Wer in der DDR zur Schule ging und gar studierte, dem blieb keine Wahl als zu glauben, was man ihn lehrte, dass nämlich der Gedanke das Abbild der Realität sei. Auf die Idee, dass die Realität auch ein Abbild der Gedanken sei, durfte man, zumindest in Prüfungen, nicht kommen. Behauptete gar ein pickliger Pfarrerssohn AM ANFANG WAR DAS WORT so wurde er zum Gespött seiner Mitschüler. Wer heimlich Nietzsche las, wusste, dass die meisten Menschen nicht wussten, dass sie nicht tun, sondern getan werden[1]. Nietzsche schreibt in der MORGENRÖTE, dass es der grammatikalische Grundschnitzer der Menschen sei, aktiv und passiv zu verwechseln. Diese Erkenntnis ist hochaktuell: Viele von uns glauben, wenn sie eine Parteilosung in die Kommentare schreiben, dass das ihre Erkenntnis oder ihre Meinung sei. Selbstverständlich hatten die meisten Menschen auch zu Nietzsches Zeit keine eigene Meinung, aber sie konnten sich auch nicht und nirgends artikulieren. Hinzu kommt die Demokratie, die im neunzehnten Jahrhundert wohl eher ein Ideal war, die es jedem ermöglicht, alles zu sagen. Diejenigen mit den unsagbarsten Aussagen berufen sich am lautesten auf diese garantierte Freiheit des Wortes. Das Ergebnis ist nicht nur keine Zurückhaltung, sondern der Aberglaube, ein aktiver Mensch mit eigener Meinung zu sein.
So findet sich am Tag bestimmt hunderte Male die alte NPD- und neue AfD-Aussage, dass wir, gemeint ist Deutschland, nicht das Sozialamt Europas oder der Welt seien. Die das schreiben, glauben felsenfest, dass sie selber darauf gekommen sind und dass es unumstößlich wahr sei, denn sie wissen, dass ihr Sozialamt begrenzte Kassen hat.
Diese hohle Phrase zeigt eine weitere Verwechslung an, nämlich die von der Interpretation und Fakt. Das Wort Fakt kommt aus dem lateinischen ‚facere‘ = machen. Ein Fakt ist das Gemachte, ob nun von Gott, der Natur oder von uns Menschen. Die meisten Fakten kennen wir aber nur durch deren Interpretationen im Elternhaus, in Schulen und Universitäten. Zurzeit am meisten gescholten sind die Interpretationen in den Medien, deren Übermächtigkeit man beklagen, deren Wahrhaftigkeit man aber nicht ohne weiteres in Zweifel ziehen kann.
Wir leben in einem Wald von Interpretationen, der uns hindert, die Bäume zu sehen, ganz zu schweigen von der Welt. Mit dem Beginn der Industrialisierung zerriss unsere Nabelschnur zur Natur. Masaccio[2] war der erste, der eine dreidimensionale Welt so reproduzierte, dass man sie für die Wirklichkeit halten konnte. Aber auch schon die Pyramiden erschienen ihren Zeitgenossen und den heutigen Touristen nicht als Gedankenkonstrukte, sondern als Wirklichkeiten. Die Welt, die uns umstellt, besteht aus Kunst und Technik. Hinter wessen Haus Kiefern rauschen, ist sich oft nicht bewusst, dass 95% unseres Waldes Forst ist, also Kulturlandschaft. War Claire Zachanassian[3] noch ein satirisch überhöhtes Kunstprodukt, so laufen durch die nördlich-westliche Welt heute viele von der Medizin und Medizintechnik am Laufen gehaltene Menschen.
Daraus folgt, dass angesichts der Technisierung und Poetisierung der Welt die Bedeutung von Bildung und Glaubwürdigkeit noch wächst. So wie mit dem Zuwachs an Computern keineswegs der Papierbedarf sank, so wird auch die Bedeutung der Lehrer mit der Inflation an Fakten und Interpretationen steigen. Es ist ein großer Erfolg des Fortschritts und der Demokratie, dass jetzt 90% aller Menschen lesen und schreiben können. Aber die neue Herausforderung an alle Bildungseinrichtungen, an alle Religionen und Philosophien, an alle Eltern und Großeltern wird es sein, die Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit zu entwickeln und zu stärken.
In einer von Algorithmen beherrschten Welt wird Vertrauen zur wichtigsten Lebenskraft.
Beziehungen erkalten, Telefone und Regierungen veralten. Aber was ist mit den linken und rechten schönen und alten Sätzen, die aus dem Protest gegen den jeweiligen Zeitgeist kreiert wurden und immer richtig waren? Ist das Medium nicht mehr die Botschaft? Stimmt der Satz, mit all den neuen Medien, nicht mehr denn je? Und gibt es plötzlich ein richtiges Leben im falschen? Braucht Zukunft keine Herkunft mehr? Das sind alles Sprüche, die zurückweisen, einmal zeitlich in die Vergangenheit zurückweisen zum anderen aber, und das ist bei den beiden linken Sprüchen mehr als verwunderlich, Menschen zurückweisen.
Wenn wir den neuen Medien unterstellen, dass sie selbst die Botschaft wären und keine Botschaften beförderten, unterstellen wir gleichzeitig ihren Benutzern, dass sie gar keine Botschaften hätten. Aber was soll daran neu sein? Man kann mit Rauchzeichen nichts sagen und mit dem Smartphone. Man kann mit einem Pistolenschuss ein ganzes Jahrhundert verheeren, während es Bürgerkriege gibt, die völlig ergebnis- und ereignislos fünfzig Jahre vor sich hin dämmern. Leider ist es uns mit der Demokratie auch so ergangen. Wir haben sie jahre- und jahrzehntelang als Ende der Geschichte (Hegel, Fukuyama) gefeiert und als alternativlos dargestellt, bis sie wahrscheinlich jenen Menschen überdrüssig wurde, die in ihr so gut wie nicht mehr vorkamen. Überall ist, ebenfalls seit Jahrzehnten, die traditionelle Trennung zwischen rechts und links aufgehoben, versandet, in der Mitte zusammengeflossen. Alle Parteien bezeichnen sich als große Volksparteien. In Deutschland sind die Grünen die einzige Parteigründung gewesen, die einen neuen, nicht am Rechtslinks-Schema orientierten Identitätsaspekt in die Politik eingebracht haben, auch neue Formen der politischen Auseinandersetzung, aber dann sind sie auf einem Gebiet in das Muster der anderen Parteien gefallen, das vermeidbar gewesen wäre: sie sind inzwischen auch eine gutbürgerliche Partei, die von Greisen geführt wird. Greise merken nicht, dass sie alt werden und alt sind. Da man sich nur von innen sieht, kann man seine Wirkung auf andere schlecht abschätzen. Auch Selfies scheinen da nicht zu helfen. Es ist auch kein Trost, dass die ehemalige Arbeiterpartei allen Ernstes einen Hoffnungsträger präsentiert, der noch zwei Jahre bis zur Rente seine Hoffnungen verbreiten kann. Auch die eiserne und ewige Kanzlerin hat die Grenze zur Rente bereits überschritten. Bei der Linken weiß man gar nicht, wer der große Vorsitzende ist, es reden nach wie vor nur Gysi und Lafontaine, allenfalls noch dessen verwirrte Gattin. Nur die FDP hat einen jüngeren Vorsitzenden, aber dafür ist er doppelt so wirkungslos.
Die Demokratie ist zu kompliziert, um als alternativlose ewige Wahrheit durchzugehen. Das gilt selbst dann, wenn die Ergebnisse eineindeutig sind: in Deutschland lebende türkische Staatsbürger bevorzugen nach wie vor ein autoritäres System, das wirtschaftlich am Boden liegt, vor einer wirtschaftlich vorzüglich und mit großem Gewinn funktionierenden Demokratie, in der sie sich nicht erkennen. Offensichtlich führen die neuen Medien, Internet mit Smartphone gekoppelt, zu einer neuen Spiegel- oder Resonanzwahrnehmung ihrer Benutzer. Plötzlich erkennt der absurdeste Gedanke, dass er nicht allein ist. Es ist inzwischen absolut üblich geworden, selbst evidenten Fakten zu widerstehen. Trump ist da nur ein prominentes Beispiel. Er hat, nicht nur in Amerika, viele follower.
