UNFIT

aus:  HUNDERT TAGE MEINES LEBENS

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Ein Freund lud mich ein, mit ihm die Touristenstrecke, die früher meine Schüler-Geschichts-Meile war, vom Reichstag bis zum Jüdischen Museum, mit dem Elektroroller zu befahren und fragte mich vorsorglich, ob ich dafür fit genug wäre. Als ich in der Tiefbauschule anfing, also 1979, stand an der Straßenbahnhaltestelle der 70, in der Pistoriusstraße in Weißensee, vor der Volksbuchhandlung, die nun ein Dönerladen ist, ein Mann in meinem jetzigen Alter, an dessen Nase stets ein ekler Tropfen hing. Er hatte schäbige Sachen an und trug eine schäbige, ganz dünne, wahrscheinlich leere Aktentasche, die ihn zum Büroarbeiter machte. Er erinnerte mich merkwürdigerweise an meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt ihre letzte, aber dann noch Jahrzehnte währende Arbeit bei der Berliner Domkantorei unter Kirchenmusikdirektor Herbert Hildebrandt begann. In der Tiefbauschule war ich, wahrscheinlich nur für kurze Zeit, der jüngste Lehrer, und wurde auf der Freitreppe zum Hof von Schülern gefragt, seit wann die Ordnungsschüler hier etwas zu sagen hätten. Der damals älteste Kollege war ein legendärer Zimmermann, der im Unterricht aber nur noch seine Legenden erzählte, wie zum Beispiel, dass er einen Nagel mit der flachen Hand oder mit der Faust in einen Balken einschlagen konnte. Ich glaube es heute noch nicht. Wenn er aus der Lehrertoilette kam, hatte er an seiner Hose vorne einen großen Urinfleck. Er war zu jener Zeit zehn Jahre jünger als ich jetzt.

Mein kleiner Patenenkel Nathan wird bald fünf Jahre alt und soll ein neues Fahrrad und ein neues Bett bekommen. Zuerst fahren wir also zu Fahrrad-Stadler, dem größten Zweiradgeschäft Deutschlands, auch mein geliebtes FOCUS ist aus diesem Laden. In die U-Bahn stieg am Sophie-Charlotte-Platz ein alter Mann, sicher schon über achtzig, groß, schwer, und er wäre sogar stattlich zu nennen gewesen, wenn er nicht mitsamt seinem Fahrrad beim Anfahren der U-Bahn so schwer gestürzt wäre, dass er selber nicht mehr hochkam. Wir halfen ihm, mehrere Leute waren besorgt und gaben ihm gute Ratschläge. Am Kaiserdamm stiegen wir aus. Plötzlich hörten wir hinter uns einen lauten Schlag und ein rhythmisches Weiterschlagen: bam-bambam-bam-bambam: Der alte Mann war auf der Rolltreppe wieder schwer gestürzt, sein Fahrrad schlug unten immer gegen die nächste Stufe. Ungeachtet der äußerst gefährlichen Lage versuchte der alte Mann nun, die Treppe rückwärts hinunterzugehen, was ihm natürlich nicht gelingen konnte. Das ist ein Sport für junge Burschen. Nathans Vater rannte nach unten, Nathans Mutter und ich hoben den 100-Kilogramm-Mann auf, der erneut gestürzt war. Wir vermuteten nach getaner Rettung, dass er möglicherweise betrunken sei, dass er nichts mehr hört, einigten uns dann aber auf meine Formel, dass er die Welt nicht mehr versteht. Er versteht nicht, dass er nicht mehr schafft, was er früher spielend schaffte. Wenige Minuten später raste Nathan mit seinen Proberädern die langen Gänge des tatsächlich außergewöhnlichen Ladens auf und ab, übervorsichtig betreut von seinem Vater. Die Fahrräder in diesem Laden sind nicht gerade billig, aber sein Vater ist ein fleißiger Mann, der keine Sonderschicht auslässt, um Überstunden und Feiertage extra bezahlt zu bekommen. Er war bei mir 2015, im ‚WIR-SCHAFFEN-DAS‘-Flüchtlingsjahr im Deutschkurs, daher kennen wir uns. Es war das Jahr, in dem die Nazis annahmen, dass die Flüchtlinge wegen des christlichen Nächstenliebesatzes der CDU-Kanzlerin Merkel aus Templin gekommen wären. Nathans Vater und andere, die ich kenne, haben Jahre gebraucht, haben in Khartum und Tripolis monatelang gearbeitet, und haben von Frau Dr. Merkel zu ersten Mal in Eisenhüttenstadt gehört, dem damaligen Zentralaufnahmelager für die östlichen Bundesländer.  

