VON HASEN UND KAROTTEN

 

Nr.  316

Bach schrieb seine h-moll-Messe, um den Titel Hofkomponist vom sächsischen Königshof  zu erhalten, der für seine Reputation, wahrscheinlich auch für seinen Marktwert, wichtig war. Der Hof war, weil dem König auch Polen gehörte, katholisch, Bach dagegen protestantisch, mochte sich aber wohl nicht zwischen lutherisch und pietistisch entscheiden, was heute ohnehin kein Mensch mehr versteht. Betrachten Theologen dieses Großwerk, die h-moll-Messe, so sagen sie, dass es zwar katholisch sei, aber im Gottesdienst nicht verwendet werden kann, weil Bach den kanonischen, festgelegten Text verändert hat. Außerdem hat er auch hier musikalische Teile aus oder in anderen seiner Werke verwendet. Trotzdem glauben einige Experten, dass die h-moll-Messe das größte musikalische Ereignis der Menschheitsgeschichte sei. Selbst wenn man, wie ich, annimmt, dass Bachs Matthäus-Passion ebenso groß sei, werden sich alle darauf einigen können, dass die beiden Werke zu den TOPTEN aller Kunst gehören. Geht man vom Text aus, beginnt der Streit, aber es handelt sich glücklicherweise um Musik. Spricht man mit einem Pfarrer, gleich welcher Konfession, über Bach, so meint der meist den vertonten Text. Bach hatte leider, mit zwei Ausnahmen, Gottsched und Picander, keine bedeutenden Textdichter zur Verfügung, und selbst die beiden kennt heute niemand mehr. Michelangelo hatte leider keine besseren Auftraggeber als die Päpste, die wenigstens soviel verstanden, ihn wegen seiner TOPTEN-Bilder nicht auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, was damals gang und gäbe war. Shakespeare hat für bierselige und rülpsende Typen TOPTEN-Werke geschrieben: the more I give the more I have for both are infinite*.

Die h-moll-Messe ist, ungeachtet ihres Textes, Musik. Aber selbst der Text ist für jeden Menschen, ungeachtet seiner Konfession oder Konfessionslosigkeit verständlich: ‚et resurrexit‘ – ‚und ist auferstanden‘ beschreibt das Wunder des Gestaltswandels. Die von Darwin beschriebene Bedeutung des Regenwurms liegt nicht in seiner Gestalt, sondern in dem von ihm bewirkten allgemeinen Gestaltswandel, dass aus den Toten Humus, und aus dem Humus frischer Salat und für Nichtvegetarier frisches Fleisch wird. HASEN SIND AUS KAROTTEN / KAROTTEN SIND AUS HASEN UND WÖLFEN UND MENSCHEN / DAS SOLL DER KAMPF UM SEIN SEIN SEIN? Hinzu kommen neuerdings die Plastikteilchen.

Als Mensch unter Menschen sehnen wir uns nach Halt – Identität -, als Erkennende unter Erkennenden brauchen wir einen Erkenntnisstop – Definition -, und verdrängen, dass wir uns in  ständigen Bewegungen befinden.

Wir halten Ausschau nach Gruppen: das Baby sieht Babies, die Frauen sieht Frauen, der Mann sieht Männer, der Christ sieht Christen – und bis vor kurzem war er der Meinung, dass alle anderen, vorsichtig ausgedrückt, nicht ganz richtig sind, der Muslim zieht in ein anderes, fremdes Land und das erste, was er sieht: ist ein Muslim. Wir brauchen die Ähnlichkeit, deshalb schaffen wir uns Gruppen. Aber dann sehen wir die Zerbrechlichkeit der Gruppen: denn der Wasserfall fragt nicht nach Ähnlichkeit, er reißt mit, was kommt, Mauern, Menschen und Mäuse. Wem der Wasserfall als Bild zu gewaltig, zu michelangelisch ist, der nehme die vernichtende und kreative Kraft des ewig sickernden Moors.