Auf all das weiß die Demokratie nicht nur keine Antwort, sie hat noch nicht einmal bemerkt, dass da eine Frage ist. Sie macht einfach weiter so wie bisher. Macht macht krank, auch einer von diesen Sprüchen, aber sie macht scheinbar auch blind, besoffen, niederträchtig und handlungsunfähig. Nach wie vor gibt es Botschaften, wenn auch wenige, so wie Visionen, die natürlicherweise proportional zu den gelösten Problemen abnehmen. Es gibt aber wesentlich mehr Medien, die auch Risiken und Nebenwirkungen haben, und zwar nicht nur für die abfällig user genannten Mitbürger, sondern scheinbar auch für die Medien, die Politik, den Konsum, die Produktion, die Wirtschaft insgesamt, die Beziehungen der Staaten untereinander, für Krieg und Frieden. Es ist nichts anderes als das schon oft besprochene WARUM-Mirakel.
Noch falscher, und zwar schon immer, ist der Satz, dass es angeblich kein richtiges Leben im falschen gäbe. Es gibt kein richtiges Leben. Es gibt kein falsches Leben. Es gibt keine richtigen Menschen. Es gibt keine falschen Menschen. Scheinbar sind auch im Exil lebende und schreibende Großphilosophen nicht vor solchen Fundamentalfehlern gefeit. Um es ganz krass zu sagen: Wenn ich gedanklich zulasse, Nationalsozialisten als falsche Menschen zu definieren, dann gebe ich denselben Nationalsozialisten recht, die Juden oder die Kommunisten als die möglichen falschen Menschen erkannt zu haben. Das gleiche, möchte man fast Lessing zitierend weitersagen, gilt für die Kommunisten oder Demokraten. Mit dem Wort Abschaum ist es noch leichter. Wer andere Menschen als Abschaum bezeichnet, gibt denen recht, die ihn Abschaum nennen. Jeder, der latte macchiato trinkt, weiß wie dumm dieses Bild obendrein ist.
Herschel Grünspan ist nach wie vor ein wunderbares und gleichzeitig ganz falsches Beispiel für das Falsche, das richtig sein kann, und das Richtige, das falsch sein kann. Gewalt ist immer falsch, und wenn er den Botschaftsrat tatsächlich aus einer sexuellen Begegnung kannte, ist sie, falls das steigerungsfähig ist, noch falscher. Wenn man aber andererseits bedenkt, dass er in den Zeitungen las, dass er selbst und seine Familie plötzlich staatenlos, rechtlos, von einer Partei zudem heimatlos gemacht worden waren, die ständig von Heimat und Vaterland schwafelte und sich im selben Atemzug anschickte, genau das alles nicht etwa nur für die Juden oder die deutschen, sondern für alle Europäer kaputt zu schlagen, so wie es in ihren grausigen Liedern auch hieß. Man kann sich eben nicht bedenkenlos dort niederlassen, wo gesungen wird. Auch böse Menschen haben Lieder. Also hat ein siebzehnjähriger trauriger Junge etwas getan, das bei anderen als große Widerstandstat gefeiert wird. Auf jeden Fall hat er etwas getan, was weit über die übliche moralische Entrüstung hinausgeht, die derselbe Marshall McLuhan, von dem die dem Medium innewohnende Botschaft stammt, als die Würde der Idioten bezeichnet hat. Diese Empörung, gerne auch mit der Forderung nach Petitionen gegen Tierquälerei im Süden Marokkos, ist ein neuer Zeitvertreib geworden. Der Glaube kompetent zu sein verstärkt sich durch das mediale Echo, das fast immer nur ein Spiegel des eigenen Gestammels ist, und die Empörung hält sich für eine Heldentat. Die Zukunft braucht kompetente Menschen, die etwas ganz einfaches von Herzen gern tun, und nicht Spekulationen darüber, ob ihr Leben falsch sei, ob sie falsch seien, ob ihre Medien Botschaften haben oder sind und was ihre Eltern oder Großeltern waren.
[Über Frédéric Beigbeders Buch ‚Oona & Salinger‘ und andere Medien]
Wenn man sich die kleine Oona mit ihren drei möglichen Namen vorstellt – O’Neill Salinger Chaplin -, dann gehört sie in die Reihe der großen Witwen: Alma Schindler Mahler Kokoschka Gropius Werfel, bekanntlich wollte Thomas Mann dann nicht mehr am Grabe der Männer von Alma reden. Aber Oona O’Neill, die Tochter des damals berühmtesten amerikanischen Schriftstellers Eugene O’Neill (Long day’s journey into night), ist viel mehr als das: ein Schnittpunkt der medialen Welten. Zunächst sah sie aus und benahm sich wie eine normale Multimillionärstochter. Sie betrank sich unter der Aufsicht livrierter Oberkellner und im Verein mit ihresgleichen im teuersten Club von New York. Aber da waren auch Truman Capote, Orson Welles und Salinger, die zur kulturellen Halbkugel der Eliten gehörten. War Salinger dort als zukünftiger koscherer Wurstfabrikant oder als späterer berühmtester amerikanischer Schriftsteller? Die amerikanischen Eliten, liest man auf vergnüglich-französische Weise, lebten enger als eng zusammen, das ist insofern bedenklich, weil Amerika viel größer ist, aber viel weniger Einwohner hat als Europa. Trotzdem wechselte gerade in der Zeit, um die es hier geht, der Schwerpunkt von der Ostküste an die Westküste, wo sich bis heute das mediale und monetäre Zentrum der Welt befindet.
Die kleine Oona verliebt sich, während Capote fortwährend die Kellner anhimmelt, in den schlaksigen Wurstfabrikantensohn mit seinen drei Kurzgeschichten. Sie ist erst sechzehn Jahre alt und erst an ihrem achtzehnten Geburtstag wird sie in die Weltgeschichte der Medien eintreten. Sie lieben sich und sie lieben sich nicht. Vielleicht ist Holden Caulfields kleine Schwester in Wirklichkeit Oona? Beigbeder schildert dieses eine Jahr, als wäre er als Paparazzo dabei gewesen. Er beschreibt die ständig feuchte Unterhose von Salinger genauso realistisch wie die Angstkeuschheit der doppelt kleinen Oona. Lebenslang sind sie aufeinander festgelegt gewesen, haben sich über den Ozean geliebt, nach Chaplins Tod noch einmal getroffen. Salinger hat als fünfzigjähriger Mann in dritter Ehe eine achtzehnjährige Krankenschwester (praktisch!) namens O’Neill geheiratet und damit Oonas Biografie nachgespielt. Oona dagegen kannte jedes Detail aus Salingers schmalem Werk. Soweit die Biografie.
Begbeider, der letzte (oder der erste?) Bohémien Europas, scheint den apodiktisch-trotzigen Stil von Salinger zu imitieren, wechselt im zweiten Teil aber auch in Hemingways souveräne Art und hat in seinen Kriegsschilderungen, die zum besten gehören, was zu diesem Thema geschrieben wurde, einen Satz-für-Satz-schnellst-cut-Modus gefunden, der atemberaubend und absolutisch realistisch wirkend Chaplins Schnitttechnik in den Stummfilmen imitiert. Tatsächlich aber ist mit der merkwürdig direkten Autorsprache ein neuer Montmartrestil gefunden, der sowohl das Buch als auch seinen Inhalt ungeheuer intensiv im Leser zu verankern vermag. Hätten die Amerikaner, schreibt Beigbeder auf Seite 235, 1944 schon über die Atombombe verfügt, so hätten sie Berlin zerstört und den Krieg damit früher beendet. Das ist einer der härtesten Sätze, die über diesen letzten aller Kriege je geschrieben wurden, und der die immanente Sinnlosigkeit des Krieges für alle Zeiten beschreibt. Die Schlacht im Hürtgenwald bei Aachen, weder von den Franzosen noch von uns, und schon gar nicht von den Russen überhaupt zur Kenntnis genommen, hätte die Amerikaner so frustriert, dass sie zu jeder Rache fähig gewesen wären, wenn sie zu ihr schon fähig gewesen wären. Es gibt, so steht es zwischen den Zeilen von Hemingway, Salinger und Beigbeder, keinen guten Krieg und keine gute Seite. Die Guten werden böse, wenn sie mit Waffen auf andere losgehen.