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In meinen letzten beiden regulären Arbeitsjahren hatte ich jeweils eine Fachabiturklasse und - damit ich es ein bisschen leichter hätte - zwei oder drei Berufsvorbereitungsklassen. Das sind junge Menschen ohne Schulabschluss, die durch die Jobcenter - bei Androhung von Strafen – aufgefordert werden, sich wenigstens für einen Beruf zu interessieren. Die Arbeit ist insofern leicht, dass nie alle da sind, dass aber die da sind, dankbar jede Hilfe annehmen, soweit ihre Konzentrationsfähigkeit reicht. Es kamen zu Beginn des Schuljahres also vielleicht 50 Jugendliche mit einem Schreiben vom Jobcenter. Sie saßen in der Aula und meine Kollegin D., die stellvertretende Abteilungsleiterin, liest laut die Klassenbezeichnung und die dazugehörigen Namen vor. Sowohl Lehrer als auch Schüler können aber auch Wünsche äußern, in welche Klasse wer aufgenommen werden soll. Da stutzt sie bei einem für sie schwer auszusprechenden Namen. Ich sehe auf das Blatt: es ist der Name des islamischen Gelehrten und Lehrers von Mehmet II., dem Eroberer Konstantinopels. Jahrelang stand an meiner Bibliothekstür in Türkisch und Deutsch der Satz, den Mehmet II., damals zwanzig Jahre alt, gesagt haben soll, nachdem er die Stadt eingenommen hatte und man ihm Rosen überreichte, die er an seinen Lehrer weitergab: ICH BIN DER EROBERER, ABER DAS IST MEIN LEHRER. Ben fatihim ama bu benim öğretmenim.
Der Junge, der so hieß wie dieser berühmte Lehrer, beobachtete unser leises Gespräch, in dem ich meiner Kollegin die Bedeutung dieses Namens erklärte. Mit einem Lächeln nahm er auf, dass ich ihn ausdrücklich in meiner Klasse haben wollte. Es war vielleicht das erste Mal, dass ihn jemand haben wollte. Später erfuhr ich, dass der Vater, ein hochreligiöser Mann, die Familie verlassen und die Mutter mit den beiden Kindern zurückgelassen hatte. Die Mutter schlug sich als Reinigungskraft durch und konnte sich damit nur eine kleine Wohnung im Osten Berlins leisten. Der Junge mit dem schönen und bedeutungsvollen Namen kam auch eine zeitlang zur Schule, aber bald verfiel er in sein altes Bummelschema: nicht aufstehen, die Mutter war längst zum Malochen gegangen, fernsehen, zocken, dann war es zu spät für die Schule.  Er hat mir erzählt, dass er seit vielen Jahren schon nicht mehr mit Lehrern gesprochen hatte. Er antwortete einfach nicht, wenn sie ihn etwas fragten.
Vielleicht war es der letzte sehr warme Spätsommertag, als ich mich entschloss, ihn bei sich zuhause aufzusuchen. Ich fuhr mit dem Fahrrad durch das heiße Berlin, von Weißensee bis Friedrichshain, das ist nicht sehr weit, aber es war sehr warm. Ich schwitzte stark. Es war eine ganz kleine Straße, in der aber die gleichen Neubauten aus den fünfziger Jahren standen, wie in der benachbarten großen Allee mit dem einst widerwärtigen Namen. Ich klingelte mehrmals und musste lange warten. Es war eine Geduldsprobe, aber ich war sicher, dass er zuhause wäre. Dann kam ein ganz leises JA, beinahe verstört aus der Sprechanlage. Er öffnete mir. Oben an der Wohnungstür stand ein staunender Schulschwänzer, der es nicht glauben konnte, dass ihn jemand suchte.  Er brachte mir sofort ein Glas Wasser und hörte sich dann meine Sermone zu seinem Verhalten an. Wir saßen im Wohnzimmer, in dem aber auch das ungemachte Bett seiner Mutter war, eine Ausklappcouch. Sein Zimmer wollte er  mir nicht zeigen. Aber das und meine Reden waren nicht wichtig. Er hatte seinen Entschluss gefasst und kam von dem Tag an tatsächlich regelmäßig zur Schule. 

