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Das riesige Schiff – man stelle es sich als Treidelaggregat vor, dann würde es von 80.000 Pferden gezogen – ist wieder freigeschaufelt, der Vollmond half mit seiner magnetischen Kraft. Aber es kann trotzdem nicht weiterfahren, denn die Kanalbehörde verlangt eine Untersuchung und eine Milliarde Dollar Schadenersatz. Auch die dritte Kanalkrise bringt uns nicht Erleichterung oder gar Befreiung von unserer pathologischen Abhängigkeit von möglichst billigen Importen, die alle wie das Kamel durch das Nadelöhr wollen, manche sagen auch: müssen. Die einseitige, vorfristige Verstaatlichung durch Ägypten löste die erste Suezkrise aus. Großbritannien, Frankreich und Israel gewannen militärisch, verloren aber politisch durch das Eingreifen der UNO. Vielleicht wurden Ägypten und seine Verbündeten durch diesen verdienten Erfolg zu ungerechtfertigtem Hochmut gegenüber Israel verleitet. Jedenfalls verloren sie im Sechstagekrieg ihre Luftwaffe, ihre Überlegenheit, Sinai, die Golanhöhen, den Gazastreifen und die Hoheit über den Kanal, der für acht Jahre nicht passierbar war.
Heute würden solche Konflikte nicht mehr militärisch gelöst. Der gegenwärtige Konflikt besteht auch nicht zwischen Staaten oder Ländern, sondern zwischen Mensch und Natur. Wenn ein Kind sprechen kann, kann es auch nein sagen. Sobald eine Straße gebaut ist, staut sich auf ihr der Verkehr. Absichten lassen sich nicht friktionsfrei verwirklichen.
Gerade weil die Menschheit mit der Coronakrise abgelenkt ist, wäre es möglich gewesen, das Durchfahren des Suezkanals drastisch zu reduzieren. Man hätte sich auf den Sechstagekrieg berufen und die seitdem beträchtlich erhöhten Exportmengen zunächst ignorieren können. Wir müssen eine Gelegenheit nutzen, mit dem Schlussmachen anzufangen. Wir sollten fossile Kraftstoffe und elektronische Billigteile künstlich verteuern und dadurch einsparen. Das geht nicht durch Appell, aber durch die Embolie im Kanal.
Der Embolus selbst zeigt die Krankheit des Systems: das Schiff ist vierhundert Meter lang und 60 Meter breit, trägt 20.000 Container, angefüllt mit überwiegend überflüssigem Plunder, und wiegt 220.000 Tonnen. Laster dieser Klasse sind etwas größer als die noch schädlicheren Kreuzfahrtschiffe. Das alles ist gigantomanisch und unersättlich und deshalb nicht mehr länger akzeptabel.
Leider haben wir keine Weltregierung, die so etwas kurzfristig durchsetzen könnte. Vielmehr zeigen alle Versuche, die Kräfte mehrerer Länder zu bündeln, dass wir alle noch zu sehr am Gifttropf des Nationalismus oder, allgemeiner gesprochen, des Egoismus hängen. Die Vorstellung der Ungleichwertigkeit ist noch falscher als man auf den ersten Blick sehen kann. Denn man kann seit neuestem weder Länder noch Menschen kaufen oder verkaufen. Sie haben keinen Preis, sondern eine Würde. Es gibt noch Sklaverei, sogar auch bei uns, aber sie ist marginal, geächtet und strafbewehrt. Vielleicht dauert es noch hundert Jahre, bis die Mehrheit der Menschen anerkennt, dass die Würde jedes einzelnen Menschen, egal woher und wohin, gleich unantastbar und unverhandelbar ist.
Und mit dieser neu entdeckten und geschützten Würde müssen wir uns wieder in die Natur einreihen und dieser ihre Würde zurückgeben. Der Gedanke ist nicht gerade neu. Schon Schopenhauer vermutete, dass wir das Leid, das wir den Tieren über Jahrtausende antaten, wohl kaum wieder gut machen könnten. Aber das ist kein Argument, einfach so weiterzuleben. Jede Erkenntnis ist die Chance zum Neubeginn.