Sobald wir in eine Gruppe eintreten, spaltet sie sich. Sobald wir eine ‚Wahrheit‘ festhalten, löst sie sich auf. Sobald wir unsere Identität festgestellt (welch wunderbares Wort aus der Mechanik, wenn nicht sogar Statik, der Wissenschaften, die versuchen, die Natur aufzuhalten) zu haben glauben, verschwindet sie. Ostbürger dürfen an dieser Stelle an ihren alten Personalausweis, Westbürger an die Volkszählung von 1987, denken, beides Missgeburten des Identitätsbewusstseins und angesichts heutigen Datentransfers absolut lächerlich. Wir versuchen, die Bewegung anzuhalten: manchmal bleibt ein Haus stehen, ein Dachstuhl überdauert sieben Jahrhunderte, aber die Regel ist, dass alles was entsteht, wert ist, dass es zugrunde geht, wie Goethe Mephisto sagen lässt.

Wahrheit, also Definition, und Identität, entstehen so in dem kurzen Moment der Begegnung zweier Menschen. Selbst oder gerade wenn sie verschiedene – dem jeweils anderen nicht bekannte – Sprachen sprechen, sehen sie sich als Menschen, also Teil der Menschheit, Teil der Welt oder Schöpfung, Teil des Universums. Und wenn sie beide blind sind? Ihr gemeinsames Menschsein ist die Wahrheit und gleichzeitig ihre Identität. Wir beziehen uns hier, interessanterweise, auf den sehr weit in die Zukunft reichenden Kommunikationsbegriff von Karl Jaspers**.

Viel spannender ist die Frage, warum wir die letzen zweihundert oder zweitausend Jahre als unendlichen Emanzipationsprozess verstehen: die Frau, der Afrikaner, das Individuum, der sogenannte Behinderte, das diverse Geschlecht…sie alle wollten geboren werden und sind geboren worden aus einer jeweils elitären Gruppe, die für sich das Wahrheits- und Identitätseigentum erklärt – definiert – hatte.

So kann man die großen Kommunikationsschritte der Menschheit – Schrift, Buchdruck, Binärcode – auch als Erkenntnisschritte sehen und vor allem: als Emanzipationsschritte, als Schritte zu einer Gemeinsamkeit aller Menschen.

Diese Gemeinsamkeit ist immer schon vermutet worden, besonders seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, seitdem große Denker aus der Masse der Rituale hervortraten, aber sie ist auch immer wieder aus dem Bewusstsein verschwunden. Der Horizont des Menschen ist auf elf Kilometer begrenzt. Selbst die ungeheuren Möglichkeiten der Weltreisen für vielleicht die Hälfte der Weltbevölkerung führt nicht zu Erkenntnisfortschritt, sondern allenfalls zu Wohlbefinden. Vielleicht sind diejenigen Menschen, die fliehen, identisch mit denen, die reisen? Das Telefon in seiner totalitären Variante führt allein auch nicht zu Erkenntnisfortschritt, aber zu einem wachsenden Bewusstsein der Gemeinsamkeit. Deshalb muss zu den drei großen Schöpfern von TOPTEN-Kunst, Bach, Michelangelo und Shakespeare, eigentlich der Universalkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts hinzugefügt werden: Chaplin. Er hat eine allgemeinverständliche und universell angewandte bewegte Bildsprache geschaffen, die zur Grundlage der heutigen allgegenwärtigen Filmkunst wurde. Und seine Erzählung:: des stolpernden, einfältigen, aber guten Menschen, der es schafft, schafft Optimismus und Glauben. Milliarden youtube-Filmschnipsel bereichern und verarmen unser Menschheitsbewusstsein ebenso total, wie die Plastikschnipsel in den Ozeanen oder die Monokulturen der reichen Länder die Natur bedrohen.