Salinger ging in den Krieg vielleicht aus dem Gefühl seiner verschmähten Liebe oder aus einem etwas übertriebenen Patriotismus heraus. Er hatte das Gefühl, dass er etwas für Amerika oder die Menschheit tun müsse. Zum Glück für die Menschheit beließ er es nicht bei diesem Beitrag als Kompaniechef, der die Gliedmaßen seiner toten Soldaten aufsammelte, und als Geheimdienstoffizier, der auch später noch, lange vor dem Internet, jede Adresse ausfindig machen konnte, sondern er schrieb einen Roman, der hundertundfünfzig millionenmal verkauft wurde und den wir alle für den besten Coming-of-age-Roman nach Werthers Leiden hielten, bis wir lasen, dass Hemingway als einziger verstand, worum es ging: der Einzelgänger im Massenschlachten, in Massenmedien, im Massenkonsum, das Individuum neu vermessen und kalibriert.
Oona O’Neill hatte unterdessen an ihrem achtzehnten Geburtstag als dessen vierte Frau den sechsundfünfzigjährigen Chaplin geheiratet, der am Ende seiner Karriere und seiner politischen Tragfähigkeit angelangt war. Selbst sein britischer Akzent und sein Migrantenstatus wurden ihm plötzlich angelastet. Er hat sich nicht nur mit Oona (Sie hält mich jung. Er macht mich reif.) und ihren gemeinsamen acht Kindern wunderbar getröstet, er ist auch geadelt worden, von einer Million Menschen in Großbritannien empfangen worden und hat seiner kleinen Großfamilie ein riesiges Palais an der Nordseite des Genfer Sees spendiert. Oona fuhr von nun an barfuß im Rolls Royce. Viele schreiben und er war selber auch der Meinung, dass er das Ende der Stummfilmära ist, dass seine Tonfilme ihn zu einem normalen Schauspieler gemacht haben, dass sie normale, also vergängliche Filme waren, wenn auch im ‚König von New York‘ Isaac Stern Geige und Louis Armstrong Trompete spielen.
Vielmehr haben Chaplin und Salinger etwas gemeinsam: Sie beschrieben die Inszenierung des Menschen in einer Welt, die immer voller wird: voller Menschen, voller Dinge, voller Geld und sogar auch voller Ideen. Der Film war gemeinsam mit der Schallplatte und dem Radio eines der ersten Medien, die große Menschenmassen erreichten. Immer wieder inszeniert Chaplin seinesgleichen aus der Anfangszeit. Wenn er auch Künstlerkind war, so waren seine Eltern doch mental, medial und monetär ganz, ganz unten. Es reichte nicht zum Überleben. Vor allem hätte dieses Leben, das seine Eltern führten, nicht zum Überdauern gereicht. Chaplin inszenierte und installierte einen Typus, den viele für real hielten, besonders als er sich in The Kid auch noch reproduzierte.
Die dritte Kreation von Chaplin aber war Hitler. Hitler hielt den Bart und die Art für echt, erkannte nicht, dass Chaplins Narrativ dessen Broterwerb war. Er glaubte und hoffte, dass man so sein müsse, um anzukommen. Also ging er so los wie Chaplin als Tramp in seinen Filmen. Chaplin war Multimedia-Künstler so wie Hitler eine Mehrfachnull war. Er imitierte mit großem Erfolg eine Inszenierung, die selbst schon ein übergroßer Erfolg gewesen war. Nullen aber, selbst wenn sie sich mit sich selbst multiplizieren, mutieren nie zur Eins. Merkwürdig ist nur, dass es damals nicht bemerkt wurde. Auch später dachten alle, dass Chaplin Hitler parodierte. Sein jüdischer Friseur aus dem ersten Krieg wurde nicht verstanden. Seine überlange und hochmoralische Rede feiert übrigens gerade bei Facebook und in anderen Medien ein Comeback nach dem anderen. Das alles zeigt uns, dass die Botschaft ein Medium braucht, dass das Medium immer totaler, ganzheitlicher wird, aber doch trotzdem immer Medium bleibt.
Hitler ist vielleicht der brutalste Ausdruck des merkwürdigen Festhaltens an alten Formen, des Unverstands der alten Männer gegenüber dem Neuen, den Söhnen. Genau das hat übrigens auch Freud beschrieben! Hitler hat zuerst seinen alten Vater imitiert, sodann den genau mit ihm gleichaltrigen Chaplin, dessen Narrativ ihm allerdings ebenfalls traditionalistisch erschien, denn wie jeder Narr blieben sich Chaplins Tramp und Hitler immer gleich, keine Entwicklung konnte sie trüben oder vorwärts bringen. Hitlers Programm war tatsächlich närrisch: er wollte eine ahistorische Welt erzwingen.
Der eine starb in den selbst produzierten Trümmern seiner alten Welt, die er vielleicht retten wollte, aber zertrümmerte, der andere ist der Clown der Medienwelt, der sie selbst schuf. Seine Botschaft aber überlebt alle Medien. Sieh den Jungen dort in der U-Bahn in New York oder Berlin, er sieht, hört, fühlt und schmeckt die Rede des großen Diktators, der ein kleiner geadelter Gutmensch ist, über den Sieg der Menschlichkeit…
2
[Wittgenstein in Linz]
Man muss gar nicht den vielleicht veralteten, auf jeden Fall aber überstrapazierten Fortschrittsgedanken bemühen, um den Vergleich der beiden im gleichen Monat und im gleichen Jahr geborenen Persönlichkeiten zugunsten Chaplins zu entscheiden. Es reicht die reine Quantität. Dabei muss man nicht fragen, wieviele Menschen kennen Hitler, wieviele kennen Chaplin, sondern, und eineindeutiger geht es dann nicht, wieviele leben mit den Folgen der beiden. Die Antwort ist: Eurozentrismus. Nur weil wir ständig über Hitler reden, wird er nicht bedeutend. Wir reden ständig über Hitler, weil wir das schlechte Gewissen unserer Vorfahren bedienen und weil wir in Deutschland und in Europa Folgen und Gedenksteine sehen können.
Trotzdem bleibt Hitler ein ideologisches und ein faktologisches Konglomerat. Seine Ideologie setzte sich aus bekannten rechtskonservativen, radikalen, rassistischen und sozialdarwinistischen Elementen zusammen, von denen er keines gefunden oder erfunden hatte. Im Gegenteil: er bezog alle diese Elemente aus schon aufbereiteten Broschüren. Vielleicht hat er gar kein Buch gelesen, geschrieben hat er jedenfalls keines.
Die Welt besteht aber nicht nur aus Europa. Die Weltbevölkerung hat sich seit Hitler nicht nur zweimal verdoppelt, sondern auch ihr Schwergewicht verlagert. Die Teile der Weltbevölkerung, die unseren Vorfahren marginal erschienen sein mögen, sind jetzt ihr Kern und ihr Hauptgewicht: China, Indien, Afrika, jedes mit 1,3 Milliarden Einwohnern. Es ist bei so großen Prozessen unsinnig, nach der Schuld zu fragen, aber so viel ist sicher: die grünlinksversifften Demonstranten waren es nicht. Selbst die Kommunisten waren Nationalisten. Man kann die Zukunft nicht voraussagen, aber nach heutiger Lage sieht es so aus, dass es keine dominierende Weltreligion geben wird, auch wenn alle diese Gruppen nach wie vor davon träumen. Auch eine einheitliche Regierungsform scheint es in absehbarer Zeit nicht zu geben, wenngleich viel für die Demokratie spricht. Alle rückwärtsgewandten Autokratisierungsversuche sind von beiden Seiten aus verständlich: viele Menschen sehnen sich nach einem Führer, der alles weiß und alles kann, und viele Politiker dichten sich selbst Omnipotenz an. Wenn die Welt aber immer komplexer und immer schneller wird, nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass es einfache, oft gestrige Antworten auf die vielen neuen Frage gibt. Die Neigung der neuen Probleme, in Dilemmata zu münden, hat wohl eher zugenommen.