Diese Klassen werden regelmäßig vom Berliner Fußballklub Hertha BSC zu einer workshop-Woche eingeladen. Trainer und Mitarbeiter arbeiten dann mit den Jugendlichen. Am Sporttag kam mich unser Sozialarbeiter besuchen, dem wir wohl diesen Kontakt zum berühmten Verein verdankten. Wir saßen also beide auf der Zuschauertribüne der großen Halle und sahen zu, wie unsere nicht so sonderlich glücklichen Schüler Sport trieben. Plötzlich aber sahen wir: den Jungen mit dem berühmten Namen. Er machte eine ausgezeichnete Figur. Wir beobachteten ihn eine Weile zu unserem größten Erstaunen. In der Pause besprachen wir uns mit dem Trainer, der unseren Eindruck und die Begabung des Jungen bestätigen konnte. Unser Sozialarbeiter ließ seine Verbindungen spielen, und es gelang uns, für den sportlich hochbegabten Jungen eine Ausbildung als Rettungsschwimmer mit anschließendem Arbeitsplatz zu organisieren. Noch einige Jahre schrieb er mir, dass er immer noch da arbeite. Inzwischen aber, das ist alles mehr als ein Jahrzehnt her, ist der Kontakt abgebrochen. Wir können nicht das Leben anderer Menschen leben. Wir können nur helfen und Angebote machen.

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Dann kam bei mir die Phase der Deutschkurse. Hin und wieder habe ich auch einen oder einige Nachhilfeschüler. Manche wollen nur ihre Zensur verbessern, oft von den Eltern angetrieben. Andere sind wirklich hoffnungslose Fälle. Sie entsprechen vielleicht dem Vorurteil. Aber auch hier geschehen Wunder.

Drei Stunden pro Woche bekommt ein 15jähriger Schüler der achten Klasse, vom Jobcenter bezahlt, weil seine Eltern nicht genug verdienen. Er geht nicht gern in die Schule, schläft manchmal im Unterricht ein, den Kopf auf den Armen, die Arme auf dem Tisch. Jeder Lehrer kennt das Bild und ärgert sich über diese Wirklichkeit, die ab und zu vorkommt. Aber, so erfahre ich weiter, er ist auch nicht gerne in dem Land, in das seine Eltern und die gesamte Großfamilie ausgewandert sind. Zwar wohnen sie nur zehn Kilometer von der Grenze entfernt. Er kann jederzeit – sogar mit dem Fahrrad – hinüberfahren. Sie kaufen dort jede Woche ein. Sie haben ein kleines Haus in der Nähe der Ostseeküste und in der Nähe eines einst und jetzt wieder berühmten Badeortes. Er wirkt gar nicht so unzufrieden, eher gelangweilt, desinteressiert. Merkwürdig ist nur, dass er alles ausführt, was man ihm aufträgt, aber, wie wir Lehrer sagen, es bleibt nichts hängen. Morgen hat er es schon wieder vergessen. Er spricht nicht schlecht Deutsch, sein Akzent ist nicht sehr stark. Er hat eine sehr angenehme, tiefe Stimme, und das einzige, was richtig an sein ursprüngliches Land erinnert, ist das kräftige Zungen-R.

Vielleicht in der fünften oder sechsten Woche, die wir zusammen sind, will ich ihm das Leben mit den ewigen Übungen und Grammatik tools erleichtern. Vielleicht will ich es auch mir erleichtern. Leichthin sage ich, ohne selbst an ein Ergebnis zu glauben: Schreib doch mal eine Geschichte, dann können wir die Fehler analysieren. Und er schreibt los. Er schreibt eine Geschichte von einer halben Seite. Das ist für Schüler seiner Art viel. Noch erstaunlicher als die Quantität ist die Qualität der Geschichte. Er lebt auf, als ich sie laut vorlese. Ich befürchte kurz, dass es seine Geschichte sein könnte, denn sie handelt von einem Vater, der trinkt und prügelt und seine Familie schlecht behandelt. Aber er lacht und beruhigt mich: nein, das bin nicht ich. Denn der Sohn in der Geschichte verzeiht seinem Vater und pflegt ihn.