Wir tun gut daran, in den gegenwärtigen Umbruchsprozessen der Globalisierung und Digitalisierung eine afrikanische Sprache und Kultur zu erlernen. Es könnte sein, dass in Afrika die größte Überlebenschance der Menschheit besteht. Die Zukunft der Menschheit muss kein Weltuntergang sein, aber sie muss auch nicht in der Fortführung eines doch in vielen Punkten auf Zerstörung ausgehenden  Fortschritts- und Wachstumsmodells liegen. Dieses Wachstumsmodell hat den Hunger verbannt, aber den Preis dafür übersehen wollen. Krieg ist für nichts eine Lösung, das wissen wir jetzt, aber wie wollen wir zusammenleben? Propheten haben Wege geahnt, aber jeder Prophet wurde bisher von elitären Gruppen definiert oder identifiziert. Vielleicht hilft uns der Binärcode, die Welt sowohl als dunkles Labyrinth als auch als Berg-und-Tal-Bahn zu begreifen und zu meistern? Dann sollten wir jetzt langsam anfangen, mit dem nehmen aufzuhören und mit dem teilen und geben zu beginnen. So steht es bei Shakespeare, Bach, Michelangelo und Chaplin.

 

*Romeo and Juliet II,2

**Jaspers, Karl, Vernunft und Existenz, Zürich 1987

BRIEF AN ZWEI TÜRKISCHE FAMILIEN IN DEUTSCHLAND

 

[YÜZÜNÜZÜ GÜLDÜRSÜN]

 

Nr. 315

Liebe Familie Y., liebe Familie G.,

sicher haben Sie schon oft indirekt Aufforderungen erhalten, sich besser zu integrieren oder Sie haben Berichte in Zeitungen oder im Fernsehen so verstanden, dass Sie der  Gesellschaft Leistungen zu erbringen hätten. Heute ist der Tag der Abrechnung, an dem ich Ihnen sagen möchte, was Sie für die Gesellschaft getan haben. Ich hatte das große Vergnügen, jeweils einen Sohn aus Ihrer Familie unterrichten und glücklich durch das Abitur bringen zu dürfen.

VSY war ein sehr sportlicher Schüler, der sicher, solange er Kind war, Fußballer werden wollte, aber er ist auch musikalisch und sozial. In den drei Jahren, die er bei mir war, hat er sich immer um andere Schüler gekümmert. An seinem Platz in der letzten Reihe hatte er den Überblick, wer gerade Hilfe braucht. Das hat er mir dann abends geschrieben. Umgekehrt, wenn ich etwas wissen wollte, was mich nichts angeht, schrieb er drei Punkte. Ich habe vorher und nachher keinen Schüler gehabt, der so sehr auf Diskretion und Vermeidung von Missbrauch einer Kommunikationslinie bedacht war. Statt Klatsch und Tratsch zu verbreiten, haben wir über die Türkei, über die türkische Sprache und über den Islam geschrieben. Der Zwiespalt des Migranten ist für die anderen schwer nachvollziehbar. Der Widerspruch tritt sogar in der zweiten und dritten Generation eventuell verschärft auf: man ist hier geboren, aber man weiß nicht warum. Es ist scheinbar auch kein Trost zu hören, dass die anderen Menschen auch nicht wissen, warum sie geboren sind.

In seiner Kindheit und Jugend war er oft in der Moschee. Er hat seinen Glauben auf eine durchaus moderne Art verinnerlicht. Wenn es darauf ankommt, steht er mit klaren Worten dazu, ohne aber andere Menschen zu belehren oder zu beschämen. Ich habe gesehen, wie er betet, ich habe ihn aber auch genauso oft beim Fußball spielen und fröhlich sein gesehen. Ein Klassenfahrt ohne Alkohol ist früher unvorstellbar gewesen. Die Klasse verdankt ihm übrigens die Fahrt nach Lloret de Mar, der europäischen Partyhauptstadt. Er hat solange auf mich eingeredet, bis ich mein, wie sich gezeigt hat, falsches Vorurteil aufgegeben habe. Er hat im Gegenzug auch sein, teilweise richtiges, Vorurteil gegen Lehrer aufgeben. Am meisten habe ich durch ihn über das türkische Leben, über die wohlklingende, musikalische Sprache und den Glauben als tägliches Lebenselement erfahren. Kurz hat er wohl sogar mit dem Gedanken gespielt, mich zur Konversion zu überreden, aber dann gemerkt, dass es nicht um Missionierung gehen kann. Ich hatte das auch erst kurz vor ihm entdeckt.