Die Politik hat die repräsentativen Aufgaben von der Monarchie und von der Religion übernommen. Nach wie vor ahmen aber auch Religionsführer Politiker nach: wenn der Papst nach Berlin kommt, wird er von vier Kampfjets begleitet, seine Wachen ballern mit Heckler & Koch-Geräten. Jesus ritt bekanntlich auf einem Esel in Jerusalem ein und verbot seinen Jüngern mit sprichwörtlich gewordenen, heute noch gültigen Sentenzen die Benutzung von Waffen. Was uns fehlt, wenn uns etwas fehlt, sind nicht Waffen, sondern Visionen.
Nur aus der übergroßen Beachtung für die Politiker wächst ihre übergroße Verachtung. Ein großer Politiker, zum Beispiel Scipio Africanus, ist auch früher schon verehrt worden. Aber heute wird aus der sporadischen Erhöhung, zum Beispiel dem frenetischen Jubel zur Begrüßung des heimkehrenden Mannes, ein tausend Mal am Tag und millionen Mal im Jahr wiederholter floskel- und gebetsmühlenartiger Jubel. Die scheinbare Allmacht eines heutigen Politikers ist identisch mit seiner Allgegenwart. Selbst ein Helmut Kohl, von dem alle, die ihn erlebt haben, wissen, dass er ein visionsloser, rückwärtsgewandter Pragmatiker und Machtmensch war, wird heute, nachdem er tot ist, in den Rang eines großen Deutschen und großen Europäers gehievt. Seine Witwe wird sogar versuchen, ihn in die Klasse von Bismarck, Brandt und Scipio Africanus zu befördern. Daran hängt auch viel Geld.
Diese mediale Verstärkung aller Prozesse verdanken wir einerseits der Erfindung der Medien selbst. Samuel Morse, der den Telegraphen erfand, nicht das erste, aber das erste wirklich wirksame Mittel, Gedanken zu dislozieren, war im Hauptberuf Maler religiös-moralischer Bilder und lieferte zu seiner legendären Erfindung den Zweifel gleich mit: Warum, so fragte er, müssen die Menschen in Baltimore sofort wissen, was in Washington passiert? Vom Telegraphen zum Smartphone ist es ein Siebenmeilenschritt. Und heute fragen manche, und das war der Inhalt des ersten Telegramms, WAS HAT GOTT GETAN? [Numeri 23,23]. Die Medien benötigen, auch wenn das der große Medienguru Marshall McLuhan bestritt, eine Botschaft, weil nämlich wir Menschen eine Botschaft brauchen. Parallel zur Entwicklung der heute allgegenwärtigen Medien hat sich also eine Mediensprache entwickelt. Ganz am Anfang steht Chaplin. Er kreierte den Typen, der fortan die Welt bestimmen sollte, der gute, aber nicht sehr individuelle Mensch, der vom Pech verfolgt ist, aber das Glück sucht und bringt. Das sind wir. Der Trost, den wir früher aus der Religion ziehen konnten, kommt heute aus der medial verbreiteten Kunst. Die Kunst, sagte man früher, ahmt das Leben nach, das Leben ahmt heute im gleichen Maße auch die Kunst nach. Viel mehr Menschen schreiben, dank der Medien und überhaupt der Technik, die uns von groben Arbeiten befreit hat. Es entsteht dort ein übergroßer Widerspruch, wo die Erde mit dem Hakenpflug, die Kommunikation dagegen mit dem Smartphone bearbeitet wird.
Aber Hitler hatte nicht nur Chaplin als Vorbild. In seiner Realschule in Linz, die er bekanntlich nicht erfolgreich beendete, begegnete ihm der kleine Wittgenstein, ebenfalls wie Hitler und Chaplin im April 1889 geboren. Wenn er dessen Leben weiterverfolgt hat und wenn er damals gewusst hat, wer sein Schulkamerad ist, dann hat er ihn wohl lebenslang als Idol und Feindbild gehabt. Wittgenstein war hochbegabt, steinreich, hypermusikalisch und stockschwul, alles das, was Hitler sein wollte, aber nicht war oder nicht sein durfte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich kannten, ist groß, denn Wittgenstein, der sonst wie seine Geschwister Privatlehrer hatte, fiel durch seine exklusiven Manieren und Kleidungsstücke auf. Hitler und Wittgenstein, gleichaltrig, aber in unterschiedlichen Klassen, konnten beide wunderbar pfeifen und interessierten sich für Opern. Die beiden polarisierten den Schulhof wie später die Welt.
Aber Hitler hat nichts geschaffen, keine Mediensprache, keine Philosophie, kein Flugzeugtriebwerk, kein Gedankengebäude, keine Musik, keinen Film. Er konnte nur Postkarten und antisemitische Vorurteile und Opernfragmente reproduzieren. Der zweite Weltkrieg wurde von Joachim von Stülpnagel geplant, die armen Menschen aus Osteuropa sind von Heinrich Himmler und unseren Vorfahren ermordet worden.
quasi modo geniti infantes rationabile sine dolo lac concupiscite* 1. petrusbrief 22
Die Rohstoffe früherer Zeiten waren namen- und sinngebend für ganze Epochen der Menschheit: Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit, aber auch das Industriezeitalter mit seiner unseligen Triade Eisen, Kohle, Stahl, denn der Eiffelturm und das Kreuzbergdenkmal mögen uns rührend und anmutig vorkommen, sie sind aber auch harte Kennzeichen der gnadenlosen Ausbeutung der Natur, die wir jetzt distanziert Umwelt nennen. In diesem Industriezeitalter sind die großen Städte entstanden. Die größten Städte sind aber entstanden, als die Verteilung der Industrieproduktion schon längst abgeschlossen war und die Menschen in den weniger entwickelten Ländern trotzdem in die Städte drängten, weil sie dort auf das gleiche bessere Leben hofften wie die Menschen, die um 1800 nach Liverpool oder Wuppertal gingen. Statt des besseren Lebens ist ein Kult um den Müll entstanden. Der Wohlstand ruft, aber die Abfälle antworten. Kinder, jene reinen Wesen der Hoffnung und der Neugier, müssen gerade da zuhauf vegetieren, wo die Hoffnungslosigkeit herrscht. Zwar hungern jetzt weit weniger Menschen als 1950 oder 1900, aber je mehr wir von der Welt wissen, desto mehr erschreckt uns die althergebrachte Ungerechtigkeit. Unser Focus ist auf das Leid gerichtet. Das ist auf der einen Seite natürlich gut und stärkt unsere Empathie und zum Beispiel auch Spendenbereitschaft, auf der anderen Seite stärkt es aber auch den Abschottungsreflex, der aus der Angst entspringt, morgen wieder mit bloßen Händen dazustehen. Dabei sollten uns die Ruinen des Römischen Reiches daran erinnern, wie lange Reichtum vorhält, weit über den Untergang hinaus. Wer bereit ist, auch das immaterielle Erbe mitzuzählen, der wird im lateinischen Alphabet und in der lateinischen Sprache den Reichtum des Römischen Reiches sogar fortleben sehen. Wir müssen uns also keine Sorgen um uns machen. Wir werden schon nicht verschwinden.