Am nächsten Tag haben wir zwei Stunden und er schreibt eine Geschichte von einer ganzen Seite. Meist ist das selbstständige Schreiben das eigentliche Problem von Problemschülern im Fach Deutsch. Aber er schreibt nach wieder nur kurzem Überlegen eine spannende, sogar ein bisschen provozierende Liebesgeschichte. Auch hier ist es – diesmal leider – nicht seine Geschichte. Er hat sie sich wirklich  ausgedacht. Zufällig finde ich im Internet eine Ausschreibung für einen Jugendliteraturwettbewerb. Es geht darum, eine Geschichte zu schreiben, die dann von einem von der Jury zu bestimmenden Partner ins Italienische zu übersetzen ist. Es gibt fünf Preise, Geld, die Partnerin oder den Partner in Italien, eine Reise dorthin. Das nächste Wunder geschieht: er baut seine Geschichte auf die von der Ausschreibung geforderte Länge hin um, vertieft die beiden Charaktere, erfindet Nebenrollen und Details. Die Geschichte hat zwei anrührende Höhepunkte und einen altersgerecht nebulösen Schluss: wie im Märchen sind die beiden Protagonisten vereint. Geduldig hat er meine Hinweise und – rein sprachlichen – Korrekturen hingenommen und eingearbeitet. So lange, mehrere Tage, hat er noch nie in seinem Leben an einem Text gearbeitet.

Da ich die Ausschreibung nicht genau gelesen hatte, war ich fälschlich davon ausgegangen, dass wir die Geschichte ausdrucken und per Post an die Stiftung schicken würden. Sie musste aber als email eingereicht werden. Das musste und konnte er nur selber tun. Am letzten Tag meldete er sich bei mir und schrieb, dass sein Computer nicht WhatsApp-kompatibel ist. Dann funktionierte seine email-Adresse nicht, weil sie nie benutzt wird. Dann kam alles zurück. Ich habe ihm auf WhatsApp gesagt, was er an seinem Computer machen muss. Und er hat es geduldig alles ausgeführt. Und nun ist die Geschichte – ich kann es nur hoffen – da, wo sie hingehört. Und wir hoffen, dass die Jury die Authentizität des zweisprachigen Denkens erkennt. Er hofft auf einen Preis, muss sich aber noch entscheiden, ob er das Geld oder die Reise besser finden würde.

Ich dagegen hoffe auf die Initialzündung, die ein solcher Erfolg auslösen könnte. Ich hoffe darauf, dass er seine Kraft erkennt, die in seiner Fantasy liegt. Sie lag bisher wahrscheinlich nicht brach, aber sie ist weder von ihm noch von seinen Lehrern mit der Schule verknüpft worden. Jetzt wissen wir, was er geträumt hat, wenn sein Kopf auf der Tischplatte lag. Jetzt weiß er oder jedenfalls kann er wissen, dass das, was er träumt für die Schule und für das Leben nutzbar gemacht werden kann und muss.   

DIE WELT IST AUS DEN FUGEN

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Auf der einen Seite war sie noch nie ‚in den Fugen‘, auf der anderen Seite sagt diesen berühmten Satz eine Kunstfigur, ein Zauderer mit Atemnot, der sich noch nicht einmal für die Frau entscheiden kann, die ihn liebt. Er schickt also sie in den Wahnsinn und die Welt in das Chaos. Aber da ist die Welt schon. In dem berühmten Theaterstück werden Politiker gezeigt, die damals mit Mord und Totschlag, heute mit Filz und Fake ihre kleine Politik besserwisserisch durchsetzen wollen, nicht, weil sie besonders schlecht und böse wären, sondern weil sie Menschen sind wie du und ich. Aber wir, die Konsumenten von Politik, sind andere geworden. Wir sind keine Analphabeten mehr, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn. Wir sind keine unmündigen Elemente eines zwar funktionierenden, aber doch hierarchisch-autoritären Systems. Das nächste ABER muss gleich folgen: und autoritäre und hierarchische Systeme funktionieren nur soweit und solange ihr Zusammenbruch mit drastischen Strafen vorweggenommen und gleichzeitig zu verhindern versucht wird. Wer das System bedroht, wird bedroht. Dadurch verrohen die, wie Rousseau meinte, anfangs idealen Sitten. Die Demokratie versucht nun das Gegenteil, sie macht die Menschen nicht nur mündig, sondern auch zu Produzenten der Verhältnisse. Allerdings stößt sie dabei auf fast gleich erbitterte Widerstände wie seinerzeit und seinesorts der Autoritarismus. Gegen ihn richtet sich der Freiheitswille des Individuums, den man an jeder Stubenfliege am Fenster beobachten kann, an jedem Käfer. Gegen die Freiheit der Demokratie richtet sich der Ordnungszwang, dem wir ebenso unterliegen. Wir glauben, und alle Religionen und Philosophien bestärken uns in diesem Glauben seit Jahrtausenden, dass die Welt ursprünglich oder eigentlich geordnet, aber durch den bösen Willen und Unverstand immer wieder ins Chaos abzurutschen gefährdet sei. Das ist der Grund, warum sich jede Ordnung, sei sie nun autoritär oder liberal, für alternativlos erklärt. Das gilt im übrigen auch für Texte. Man könnte keine Politik machen, wenn man an Alternativen glaubte. Wenn man sich alte Bundestagsdebatten anhört, dann kann man das sehr schön illustriert finden: jeder Redner – zum Beispiel Strauß und Wehner – geht zwar auf die Argumente der anderen Seite ein, aber nur, um festzustellen, dass lediglich die eigene Politik das Problem lösen kann und wird.