Als ich das erste Mal in Istanbul war, hat er mir alles über facebook oder Telefon übersetzt. Mein britischer Bloganbieter war damals in der Türkei verboten, aber er hat mir einen Zugang gelegt, so dass ich jeden Abend meinen vielgelesenen Blog hochladen konnte. Ihm ist es auch zu verdanken, dass ich einige Jahre später mit einer Klasse nach Istanbul gefahren bin. Auf seiner Hochzeit mit einer Mathematikstudentin – ich fasse es nicht – fremdelte ich etwas, aber das ist für uns eine gute Erfahrung, einmal in der Minderheit zu sein, aber seine ganze Familie kam immer wieder zu mir an den Tisch, alle kannten mich, allen hat er von mir erzählt, der schweigsame, manchmal sogar etwas verschlossene Junge, der jetzt zum Ehemann wurde.

HG kannte ich schon, bevor wir beide seiner Klasse Istanbul gezeigt haben, in deutsch und türkisch übrigens. Einmal haben wir sogar einer indischen Familie die Süleymaniye auf englisch erklärt, sie hatten so intensiv zugehört, dass wir uns nicht entziehen konnten.

Ein nicht alter Lehrer war an Lebensüberdruss und Krebs gestorben. Wir befürchteten, dass nur sehr wenige Menschen zu seiner Beerdigung kommen würden. Aber da hatten wir nicht mit HG gerechnet. Er hat seine Klasse zum Friedhof geführt, Schüler aus anderen Klassen gewonnen, er hat die Mutter des Lehrers, die im Rollstuhl sitzend und wider Erwarten doch noch gekommen war, getröstet und umarmt. So etwas habe ich vorher und nachher noch nie gesehen!

In Istanbul, in Üsküdar, aber da, wo keine Touristen mehr hinkommen,  habe ich einen alten Bekannten, mit dem ich aber leider nicht sprechen kann, weil er nur und ich nicht türkisch kann. Ich bin also mit HG hingegangen, er hat wunderbar übersetzt und durfte sich in dem Laden meines Freundes aussuchen und mitnehmen, was er wollte. Das ist ein Kindertraum, aber er war kein Kind mehr und der Laden das, was man in Berlin einen Späti nennt. Danach gingen wir unter der Galatabrücke essen. Im nächtlichen Istanbul sahen wir Flüchtlinge aus Syrien mit ihren Kindern auf der Straße. Sie haben nicht gebettelt, aber sie hatten auch nichts. Wir haben also in einem anderen Laden, im Altstadtbezirk Sultan Ahmet, ein Abendbrot für sie gekauft und Spielzeug für die Kinder nicht vergessen. Dann fragte HG besorgt, ob wir jetzt noch nach Hause, in unser Hotel finden würden. Das befreiende Lachen galt wohl eher der syrischen Familie als dem Nachhauseweg, der kein Problem war.

HG war als Schüler nicht so leicht lenkbar wie andere. Trotzdem hat auch er dieses eigenartige nichtegoistische, soziale Element, nicht sich, sondern die anderen in den Mittelpunkt zu stellen. Die deutschtürkischen Schüler verbreiten eine Atmosphäre der Solidarität. Sie würden keinen Mitschüler verraten, auch wenn sie selbst dadurch in Schwierigkeiten kommen. Sie haben eine Leichtfüßigkeit, Fröhlichkeit und Freundlichkeit, die uns guttut, die wir lernen könnten und sollten. Merkwürdigerweise findet Migration einen Anker in der Esskultur. Die Franzosen, meine Vorfahren, brachten das Weißbrot und die Frikadelle nach Deutschland. Versuchen Sie einmal heute in einer normalen deutschen Kleinstadt,  Sauerkraut, das uns im englischsprachigen Raum einen deftigen Spitznamen eingebracht hat,  als Essen zu erhalten. Es gibt in jeder Stadt in Europa gesündere orientalische Essensvarianten. Aber das Essen ist eigentlich nur nebenbei erwähnenswert.