Da in der Stadt Politik und Kunst gemacht werden, aber auch fast alle Gegenstände, erscheint es dem Städter so, als ob die Stadt mit sich selbst leben könnte. Kein Städter glaubt, dass außerhalb der Stadtmauern etwas Wichtiges passiert. Er kennt die Natur vom Spaziergang und vom Urlaub, aber er hält sie nicht für notwendig. Die wichtigen Events finden in der Stadt statt. Unter einem Event versteht der Städter aber nicht, wenn in seiner Nachbarschaft ein Blogger ein neues Wort gefunden hat und in die Welt hinaus sendet, oder ein Physikprofessor einen neuen Botenstoff für das Smartphone gefunden zu haben glaubt. Der Physikprofessor ist für den Städter vielmehr jener Veganer, der in einen Gummimantel gehüllt auf einem zehntausend Euro teuren Fahrrad fährt und als einziger in der Straße eine durch drei Etagen gehende Achtraumwohnung hat, in der zwei Steinwayflügel stehen. Unter einem Event versteht der Städter vielmehr ein Vergnügen, das er sich selbst bereitet, indem er in große Stadien zu Ballspielen und Konzerten geht, indem er stundenlang nach Karten ansteht, um in Riesendiskotheken die Nähe zu suchen, die ihm zuhause fehlt. Selbst Fernsehsendungen hält er für ein tatsächliches Ereignis. Wir leben, es ist fast trivial zu sagen, zu mehr als der Hälfte in Filmen statt in der Realität. Zählt man zu den Filmen noch die Videosequenzen, so ist ihre fast totale Wirkung besonders auf die natives – die mit ihnen aufgewachsenen – nicht zu überschätzen. Die Stadt befasst sich also fast nur noch mit sich selbst. Sie ist ein tautologischer Ort, aber kein unbekannter. Ihre Entdeckung folgt den filmischen Spuren, die vorher schon gelegt waren. Schon vor Jahrzahnten gab es in abgelegenen afrikanischen Dörfern Fernseher, die mit Notstromaggregaten, wie wir sagen würden, betrieben wurden. Den Menschen damals in Afrika kam es aber so vor, als ob man elektrischen Strom nur dafür brauchen würde, alte amerikanische und europäische Serienfilme zu sehen. Bis heute gibt es keine nennenswerte, also identitätsstiftende afrikanische Filmproduktion. Millionen afrikanischer Jungs wollen Fußballer werden, wofür sie auch oft ungeheuer begabt sind. Nur muss man befürchten, dass sich der Bedarf in engen Grenzen hält. Wenn wir also nicht gewollt hätten, dass sich das, was und wie wir tun, verbreitet, hätten wir weder das Fernsehen noch das Smartphone erfinden und verkaufen dürfen. Ihre Relativierung, die bei uns – wenn auch mit mäßigem Erfolg – gelingt, setzt eine Bildung außerhalb tautologischer Kreise voraus. Die mediale Parallelwelt ist einerseits Finsternis gegenüber der wirklichen Welt, andererseits aber die Verwirklichung der romantischen Idee von der Poetisierung, der Durchdringung des ganzen Lebens durch Geschichten. Wir haben dabei einen Halbanalphabetismus hingenommen, indem wir die großen Geschichten lieber nachspielen statt zu lesen. Was dabei an Einbildungskraft verloren geht, wird durch die pure Masse vielleicht ersetzt. Noch deutlicher ist es in der Kunst, die noch elementarer wirkt als die großen und kleinen Narrative, die Musik. Man könnte unser Zeitalter mit Fug und Recht das musikalische nennen. Noch nie vorher ist Musik so alltäglich und allgegenwärtig gewesen, wie gerade jetzt. Fast könnte man sagen, dass die Musik in einem quasiosmotischen Prozess von der medialen in die autochthone Welt überwechselt, ohne dass sie mechanischer Instrumente bedarf. Gleichzeitig gibt es aber eine erfreuliche Renaissance gerade dieser mechanischen Instrumente und die Allgegenwart der Musik besteht keineswegs nur aus Pop und Fahrstuhlmusik, sondern auch aus Bach und Beethoven und dem Silentnighttyp.
Die Menschen in den Millionenstädten nehmen also ihre Herkunft aus der Erde nicht mehr ernst. Sie halten sich für schaumgeboren. Da sie sich nur mit sich selbst beschäftigen, glauben sie, dass es auch nur sie selbst gibt. Um sie herum herrscht Menschenleere. Der Massencharakter ihrer Behausungen ist ihnen zwar klar, aber in der Menschenleere können sie nicht den Sinn des Ursprungs entdecken. Menschenleere ist ihnen Sinnleere. Kein Paradox ist ihnen nah. Zu dieser Entfremdung, schon aus Verehrung für die Familie Feuerbach verwenden wir gerne dieses Wort, hat sicher die Industrialisierung, also Entpersönlichung der Landwirtschaft beigetragen. Zudem ist die Erde, früher als Mutter bezeichnet, mit Chemie vollgepumpt worden, was ihre Fruchtbarkeit dankenswerterweise so erhöhte, dass der Hunger besiegt werden konnte. Gleichzeitig ging aber ihr unverwechselbar erscheinender Charakter als Mutter, als Ernährerin, als Allgebärerin verloren. Zudem sind die Rohstoffe, die unser Zeitalter bestimmen, unsichtbar. Während die Kohle in einem fast pathetisch zu nennenden Vorgang zutage gefördert wurde und sogar die Sprache bis heute beeinflusst, weiß niemand, woher die Seltenen Erden in seinem Telefon oder woraus die Plastikteile unserer Legowelt stammen. Statt nach der reinen Milch der Vernunft sehnen wir uns nach der kommentierten und tausendfach reproduzierten Nachricht über das, was wir schon wissen.
*Wie die neugeborenen Kinder seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch.
POSTSCRIPTUM: STADT LAND SCHLUSS
Auf dem Land beginnen hinter der Haustür die Ferien, wo der Städter Agenturen und Fluglinien zwischenschalten muss, mindestens aber eine U-Bahn. Der Städter glaubt sich in einem Versorgungscontainer, der ihn – außer dass er ihn zu versorgen hat – nicht weiter interessiert, aber der Landbewohner will auf nichts verzichten und nimmt deshalb Transportwege und Energieverschwendung in Kauf. Allerdings bleibt ihm immer noch mehr Zeit und Geld als dem Städter, da es auf seinen Wegen und in seinen Einkaufszentren keine Unterhaltung oder Ablenkung gibt.
Durch die Minimierung der Landwirtschaft auf der einen und Verlandschaftlichung der Städte auf der anderen Seite kam es zu einer ungeahnten Annäherung. Sie passierte so schnell, dass die Begriffe der Unterschiede, die es nicht mehr gibt, bestehen blieben. Die Urbanisierung hatte zwei große Schübe, und während der erste, der mit der Industrialisierung einherging, die Städte verstädterte, brach der zweite Schub ebendiese Verstädterung wieder auf. Gärten entstanden an den Rändern der Städte, die Gartenstadt wurde zum Ideal. Man wollte sie doppelt verwirklichen: in der Stadt und auf dem Land. Der Versuch, das Land mit einer ähnlichen Struktur wie die Stadt zu überziehen, ist allerdings gescheitert. Man kann in die Stadt zwar einen Garten zwängen, aber man kann den Garten, das Land, nicht auf den U-Bahn-Komfort zwingen. Der Vorteil des Landlebens bleibt ideal.
Stadt und Land haben sich so angenähert wie Mann und Frau (‚Bubikopf‘, ‚Erziehungsjahr‘, ‚Quote‘), Körper und Seele (‚psychosomatisch‘) Himmel und Erde (‚Fliegen‘, ‚Raketen‘), rechts und links (‚Lügenpresse‘). Mit dem Vorrücken der Demokratie verschwinden Hierarchie und Bipolarität. Diese Annäherung, die auch eine Auflösung altbekannter Sicherheiten darstellt, macht einer autoritätsgläubigen Menge von Menschen Angst und ermutigt eine liberale Elite. Immer wieder beschwören fundamentale Konservative die vermeintliche Ewigkeit von Fakt, Begriff und Ordnung. Aber die Welt zieht einfach weiter, die Felsen beben. Der Tsunami von Lissabon am 1. November 1755 musste, bevor er die Aufklärung brachte, erst die Gewissheit von katholischer Staatskirche hinwegfegen. Freiheit beruht auf Bewegung, die oft einem Tsunami gleicht.
Selbst Jugendliche, wenn sie autochthone Landbewohner sind, betonen die Ruhe, die man auf dem Land hat. Sie ahmen mit dieser Argumentation die Erwachsenen und die Zugezogenen nach. Ein Jugendlicher sucht nicht Ruhe, sondern Aufregendes. Aber sie wissen, dass sie ohnehin bald verschwunden sein werden. Unter dem Alibi der Ausbildung suchen sie ein aufregenderes Leben als in der so genannten Heimat. Im Internet sieht man sie beruhigt ihre Sehnsucht feiern. Wenn sie das Haus ihrer Großeltern erben, lassen sie es verfallen. Nichts bringt sie in die Ruhe zurück, nie mehr wollen sie zwanzig Kilometer fahren, weil sie vergessen haben Zigaretten zu kaufen.
