleichartigkeit nicht das gleiche sind. Wenn die Afrikaner deshalb ärmer sind als die Europäer, weil sie a priori ‚minderwertig‘ sind, wie erklärt die neue Rassenansicht dann die Armen und Obdachlosen französischer und deutscher Abkunft? Es gibt selbstverständlich Intelligenzunterschiede zwischen den Menschen, aber wir wissen nicht, ob sie nicht allesamt korrigierbar sind: wie viele Intelligente vergeuden ihre Intelligenz durch Drogen oder Mangel an Ehrgeiz und wie viele angeblich Unintelligente sehnen sich nach einem besseren Leben und finden es auch durch Bildung? Wer sich heute noch Afrikaner als analphabetische Skelette vorstellt, ist heillos veraltet.

Die Faszination, die die Quantität der menschlichen Fortpflanzung schon auf Hitler ausübte, pflanzt sich über Renaud Camus und andere auch auf die heutigen Rechtsextremen fort. Der Schlüssel zu weniger Kindern weltweit ist Wohlstand und Bildung. Allerdings gibt es immer Ausnahmen, wie zum Beispiel Israel, wo die höchsten Geburtenraten bei den ultraorthodoxen Juden und den Arabern liegt, der höchste Bevölkerungszuwachs aber durch die Aufnahme von 700.000 russischen Juden zu verzeichnen war. Die Bevölkerung Israels hat sich seit Gründung des Staates verzehnfacht. Israel hat nicht nur Wohlstand und ein hervorragendes Bildungssystem, sondern ist kraft seiner bloßen Existenz lebendiger Antirassismus.

Dagegen meint Renaud Camus unterscheiden zu müssen zwischen moralischem – nach seiner Meinung erlaubtem – Antirassismus und zu bekämpfendem dogmatischen Antirassismus. Der Leser, der hier einen bedenkenswerten Gedanken gefunden zu haben glaubt, sieht sich arg  – wenn nicht arglistig – getäuscht, wenn er schließlich erfährt, dass die Existenz von Rassen nur deshalb bezweifelt wird, weil es der Wissenschaft nicht gelang, sie zu definieren und dass es deshalb ‚einer gehörigen Portion Verachtung bedarf, um die Menschen als gleich anzusehen‘ [S. 117]

Und die dritte These schließlich ist die schädliche Massenmigration, gemeint ist aber die Immigration. Sie hat immer einen Verursacher, eine Einladung durch die Linken oder als Alibi für die Juden. In der Massenmigration vereinen sich alle drei Thesen: es gibt einen Macher, die Menschen sind ungleich, daher die Eingewanderten schädlich, und durch sie entsteht der größtmögliche Schaden für das aufnehmende Land. Hier ist sich Renaud Camus, der in einem Renaissanceschloss wohnt und auf einen gepflegten Stil achtet, nicht zu schade oder zu fein, seine Leser, normalerweise seine Gesinnungsgenossen, mit den übelsten Schilderungen zu bestätigen, falls sie auch an den vorprogrammierten Schaden der vorprogrammierten Migration glauben sollten.

IV

Die Pest von Renaud Camus ist der GROSSE AUSTAUSCH, den ein GROSSER, aber leider unbekannter ADMINISTRATOR zunächst am französischen, dann aber auch am deutschen und allen anderen europäischen Völkern vollzieht. Das Wort wird auf neunzig Seiten dreißigmal erwähnt, aber nirgendwo wird genau erklärt, was und wie da angeblich passiert. Der Leser wird immer wieder aufgefordert, ‚aufzuwachen‘ und seiner empirischen Wahrnehmung zu trauen. Es ist denkbar, dass ein naiver Leser, wenn er am Schluss der Broschüre angekommen ist, auch den GROSSEN AUSTAUSCH sieht. Vieles, was wir nicht verstehen, wäre mit dieser Vorstellung erklärbar. Evidenz und Faktizität ist für Renaud Camus übrigens das gleiche oder jedenfalls gleichwertig. Noch denkbarer ist es aber, dass den schon voreingenommenen Lesern ein Argumentationsmaterial an die Hand gegeben wurde. Sie zitieren das Büchlein so, als wäre es ein Tatsachenbericht. Immer wieder wird das natürliche Gefühl der Benachteiligung in den ruinösen Zustand umgegossen. Der vielleicht wirklich, aber vor allem eingebildete Benachteiligte glaubt natürlich lieber, dass die Regierung für seinen Nachteil verantwortlich ist und nicht sein eigenes Unvermögen. Renaud Camus knüpft geschickt an allgemein übliche Argumentationsreihen an. So wird von vielen die Vereinzelung in den modernen, überwiegend urbanen Gesellschaften beklagt. Bei R. Camus wird diese Individuation aber auf die zunehmend fremde Umgebung zurückgeführt. Diese Überfremdung führt einerseits zu der verhassten multikulturellen Gesellschaft, andererseits aber zur Herrschaft des Islamismus. Genauso wenig evident ist seine Doppelthese, dass der Islam – gemeint sind die islamischen Länder – ‚entwaffnet und abgemagert‘ ist, so dass es keinen Sturm auf Europa wie 1453 mehr geben könne, andererseits aber hat der Islam ‚seine Waffen keineswegs abgelegt‘ [S. 77]. Das bleibt ein Rätsel. Die Argumentation hatten auch schon die mittelalterlichen Päpste. Wir hingegen können uns fragen, ob der Eroberungsdrang der osmanischen Sultane, die tatsächlich auch Kalifen waren, nicht seinen Ursprung in dem normalen imperialistischen Trieb zur Vereinnahmung von Ressourcen, Erweiterung der Macht, Trotz und Machtdemonstration liegen. Das Osmanische Reich hat nicht nur Steuern eingetrieben, sondern auch jeden zehnten Knaben. Das ist ganz sicher grausam gewesen und wird heute nicht gebilligt und zur Nachahmung ausgeschrieben. Aber für viele dieser geraubten Knaben lag darin auch eine große Chance, von der auch die weinenden Mütter wussten. Immerhin sind der größte Baumeister des Osmanischen Reiches, Mimar Sinan, der Michelangelo des Orients, und der berühmteste und mächtigste Großwesir, Sokollu Mehmet Paşa, Sprosse der Devşirme, der Knabenlese, wie dieser teils wohltätige Raub hieß. Mehmet II., der Sultan, der tatsächlich Europa bedrohte, indem er Konstantinopel eroberte, wollte übrigens das Christentum mit dem Islam vereinigen, wofür die Hagia Sophia ein mächtiges, bis heute uneingelöstes Versprechen ist.