An einem schönen Herbsttag, versöhnt durch einen Jahrhundertsommer, kann man sich Migration als ein Würfeln Gottes vorstellen. Nach ein paar Jahrhunderten erstarrt jede Gesellschaft in guten wie in weniger guten Eigenschaften, die man gerade in Europa gut beobachten kann. Dann schickt er wieder ein, zwei Völker auf die Reise, um besseres Verhalten zu mischen. Denn überall, wo Menschen aufeinander treffen, werden sie sich auch lieben, verstehen, miteinander reden und feiern. Und es wird Kinder geben, die eine neue Mischung guten Lebens versprechen und darstellen. VSY und HG sind zwei von ihnen.

Ich danke Ihnen, den Familien von VSY und HG, für zwei wunderbare Söhne, die hier stellvertretend für hunderte Schüler und Mitbürger genannt sind. Statt Vorurteile und gar Hass zu verbreiten, sollten wir lieber mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt gehen. Es ist ziemlich gleichgültig, woher wir stammen und was für Politiker uns führen oder verführen, wichtig ist, wohin wir gemeinsam gehen.

ALLES GUT

 

Nr. 314

‚Alles gut‘ ist die erste gesamtdeutsche Formel, die wir auch mit den Flüchtlingen, die seit 2015 gekommen sind, teilen. Alle Angst, die deutsche Sprache könnte verschwinden, die so genannte Leitkultur könnte in sich zusammenbrechen, war umsonst. Eine Leitkultur, die man installieren muss, wird niemanden leiten. Wer zum Beispiel ein Land mit einer reichen Alkoholkultur durch Prohibition heilen will, wird scheitern. Das heißt nicht, dass sich Kulturen nicht verändern. Sie verändern sich langsam und von innen heraus.

Diese Wohlfühlformel erschien gerade im Moment der Krise, die so viele mit dem Untergang verwechseln. Es gibt nicht mehr Krieg, Pest und Hunger, sondern immer weniger. Deutschland hat eigentlich kein Problem außer dem Überdruss, der andererseits von einem Innovationsstau begleitet wird. Das führte zu einer Krise der Demokratie mit seltsamer Rückwärtsgewandtheit. Aber wohin sollen wir uns denn wenden, wenn vorne keine Vision zu sehen ist? Wem sollen wir folgen, wenn vorne niemand läuft? Vielleicht begann diese Krise mit Schmidts destruktivem Satz von der Behandlungsbedürftigkeit der Visionäre. Vielleicht war er die Antwort auf einen konkreten Vorwurf, aber er ist auf jeden Fall falsch. Auch der andere berühmte Satz der Demokratie, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann, ist falsch, weil es kein richtiges Leben gibt. Wohlstand ist keine Weltanschauung. Und eine Konfektions-Weltanschauung hat nicht das Zeug zur Weltverbesserung. Weltverbesserung ist aber dringend notwendig, weil die alten Ziele: kein Hunger, keine Pest, kein Krieg erreicht sind.

Eine der merkwürdigsten rechtskonservativen verschwörungstheoretischen Gruppierungen sind die Impfgegner. Tatsächlich gehörte der Impfzwang zu den diktatorischen Repressionen. Aber wenn es keine Diktatur gibt, kann impfen auch nicht repressiv sein. Man darf das nicht damit verwechseln, dass auch in der Demokratie die Bürokratie autoritäre Züge hat, vielleicht haben muss. Das ist ein alter, berechtigter Vorwurf. Die Verhirtung der Eliten ist schon mehrmals gescheitert, in der Gegenwart schon einmal deshalb, weil wir uns alle gegen die Verschafung wehren. Die Demokratie hat den mündigen Menschen geschaffen, von dem der unmündige Mensch geträumt hat, und die Technik hat ihm Kommunikationswerkzeuge in die Hand gegeben, mit denen er nicht nur täglich abstimmen, sondern auch zu jeder politischen Entscheidung eine Million Kommentare abgeben kann. Die digitalen Netzwerke verstärken die Kommentaridentität. Anders gesagt: jeder Mensch sucht nach Bestätigung und im Netz findet er sie schneller als auf der Straße. Umgekehrt zeigt sich aber heute auch viel schneller: jede Definition ist der Grund für die Spaltung. Haben früher gut und gerne fünfhundert Jahre (1054, 1517) zwischen zwei Spaltungen gelegen, sind es heute manchmal nur fünf Minuten.