Das Land ist, außer für die ein bis zwei Bauern pro Dorf und diejenigen traditionellen Bewohner, die zu alt sind, etwas neues anzufangen, nur für ehemalige Stadtmenschen interessant. Sie verdienten oder verdienen genügend Geld, um die vorhin schon erwähnten höheren Transport- und Energiekosten aufzubringen. Sie versprechen sich ein selbstbestimmteres Leben, als es in der Stadt möglich ist. Sie träumen von der Reinheit der Natur, obwohl sie von einer Landwirtschaft umgeben sind, die immer mehr zur Monokultur strebt und ihre Bodenprobleme mit Überdüngung löst. Es gibt zu viele Füchse. Aber weil es auch zu viele Rehe gibt, gibt es zu viele Jäger. Falls sie die zu vielen Ferienwohnungen mieten, gleicht sich ihre Anwesenheit durch die Zahlungen wieder aus. Sie stören die Landschaft beinahe mehr als die Windräder. Die Windräder sind allerdings der Preis oder besser der Tribut, den die menschenleeren Gegenden für ihr Privileg der Einsamkeit bringen müssen. Fährt man durch den äußersten Westen Westdeutschlands, so sieht man, dass der Preis, den diese Landschaften zahlen mussten, weitaus höher ist. Hier im Osten sind es eigentlich nur der Verfall und die Windräder, die den Menschen als Strafe auferlegt sind. Die Kreise werden immer größer und leerer. Lange war die Uckermark der größte Landkreis, ebenso groß wie das Saarland. Jetzt ist es der Kreis Mecklenburgische Seenplatte, er ist doppelt so groß wie das Saarland, das aber fast fünfmal so viele Einwohner hat.
Der Landbewohner bildet sich seine Selbstständigkeit weitgehend ein. Er geht in den gleichen Supermärkten einkaufen wie sein Gegenüber in der Großstadt. Der Vorteil des Landlebens bleibt Idealismus.
Der Städter kritisiert den Landbewohner wegen dessen Mangel an Struktur und vor allem Kultur. Der Landbewohner kritisiert den Städter wegen dessen Anonymität und Einsamkeit. Im Winter sieht der Landbewohner seine Nachbarn manchmal tagelang nicht. Der Stadtbewohner allerdings kennt angeblich seine Nachbarn namentlich nicht. Trotzdem kommt der namentlich nicht bekannte Nachbar sofort mit Enteisungsspray angerannt, wenn der Städter im Winter morgens seine Scheibe nicht vom Eis befreien kann.
Trotz der Kritik an den Städten bleiben sie bevorzugte Wohnorte. Trotz der Kritik an der Kulturlosigkeit des Landes bleibt auch das Land von bestimmten Menschen bevorzugt. Seit wir also genügend Geld haben, können wir wählen. Die Menschen in den ärmeren Ländern müssen da bleiben, wo sie sind, und das bleiben, was sie sind. Es ist zwar eine Frage des Geldes, aber auch ein Problem des Inhalts. Ganz ähnlich wie die Medien kann die Stadt dem Menschen zwar Angebote machen, aber wenn er nicht genügend Bildung oder Offenheit hat, dann kann er sie nicht annehmen und er ist dazu verurteilt, lebenslänglich fernzusehen. Auf dem Land ist es umgekehrt notwendig, dass man über genügend Bildung und Offenheit verfügt, um den Dörfern und Landschaften Angebote zu machen, damit sie nicht nur attraktiv, sondern bewohnbar bleiben.
Das riesige Schiff – man stelle es sich als Treidelaggregat vor, dann würde es von 80.000 Pferden gezogen – ist wieder freigeschaufelt, der Vollmond half mit seiner magnetischen Kraft. Aber es kann trotzdem nicht weiterfahren, denn die Kanalbehörde verlangt eine Untersuchung und eine Milliarde Dollar Schadenersatz. Auch die dritte Kanalkrise bringt uns nicht Erleichterung oder gar Befreiung von unserer pathologischen Abhängigkeit von möglichst billigen Importen, die alle wie das Kamel durch das Nadelöhr wollen, manche sagen auch: müssen. Die einseitige, vorfristige Verstaatlichung durch Ägypten löste die erste Suezkrise aus. Großbritannien, Frankreich und Israel gewannen militärisch, verloren aber politisch durch das Eingreifen der UNO. Vielleicht wurden Ägypten und seine Verbündeten durch diesen verdienten Erfolg zu ungerechtfertigtem Hochmut gegenüber Israel verleitet. Jedenfalls verloren sie im Sechstagekrieg ihre Luftwaffe, ihre Überlegenheit, Sinai, die Golanhöhen, den Gazastreifen und die Hoheit über den Kanal, der für acht Jahre nicht passierbar war.
Heute würden solche Konflikte nicht mehr militärisch gelöst. Der gegenwärtige Konflikt besteht auch nicht zwischen Staaten oder Ländern, sondern zwischen Mensch und Natur. Wenn ein Kind sprechen kann, kann es auch nein sagen. Sobald eine Straße gebaut ist, staut sich auf ihr der Verkehr. Absichten lassen sich nicht friktionsfrei verwirklichen.
Gerade weil die Menschheit mit der Coronakrise abgelenkt ist, wäre es möglich gewesen, das Durchfahren des Suezkanals drastisch zu reduzieren. Man hätte sich auf den Sechstagekrieg berufen und die seitdem beträchtlich erhöhten Exportmengen zunächst ignorieren können. Wir müssen eine Gelegenheit nutzen, mit dem Schlussmachen anzufangen. Wir sollten fossile Kraftstoffe und elektronische Billigteile künstlich verteuern und dadurch einsparen. Das geht nicht durch Appell, aber durch die Embolie im Kanal.
Der Embolus selbst zeigt die Krankheit des Systems: das Schiff ist vierhundert Meter lang und 60 Meter breit, trägt 20.000 Container, angefüllt mit überwiegend überflüssigem Plunder, und wiegt 220.000 Tonnen. Laster dieser Klasse sind etwas größer als die noch schädlicheren Kreuzfahrtschiffe. Das alles ist gigantomanisch und unersättlich und deshalb nicht mehr länger akzeptabel.
Leider haben wir keine Weltregierung, die so etwas kurzfristig durchsetzen könnte. Vielmehr zeigen alle Versuche, die Kräfte mehrerer Länder zu bündeln, dass wir alle noch zu sehr am Gifttropf des Nationalismus oder, allgemeiner gesprochen, des Egoismus hängen. Die Vorstellung der Ungleichwertigkeit ist noch falscher als man auf den ersten Blick sehen kann. Denn man kann seit neuestem weder Länder noch Menschen kaufen oder verkaufen. Sie haben keinen Preis, sondern eine Würde. Es gibt noch Sklaverei, sogar auch bei uns, aber sie ist marginal, geächtet und strafbewehrt. Vielleicht dauert es noch hundert Jahre, bis die Mehrheit der Menschen anerkennt, dass die Würde jedes einzelnen Menschen, egal woher und wohin, gleich unantastbar und unverhandelbar ist.
Und mit dieser neu entdeckten und geschützten Würde müssen wir uns wieder in die Natur einreihen und dieser ihre Würde zurückgeben. Der Gedanke ist nicht gerade neu. Schon Schopenhauer vermutete, dass wir das Leid, das wir den Tieren über Jahrtausende antaten, wohl kaum wieder gut machen könnten. Aber das ist kein Argument, einfach so weiterzuleben. Jede Erkenntnis ist die Chance zum Neubeginn.
Wir sind ohne Vater schon beschnitten genug, aber die Sucht der Mutter – und sei es Selbstsucht – lähmt uns vollständig. Romane und Filme des coming of age gibt es viele, und einige sind sehr gut und weltberühmt. Aber oft enden sie ‚draußen vor der Tür‘, so ein berühmter coming of age Titel, zeigen den Weg aus der verrotteten Welt der Eltern, aber weiter wissen sie auch nicht. Der Leser ahnt dann, dass der Protagonist der Autor wurde, der sich eben nicht erschossen hat, sondern mit der story in der Satteltasche floh.