Es gibt allerdings zwei Auswege, die sich natürlich, wie alles auf der Welt, überschneiden und nicht etwa unversöhnlich gegenüberstehen. Das Wort unversöhnlich scheint einen gemeinsamen Sohn doch nur auszuschließen, denn praktisch, das weiß jeder, gibt es, wo Menschen aufeinander treffen, immer auch Söhne und Töchter. Der erste Ausweg sind charismatische Führer.

Führer scheuen Diskurs.

[Arbeitshypothese: Könnten die Führer die Lösung sein, wenn sie den Diskurs zuließen?]

Sie demonstrieren ihre Macht und glauben, dass jedes Problem mit ebendieser Macht zu lösen sei. Aber die Macht ist nur eine taube Nuss, ebenso wie das Talent, wenn es keinen Inhalt, keinen Fleiß, kein Abarbeiten der Einzelfälle gibt. Es hilft selbstverständlich nicht, wenn die Menschen nur in Gruppen eingeteilt werden: Freund und Feind, innen und außen, schwarz und weiß, rechts und links. Das Charisma des Führers erlaubt die einfachen, unglaubwürdigen Lösungen. Aus Erfahrung weiß man eigentlich, dass es nicht geht. Alle autoritären Gesellschaften verweisen deshalb auf die Weisheit des Führers oder der führenden Gruppe, denn: bei aller Rechthaberei oder Besserwisserei, wer bezeichnet sich selbst schon als weise? Darauf setzt die Autorität. Sie glaubt, dass sie nur durch Gegengewalt gestürzt werden kann. Tatsächlich aber haben sich alle Diktaturen durch ihre Inkompetenz selbst gestürzt. Das Hitlerreich hat die eigenen Kirchtürme bombardiert, um nicht zugeben zu müssen, dass es zurecht verlor; das zusammenbrechende Sowjetreich hat, hier bei uns, alles was nicht niet- und nagelfest war mitgenommen, wohlwissend, dass es in die Armut zurücktorpediert würde.

Putin bombardierte oder annektierte Tschetschenien, Südossetien, Abchasien, Transnistrien, den Donbass und Luhansk, Syrien, und schließlich die Ukraine um zu verdecken, dass es im eigenen Land durch eigene Schuld für die ländliche Mehrheit weder WCs noch sonst einen Wohlstand gibt. Nationalismus braucht keinen Wohlstand, dafür reicht das Staatsfernsehen. Wohlstand braucht keinen Nationalismus, deshalb sind wir in jenem Staatsfernsehen das Beispiel für Dekadenz und Untergang. Die ganze Misere der Autokratie wird auf uns projiziert, und die genervten Bewohner der Autokratie sind getröstet, dass es den anderen – also uns – wenigstens schlechter geht als ihnen. Leider erleben wir im vorigen und in diesem Jahr als Zeugen einer erbärmlichen Geschichte mit, wie der Tyrann nicht nur seine Nachbarn und den lange herbeidiskutierten Konsens schwer beschädigt, sondern das eigene Land in den Orkus seines Untergangs mitreißt.

Diskurs scheut Führer.

[Arbeitshypothese: Könnte der Diskurs die Lösung sein, wenn er Führer zuließe?]

Der Diskurs demonstriert eher die Unmöglichkeit, ein Problem zu lösen als die Möglichkeit. Den Kompromiss empfinden viele Menschen als Schmach. Es ist schwer einzusehen, dass man selbst nicht recht hatte oder nichts zur Lösung beitragen konnte. Das Ausdiskutieren jedes Problems dauert manchmal Generationen. Deshalb sehnen sich die Menschen in diskursiven Systemen so oft nach Ordnung, Charisma, vielleicht einfach nur Anhaltspunkten. Eine Demokratie ist also schlecht beraten, immer wieder aufs Neue, aus Kostengründen, wegen der Rationalität oder aus anderen Gründen, Ordnungen zu beseitigen. Demokratie ist ohnehin schon schwer zu verstehen, wenn dann auch noch die Kreisverwaltung schließt oder der Name des Heimatortes in eine anonyme Bezeichnung – ORTSTEIL – geändert wird, verlieren die Menschen Vertrauen und Orientierung.