Seit vielen Jahren reden wir von der Schnelllebigkeit. Nicht wir leben schneller, im Gegenteil, wir leben länger und das ganze letzte Drittel wesentlich langsamer, aber unsere Möglichkeiten werden immer schneller. Die Dinge und Gedanken bewegen sich mit hoher Geschwindigkeit durch Raum und Zeit. Vielleicht ist es sogar so, dass wir staunend am Straßenrand stehen und unsere Gedanken und Dinge vorbeieilen sehen. Fast genauso schnell kann aber jede Ware von jedem beliebigen Ort der Welt zu uns gelangen.

Aber wir sitzen an unseren Computern mit den Vorstellungen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wir sehnen uns nicht nach Autorität zurück, sondern nach Langsamkeit. Alles soll so bleiben, wie es bei unseren Großeltern war. Unsere Großeltern fingen einen der schrecklichsten Kriege aller Zeiten an. Wir wollen also am liebsten die Zukunft nicht verändern, aber die Vergangenheit harmonisieren?

Dieser Umbruch wird zurecht als Chaos empfunden. Wir sehnen uns nach der Geborgenheit, die wir gerade abgeschafft haben. Wir orientieren uns an Medien, die wir eigentlich ablehnen. Dabei spielt das Fernsehen die verhängnisvollste Rolle, weil Bild und Ton zusammen einen höheren Wahrheitsgehalt versprechen. Jeder Irrtum einer Medienanstalt wird aber auch als vermeintliches Staatsverbrechen gerügt. Wenn man einmal überlegt, was alle Religionen und positiven Ideologien eint, so ist es das Streben nach Demut und Gelassenheit. Wer zum Hass aufruft, glaubt sich im recht und will sich nicht zurücknehmen. Würden wir uns dazu erziehen, uns zurückzunehmen, würde die Welt langsamer und wieder verständlicher.

‚Alles gut‘ ist also der Aufruf, im Toben der Welt eine Insel der Güte zu finden. Wenngleich, so sagt diese Formel, die Welt verrückt geworden zu sein scheint, so bleibt doch bei mir alles gut. Gleichzeitig liegt in dem schlichten Gruß auch die Hoffnung für den anderen. Wir haben zu einer inselhaften Freude und Demut gefunden, aber wie ist es mit dir? Ist bei dir auch alles gut? Die Neubürger in unserem Land haben sogar die beiden Formeln ‚alles gut‘ und ‚alles Gute‘ schon zusammengelegt, wenn auch mehr aus semantischer Schwäche, weniger wohl aus visionärer Stärke.

Bleibt der inflationäre Gebrauch. Er ist immer furchtbar. Erinnern wir uns, wie schnell wir das Wort ‚geil‘ entsexualisiert und das Wort ‚genial‘ veralltäglicht haben. Einst war Goethe genial, jetzt ist es der Rabatt für Götterspeise. Inflation lässt sich wohl nicht verhindern. Sie gehört zum naturgegebenen Ablauf oder Profil. Wer Berge liebt, darf sich über Täler nicht wundern. Die Inflation der Wörter hat aber auch eine suggestive Wirkung. Obwohl in Europa mehr in Ordnung als in Unordnung ist – verglichen zum Beispiel mit Kenia -, haben wir eine tiefe Krise der Demokratie. Obwohl wir mehr Kommunikationsmöglichkeiten haben als alle Generationen vor uns, haben wir eine Krise der Glaubwürdigkeit. Obwohl wir die Welt besser kennen als sie jemals zuvor gekannt wurde, gehen wir weiter davon aus, dass es uns am schlechtesten geht. Jeder möchte sein Problem als Priorität anmelden und wundert sich, dass am Problemschalter das Anstehen wie im Ostblock wieder üblich wird. Und hier sollten wir uns erinnern, was wir uns alle am 10. November, ungläubig staunend geschworen haben: nie wieder anstehen. Warten können ist eine der großen Übungen der Gelassenheit und Demut. Statt auf den Orient zu schimpfen, sollten wir diese Gelassenheit von ihm übernehmen.