Chiron, ein schwarzer Junge in einer ausschließlich von Schwarzen bewohnten Gegend, wird schon als Kind Schwuchtel genannt. Auch seine Mutter, die ihm ein Leid nach dem anderen zufügt, findet ihn zu weich. Der aus Kuba eingewanderte Dealer Juan nimmt sich seiner an, als er wieder einmal von einer Meute verfolgt wird. Chirons Problem ist nicht, dass er schwarz oder Schwuchtel ist. Er ist zu weich für diese Welt und er hat zu wenige Menschen, die ihn mögen, aber Juan und seine offensichtlich ebenso kinderliebe wie kinderlose Freundin gehören ab sofort dazu. Und von Anfang an hat er einen einzigen Freund, Kevin, der ihn nicht für ein Weichei hält. Chiron erleidet die Pubertät mehr als dass er sie erlebt. Der einzige Hinweis, dass er in sexueller Hinsicht anders sein könnte, ist der zärtliche Sex, den er mit Kevin am Strand hat, aber der geht von Kevin aus und Kevin, der mit seinen Mädchengeschichten prahlt, bemerkt die Unerfahrenheit Chirons, sein fast ängstliches Suchen mit den Lippen und Händen. Und eben dieser einzige Freund Kevin wird von der ebenso bösen wie hässlichen Schulgang gezwungen, Chiron niederzuschlagen.
Chiron, auch von der Sozialarbeiterin gedemütigt, die es gut mit ihm meint, greift zu der Abwehr, die er kennt, zu der Gewalt, die ihn umgibt, zu dem einzigen Ausweg, den er in die Ecke gedrängt sehen kann, wenn er weiterleben will: er zerschlägt im Klassenraum der Highschool einen Stuhl und den Schädel des Anführers.
Kann sich der Mensch selbst erschaffen? Von Religionen und Realisten wird das vehement bestritten. Die Literatur der letzten hundert Jahre versucht dagegen den Umgang des Menschen mit sich immer konstruktiver zu zeigen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sich parallel dazu Geschlechtsumwandlungen und Wandlungen vom Tod zum Leben ereignen. Orhan Pamuk hat uns gerade einen Roman** geschenkt, der einen sehr einfachen, aber desto lieberen Menschen, den Straßenhändler Mevlut Karataş in Istanbul, in eine falsche Familiengeschichte hineingeraten lässt. Er schreibt an die richtige Schwester Liebesbriefe, die aus Textbausteinen bestehen, und entführt und heiratet dann die falsche Schwester und liebt sie. Um ihn herum wird eine falsche Stadt aus Gecekondus gebaut, Hütten, die in einer Nacht errichtet werden und deshalb keiner Baugenehmigung bedürfen. Paul Auster schreibt dagegen einen, seinen, Roman*** über die Varianten des Lebens, die wir alle mehr oder weniger tatsächlich erleben. Jedes Denken ist Wunsch. Jede Biografie ist auch Traum und Zerstörung. Keineswegs benötigt man, wie ein Kritiker schrieb, eine Tabelle, um sich alle Varianten merken zu können, vielmehr wird die Persönlichkeit des kleinen Archibald Ferguson um die Nuancen reicher und reicher, die seine Träume, Varianten und Verstellungen ausmachen. Paul Auster beruft sich schließlich auf das literarische Programm: die Verwandlung eines Menschen in einen Käfer****.
Das Problem des Jungen Chiron ist nicht so sehr, dass er vom Bösen umgeben ist. Auch als er im Gefängnis ist, es bleibt offen, ob der offen böse Gangleader überlebt, ist anscheinend nicht das Böse sein Problem. Er ist so still und verschlossen, dass er zwar das typische Opfer zu sein scheint, aber er ist auch nicht offen für den breiten Weg und die breite Pforte. Überall sind die Gefängnisse voller Menschen, die schon in ihrem Unglück gefangen sind. Das Böse heute ist nicht böser, als es schon immer war, aber das Gute ist auch genauso unsichtbar wie schon immer. Das Ideal des harten Dealers ist nicht weich zu sein, wie Juan, als er den verfolgten zarten und weichen Knaben entdeckt, sondern ein Auto, das allein mit seinem Motorgeräusch die Gasse erschüttert. Der Dealer wird nicht zum Leader, obwohl das ein Anagramm und demzufolge eine wunderbare Lösung wäre. Statt dessen steckt der dealer selbst in einem zu Tränen rührenden Dilemma, wenn ihm eines seiner Opfer plötzlich statt als Schlampe als Mensch, als Mutter und eben als Opfer bewusst wird. Die Mutter hingegen mag sich lange nicht damit abfinden, dass jemand anderes, jemand besseres sich um ihr geliebtes Kind kümmert. Erst in der altersweisen Schlussszene, und das ist eine der größten Leistungen des Films, die so genannten einfachen Menschen, die Opfer der Drogen und der Gesellschaft, als weise und milde zu zeigen, obwohl sie auch hart und gewalttätig sein könnten und auch oft genug sind, erst in der altersweisen Schlussszene in der Drogenklinik bekennt sich die Mutter zu ihren Fehlern und damit zu dem notwendigen Ersatzvater Juan. Chiron fehlt, wo das höchste Ideal der Deal ist, das röhrende Auto, der Dealer als Leader, der Sinn. Ein Sinn steckt nur in tiefer Menschlichkeit, die verschiedene Quellen haben kann, Vorbild, Philosophie, Religion, Leid, Verlust, selten Gewinn. Nicht die Anwesenheit des Bösen, sondern die Abwesenheit des Guten ist das Problem für Menschen in unbehüteten Verhältnissen. Die Sinnleere ist die schlimmste Lehre, die ein Mensch erfahren kann.
Auch filmisch ist MOONLIGHT ein Meisterwerk. Besonders stark sind die inszenatorischen Stanley Kubrick Zitate. Die Gewaltszenen dehnen sich unendlich, unaushaltbar, teilweise ohne Ton, teilweise mit klassischer Musik oder hip hop unterlegt. Die Taufszene, Chiron lernt in den Armen von Juan schwimmen, ist der Schlüssel zum Verständnis des Lebens: nur, wer schwimmen kann, kann das schmutzige feindliche Meer des Lebens überstehen. Irgendwann, sagt Juan zu Chiron, musst du dich entscheiden, wer du bist. Es gibt ein kleines Castingproblem, in dem weder Chiron noch Kevin als Erwachsene richtig gut zu erkennen sind. Die erwachsenen Schauspieler haben das aber mit großem darstellerischen Können überspielt: sie ahmen die Gesten, die Mimik, die Bewegungen ihrer jüngeren Kollegen meisterhaft nach. Wir Menschen bestehen in der Tat nicht nur aus Aussehen, sondern auch aus Charakter und Taten. Der hart-weiche Drogendealer Chiron mit dem noch größeren Auto ist immer noch das sensible motherless child aus dem Blues und aus dem griechischen Mythos, zu Tränen fähig und trotzdem im Leben verankert, wenn auch im falschen. Mit Paul Austers Protagonisten Ferguson könnte er sagen: ‚Ich bin du. Wer sollte ich denn sonst sein?‘ Das ist deshalb kein Film über Schwule oder Schwulsein, sondern über die Konstruktion des Menschen, der immer eine Dekonstruktion vorausgehen muss. Es gibt wohl doch ein richtiges Leben im falschen.
2
Das Konstrukt dieser Geschichte erlaubt nur eine Lösung. Wenn es aber möglich ist, und auch das ist eine Botschaft des Films, sich aus der Katastrophe herauszukonstruieren, dann muss es auch möglich sein, sich in ein besseres Leben hineinzukonstruieren. Ein Zweistundenfilm kann nicht das komplexe Leben zeigen, sondern nur eine Möglichkeit. Nie gibt es nur einen Grund oder eine Lösung oder eine Katastrophe. Langston Hughes, der erste schwarze Lyriker Amerikas, war bus-boy und legte einem zufällig anwesenden Dichter seine Gedichte unter den Teller. Langston Hughes wurde entdeckt, gedruckt und berühmt, steht heute in allen Schulbüchern Amerikas: I, too, sing America. James Baldwin ist sogar unserem Chiron, dem Protagonisten aus Moonlight, mit der alleinstehenden Mutter ganz nahe. Und schließlich stammt der erste schwarze Millionär ebenfalls aus dem Süden, aus New Orleans, aus dem Waisenhaus und aus dem Slum: Louis Armstrong. Zur Konstruktion des Lebens gehören nicht nur Talente und Förderer, sondern auch Glück. Das ist bei der Konstruktion von Geschichten nicht anders.