Ich will damit zweierlei sagen: hinter jedem hingeworfenen Schlagwort liegt eine manchmal verborgene, immer aber kollateral verästelte Geschichte und sollte nicht die Zeit gekommen sein, dass wir aus dem Bösen[3], das die Menschen sich seit jeher angetan haben, lernen sollten, auf dass es umkehrbar würde. Wenn wir eine funktionierende Universität in Düsseldorf haben, warum soll dann nicht der Wissenshungrige aus Senafe[4] in ihr studieren können?

Die Lehre aus den nationalsozialistischen und kommunistischen Verbrechen kann nur sein, dass wir die Menschen nicht in Gruppen oder Qualitäten einsortieren sollten, weil das falsch ist und nicht, weil es keine Definition gibt. Den Unterschied zwischen Preis oder Wert und Würde hat schon der große Kant aus Königsberg erklärt. Die Gleichheit des Menschen liegt in seiner Würde, die auch nicht durch Einreise- und Ausreiseverbote geknickt werden kann. Einen Wert des Menschen kann es nicht geben, selbst nicht, wenn man es positiv meint und ausdrückt. Das Wort Wert impliziert immer den Preis, der der Würde entgegengesetzt ist.

Die perfideste Stelle der Broschüre [S. 70f.] ist denn auch die Behauptung, dass alle Sklaven immer freiwillig dem Ruf ihrer Sklavenhändler gefolgt sind, weil sie die angeblich höhere Kultur gelockt hat. Kann man wirklich so blind sein oder wirken wollen? Die höhere Kultur erschien den geraubten Menschen als blanke Willkür, als Brutalität, als Dämon und Mordmaschine, und das war sie auch, denn sie hat aus der Würde des Menschen, so wie spätere Diktaturen auch, einen Wert und Preis gemacht.

Wenn Rousseau schreibt, dass ein Sklave in gewisser Weise freiwillig seine Freiheit gegen seine Versorgung tauscht, dann meint er damit den hohen Rang der Selbstbestimmung gegenüber der Unterwerfung. Allerdings wusste Rousseau und wissen wir, dass die meisten Sklaven, wenn sie die Freiheit suchten, den Tod fanden.

Von Freiheit ist in diesem Büchlein keine Rede. Vielmehr will der Autor glauben machen, dass Gewalt und Verbrechen in modernen Gesellschaften zunähmen, was die Regierung mit gefälschten Statistiken kaschiere. Der Einwanderer, der gegen uns getauscht wird, gleicht aber Schrödingers Katze: er ist gleichzeitig dumm und minderwertig und uns strategisch weit überlegen, weshalb wir, die Höherwertigen, das nur mithilfe solcher Broschüren, für die es in Frankreich zurecht und zum Glück keinen Verlag gab, erkennen können.

 

 

 

 

[1] Renaud Camus, Revolte gegen den Großen Austausch, Verlag Antaios, 3. Auflage, Schnellroda 2019

[2] Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Europa Verlag Zürich, Nachdruck der Erstfassung von 1940 im selben Verlag, S. 218f.

[3] Das ‚Böse‘ gibt es natürlich nicht als Substanz, wohl aber als Attribut, als die Summe aller falschen Entscheidungen.

[4] kleine Stadt in Eritrea, Ostafrika