Obwohl wir also eine wahre Inflation der Krisen haben, sagen wir jeden Tag zwanzigmal ALLES GUT, und das ist auch gut so.

BEWAHREN

Nr. 313

Früher sagten die Hausfrauen, dass sie den Sommer in den Weckgläsern für die kalten und dunklen Wintertage aufbewahren würden. Und wie sieht es heute aus? Es gibt keine Hausfrauen mehr, die wenigsten Menschen wecken eigenes Obst ein, fast alle kaufen Fertigprodukte, darunter sehr viele von weither importierte, in den Supermärkten. Überhaupt, die Metapher für die Verbrauchs- und Wegwerfgesellschaft, in der wir uns heute befinden, ist der Supermarkt. Gleichzeitig ist er die Verwirklichung des Märchens vom Schlaraffenland und vom süßen Brei, die aber alle schon die Moral enthielten: man kann nicht mehr als essen. Jedes Märchen kehrt sich um, weil nichts bleibt, wie es ist. Obwohl wir hier alle mehr als genug und mehr als nötig essen, jammern die brandenburgischen Bauern, dass von ihren 70.000 Schafen hundert der Wolf gefressen hat, 0,1%. Die Äpfel an den früher gehegten und bewachten Alleen verkommen in diesem Jahr noch mehr, weil es weniger Vögel und weniger Insekten gab. Sie wurden der monokulturellen Landwirtschaft geopfert.

Man kann Gegenstände bewahren, man kann Werte bewahren, Zustände dagegen nicht. Nichts ist flüchtiger als ein Zustand, das haben wir alle im sonst eher überflüssigen Chemieunterricht und in der höchst nötigen Liebe gelernt. Die Gegenstände werden teilweise sogar wertvoller, wenn man sie konserviert, wie man sich auf jedem Kunst- und Antikmarkt und –laden versichern kann. Aber dann verfallen sie dem Rost oder dem Vergessen.

Auch Werte haben die Tendenz zu verfallen. In Europa gab es zwei dreißigjährige Kriege (1618-1648, 1914-1945) und alle Historiker und Dichter dieses Themas sind sich einig, dass die mentalen Zerstörungen am folgenreichsten waren. Die Barockdichter verwendeten die umgestürzte Kirche als Metapher für den Werteverfall. Kinshasa ist auch deshalb die Welthauptstadt der Vergewaltigung*, weil im Kongo der Staatsterror seit dem neunzehnten Jahrhundert wütete. Noch 1960 gab es in Belgien eine Postkarte ‚Souvenir de Leopoldville‘. Wir haben hier schon einmal auf den allerdings nicht kausalen Zusammenhang hingewiesen, dass in Europa Millionen Kinder ermordet wurden, und anschließend  signifikanter Kindermangel und Kinderangst herrschten. Erst jetzt kehrt sich dieses Verhältnis durch die Helikoptereltern und die Flüchtlingsmütter wieder um.

Die Zustände der menschlichen Gesellschaft haben sich in den letzten fünfzig Jahren schneller verändert als üblich, wenn man aber die davor liegenden fünfzig Jahre mit einbezieht, relativiert sich die Zeit und der Abgrund. Denn die Veränderung durch eine auf die Spitze getriebene Wertehierachie war gravierender als die darauf folgende, einfacher gesagt: 1945 brach mehr zusammen als 1990 neu entstand. Darunter sollten wir nicht nur die Völkermorde der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts sehen, sondern auch die Vertreibungen und Umsiedlungen, überhaupt die Menschenverachtung. 1945 ist letztmalig das falsche Konzept gescheitert, dass ein Mensch mehr oder weniger wert ist als der andere. Jeder spätere Versuch der Erneuerung oder auch nur Bewahrung steht unter diesem Verdikt des endgültigen Scheiterns.

Der Wert, den es zu bewahren gilt, ist also die Gleichheit aller Menschen, wie sie in Schillers berühmter Ode und Lessings nicht minder berühmten Drama als Ideal über der Menschheit schweben, wie sie aber auch in der Albert Schweitzers ‚Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben‘ Eingang in das neuere philosophische Denken gefunden hat. Schweitzer kombinierte übrigens die denkerische Voraussetzung mit dem christlichen Wert der Barmherzigkeit. Er hat sich damit Kritik von beiden Seiten eingehandelt: von den Christen und den Atheisten, was aber seiner Lehre keinen Abbruch tut.