Armstrong spielte in der funeral band des Waisenhauses auf einem zerbeulten Horn, wie er sein Kornett auch später noch nannte, Baldwin und Hughes haben von Anfang ihres Lebens an immer gelesen und geschrieben. Aber in all diesen wirklichen oder konstruierten Biografien geht es nicht um schwarz oder schwul oder weiß oder Ehe mit Kind, sondern um die Frage, ob und wie man einem durch die vielzitierten Umstände, und früher glaubte man durch ein prädestinierendes Schicksal, vorbestimmtem Leben folgen muss oder ausweichen kann.
Neben den Eltern und ihrem sozialen Milieu und dem Drang zum Überleben mit seinem Zwang zu kontinuierlichem entfremdetem Tun, aus dem sich diese unsägliche Erniedrigung der Arbeitswelt, schließlich auch sogar die Prostitution und Sklaverei ergeben, gibt es seit der Antike den transzendenten Bereich der Schamanen, Dichter, Priester und Lehrer. Unsere Vorfahren vor hunderttausenden Jahren haben die Jagd gespielt, bevor sie jagen gingen, haben getanzt bis zur Trance, bevor sie erwachsen werden durften, haben ihr Bewusstsein mit Drogen erweitert, bevor sie wissen wollten und wissen durften.
Lange Zeit war Kunst elitär, aber durch Religion, Bauten und Schule wenigstens minimal präsent, Religion diskriminierend, aber immer auch tröstend und Schule nur fundamental, aber das auch wieder lange Zeit elitär. Globalisierung ist also immer auch als Universalisierung zu verstehen. Die Schule musste von der Alphabetisierung (Lateinschule) zu einem universellen Instrument der Integration werden. Deshalb ist jede Kritik an der so genannten Verflachung oder Entelitärisierung verfehlt. Die Emanzipation der Frauen, der Schwarzen und der Schwulen fand im wesentlichen in der Schule statt, während die stupid white old men in Weißen Häusern und Petersdomen vor sich hinvegetieren. Das klingt ein bisschen wie Argumentation aus den sechziger Jahren, aber wir reden über Moonlight, den Film, und wir reden über Berlin und Deutschland, das es geschafft hat aus der Hauptstadt der Diskriminierung zu einer der Hauptstädte der Globalisierung und Fraternisierung zu werden. Der Begriff der Fraternisierung (in Abgrenzung zur Verbrüderung als allgemeiner Kooperation) stammt aus dem ersten Weltkrieg, der in spieltheoretischer Sicht als Nullsummenspiel gesehen werden kann, der Sieg der einen Seite war die Niederlage der anderen, und das heißt, dass Untätigkeit und Entfeindung des Feindes ein notwendiges Verhalten war. Überhaupt darf man die beiden Großkatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur unter dem Aspekt des Völkermords und der sinnlosen Zerstörung sehen. Sie sind das Ende einer mörderischen Epoche und die Geburt der Epoche der Globalisierung und Fraternisierung, hier im Sinne von Emanzipation, Gleichmachung vor allem auch von Menschengruppen mit konstruierter Differenz oder Feindschaft gemeint. Fraternisierung fand vor allem auch im intersexuellen Bereich statt, wir erinnern an das unschöne Wort Rheinlandbastard und an die schöne Tatsache, dass es hunderttausende schwarze Deutsche erst gab, seit Heinrich Himmler deutscher Innenminister war. Damit wir uns nicht missverstehen: nach der äußersten mörderischsten Diskriminierung kam die schöne und weitere Schönheit hervorbringende Fraternisation. General Robertson, der britische Oberkommandierende im Nachkriegsdeutschland, forderte die amerikanischen und britischen Soldaten auf, sich als Besatzer so zu verhalten, dass den Deutschen der Besatzungs- und Gewaltzustand vergessen gemacht werden könnte. (SPIEGEL 14/1948).
Juan im Film MOONLIGHT sagt, weil er glaubt, dass Chiron vielleicht unter seiner Hautfarbe leiden könnte, dass es schwarze Menschen überall gibt. Chirons Problem ist aber nicht seine Hautfarbe, sondern sein Mangel an Sinn. er weiß nicht, wohin mit sich und seinen Tränen. Ihm bleibt nur das Zerfließen.
Aber seit Louis Armstrong ist die Kunst allgegenwärtig, wenn auch oft dem Kommerz oder einer Ideologie folgend, die Religion säkularisiert, wenn auch oft politisch instrumentalisiert, und die Schule wenigstens im Aufbruch, mal durch sinnlose Verwaltung, mal durch die eigenen Traditionen oder Inkompetenz gehemmt.
Wie hätte nun der kleine traurige Chiron und Millionen anderer trauriger Kinder etwas Besseres werden können als weicher Drogendealer oder Sklave auf dem Arbeitsmarkt, was schon beinahe ein Privileg ist?
Wir müssen eine Schule schaffen, die nicht Kübel vermeintlicher Fakten und vorgeblicher Kausalzusammenhänge über die Kinder ausschüttet oder sogar mit Trichtern zu infiltrieren versucht, sondern in der jedes Ich Ich sein kann und Wege ausprobieren, um zu dem Ich zu werden, was in der Hülle des kindlichen Ichs verborgen war. Wir sehen in dem Film und in den Wirklichkeiten unserer Welt Jugendliche doppelt scheitern – erst werden sie gemobbt und zusammengeschlagen und schlagen zusammen, dann werden sie bestenfalls Elendsdealer -, und sollten nicht endlich die Idee einer neuen Schule haben?
GEGEN DIE ZERSTÖRUNG DER WELT GIBT ES NUR EINE VERTEIDIGUNG: DEN KREATIVEN AKT. [Kenneth Rexroth]
Wir müssen es wagen, Schule, Kunst und transzendente Orientierung in einer Institution zu vereinen, die so wenig wie möglich Institution und Hierarchie sein darf und in der Künstler, Priester und Lehrer und die Rezipienten als Akteure soviel ICH wie möglich entwickeln können. Wir folgen damit John Deweys learning by doing, Rezeption als Aktion. Jede Aktion hat 1000 Gründe.
Die radikale Bildungsreform wäre das Dreispartenmodell: Theater, Fußball und Scouting. Wir folgen damit Lord Baden-Powell. In der Sparte Theater finden sich alle Sprachen, die eigene und zwei oder drei Fremdsprachen, Literatur vor allem als Schreiben, Philosophie im antiken Sinn als umfassendes Nachdenken einschließlich Religion und Psychologie, Rollenspiel, aber auch Musik, Malerei, Polytechnik. Jeder Schüler gehorcht seinen Neigungen, muss aber überall auch aushelfen. Fußball bedient den Bewegungsdrang und die Notwendigkeit der Bewegung, aber auch Strategie und Taktik, Spieltheorie, Kooperation, Teamwork und Teamgeist, Freude. Wir folgen damit Fröbel und Montessori. Es gibt natürlich Alternativen für die Fußballallergiker, ohnehin zerlegt das Training des Fußballs sich in verschiedene Sportarten, die auch einzeln gewählt werden können. Jeder Schüler gehorcht seinen Neigungen. Die dritte Sparte schließlich ist das Scouting, das Aufsuchen der Spuren des Menschen in der Natur und der Natur im Menschen. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie finden in der Natur statt. Die Schüler können sich spezialisieren. Spieltheorie ist die Verbindung zu den beiden anderen Sparten. Es gibt keine Prüfungen und Zensuren, sondern nur Projekte mit ausführlicher Auswertung, die erfolgreich oder weniger erfolgreich sind.
Utopisch war auch der Ersatz des Bruttosozialprodukts durch das Bruttonationalglück. Utopisch war auch die Sozialversicherung. Utopisch war auch das Fliegen oder Telefonieren, das Fernsehen, die Raumfahrt. Manchmal erscheint einem das Glück unter einem riesigen Berg von Vorurteilen frei daliegend und der Diskurs darüber ertrinkt in Worten. Man muss das Glück nur ausgraben und ergreifen.
Vielleicht ist das mit Auferstehung gemeint.
Schwerin, Ostern 2017
* MOONLIGHT von Barry Jenkins, nach dem Theaterstück von