Der Aberglaube, dass der Staat die Probleme, die seine Bürger haben, lösen kann, wächst aus dem Aberglauben, dass er sie verursacht hat. Die Industrialisierung war ein Kind der Dampfmaschine, die Erfindung des Sozialstaats war dagegen das Auffangen der äußerst harten Folgen der Industrialisierung, was man damals ‚die soziale Frage‘ nannte. Der Wohlstand, der nötig ist, um Freiheit durch Konsum zu erreichen, ist keineswegs durch den Sozialstaat oder gar den Nationalsozialstaat oder den Ostblock erreicht worden, sondern durch Henry Ford und Walter Rathenau und ihre industrielle Massengüterproduktion bei gleichzeitiger angemessener Lohngewährung. Nebenbei: ungeachtet ihrer Herkunft oder ihrer sonstigen Ansichten besaßen sie beide die damals weltgrößten Konzerne, FORD und AEG.

Jeder Staat, der glaubt oder versucht, die Probleme der Menschheit ohne die Menschen zu lösen, wird einfach in sich zusammenbrechen. Der Staat kann lediglich Tendenzen verstärken oder auffangen oder bremsen. Neue Tendenzen sind immer wirtschaftlicher, religiöser, technologischer und eben auch staatlicher Natur. Für jeden einzelnen Bestandteil menschlichen Lebens gibt es jeweils eigene Theorien oder gar Ideologien, die vorgeben, alle Probleme lösen zu können. Obwohl wir gerade ein ausgesprochen technologisches Zeitalter durchleben, setzen dafür nicht empfängliche Menschen weiter auf den Staat oder auf die Wirtschaft oder auf die Religion als allround-Problemlöser. Aber natürlich kann die Technologie auch nur einen Teil der Probleme lösen, indem sie gleichzeitig neue schafft. Hinzu kommt, dass viele Technologien auch Lösungen anbieten, die vorher kein Problem waren, das gilt für den Buchdruck wie für das Automobil oder den Computer, dessen Zukunft offensichtlich im Smartphone und im Roboter liegt. Gleichzeitig wird die Grenze zwischen dem Computer und dem Menschen verblassen.

Je komplexer die Welt und ihre Probleme werden, desto stärker muss die Betonung und Bewahrung der alten, scheinbar unabänderlichen Werte sein: Tötungsverbot, Solidarität, komplexes Denken. Jede Lösung eines Problems erscheint erst hinterher einfach. Wer nach einfachen Lösungen sucht oder sie anspreist, irrt oder wird sich und andere verirren. Nicht leicht wird es werden, unseren großen technologischen und energetischen Anspruch mit der genau so großen Aufgabe der Bewahrung  der Natur und der Würde des Menschen zu vereinbaren. In einigen Punkten ist sicher Minimalismus die Antwort, aber der setzt meist Überdruss voraus. Diogones, der erste Kyniker, soll angeblich beim Anblick eines aus seinen Händen trinkenen Hirtenknaben seinen Becher weggeworfen haben. Aber solche Geschichten sind mehr Appell als Nacherzählung.

Menschlichkeit oder Solidarität ist ein Allgemeingut der Menschheit, aber auf der anderen Seite ist das, was wir bisher als Fortschritt oder Wachstum bezeichnet haben, keineswegs ein linearer oder ununmkehrbarer Prozess. Es gibt nie nur eine Richtung oder eine Antwort. Jede Wahrheit hat die Tendenz sich zu spalten. Nichts ist unteilbar. Vielmehr bezeugen die gegenwärtigen politischen und ideologischen  Auseinandersetzungen, dass alle Bewegungen sinus- oder helixförmig sind. Für die Entdeckung der doublehelix gab es sogar schon den Nobelpreis**.

Bewahren sollten wir uns immer unsere Neugier und Freundlichkeit.

 

*Zitat von Denis Mukwege, Friedensnobelpreisträger 2018

**Crick, Watson und Wilkins 1962