Viele vermuten daher als Urheber von Ereignissen einen Masterplan oder sogar eine Weltherrschaft. Der Prinz in unserem Titelzitat beklagt nicht etwa, dass die Welt aus den Fugen, sondern dass ausgerechnet er dazu berufen sei, sie wieder in Ordnung zu bringen. So gesehen sind wir alle Egoisten. Wir glauben immer und überall, dass wir gemeint sind. Wir können uns nicht für anonym halten, weil wir einen Namen haben. Wir haben einfach vergessen, dass wir, um einen Namen zu haben, uns erst einen Namen machen müssen. Wer aber in der Demokratie seine Namenlosigkeit beklagt, wie will der in der Diktatur glücklich werden? Er kann nur erfolgreich sein durch den Ausschluss anderer, und das verbietet nicht nur die Menschlichkeit, sondern das verbieten auch alle Religionen und Philosophien, allerdings im Kleingedruckten. Der Preis des Sieges ist das, was man nicht hören will. Niemand lässt sich gerne belehren von Menschen, die unter ihm stehen. Wie soll er da verstehen, dass niemand unter ihm steht.

Die Welt ist nicht aus den Fugen. Sie verbessert sich nur langsamer, als wir gehofft haben. Niemand ist allein berufen, die Welt zu verändern. Keiner kann allein die Probleme der Menschheit lösen. Nur der Diskurs selbst ist alternativlos, allerdings sollte er das Charisma zulassen. Charismatiker sollte man weder erschießen oder ans Kreuz nageln, weil man niemanden erschießen oder kreuzigen darf, noch unterdrücken, weil man niemanden unterdrücken sollte, noch nach ihrem Tod diskreditieren, weil man keinem Toten Schlechtes nachreden muss, denn man kann ihn nicht mehr ändern.

Vielmehr müssen wir lernen, den Diskurs und das Charisma auszuhalten. Unsere Medien sind nicht unsere Kompetenz, sondern nur unser Krückstock.

VERSCHWUNDEN

Wir müssten wohl lange suchen, um einen geeigneteren Ort für ein Drama über Flucht und Vertreibung zu finden, als das ‚intime theater‘ im Hugenottenpark in Schwedt. Schon die Lage direkt an der Oder, dem kleinsten unserer großen Flüsse, der, anders als der gegenüberliegende Rhein, erst spät zum Grenzfluss wurde. Aber hier kreuzten sich die Wege von Slawen und deutschen Kolonisten, Juden siedelten sich, so der Plan, auf Dauer an, dann kamen die Hugenotten und brachten Tabak und Spargel mit, und mit dem Ende des, wie wir dachten, letzten Krieges fanden, obwohl alle Brücken zernichtet waren, die Deutschen von zuhause nach zuhause. Jetzt erfreuen wir uns an einer fleißigen und gewinnbringenden polnischen Einwanderung, die nicht die erste ist. Und es kommen Ukrainerinnen, die auf das Ende des nun wirklich letzten Krieges oder auf die zweite Chance warten.

In diesem ‚intimen theater‘ gab es im März 2023 als deutsche Erstaufführung Elise Wilks Spektakel ‚Verschwinden‘ über das Verschwinden der Rumäniendeutschen in den achtziger Jahren und vor allem um 1990, nach dem Sturz der Ceauşescu-Diktatur. 

Uns ‚aus dem Reich‘, wie die alten Siebenbürger Sächsinnen und Sachsen uns benannten, waren Sprache, Religiosität und Bräuche in Siebenbürgen und im Banat altertümlich und idyllisch, vertraut und fremd zugleich, heimelig allzumal. Mir erschien diese wunderschöne Kultur, von der Sprache  einmal abgesehen, eher wie Folklore, wie die Sorben in der Lausitz, deren Leben damals auch noch etwas kohärenter um Sprache, Tracht und Religion kreiste. Heute gibt es nur noch winzige Inseln, wie zum Beispiel den Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner in Roşia (ehemals Rothberg), den ich vor einigen Jahren, sozusagen als Abschied vom deutschen Siebenbürgen besucht habe. Unser Auto, ein unspektakulärer Ford Escort Kombi, war von etwa 50 Romajungs umringt, die jede Funktion des Wägelchens erklärt und vorgeführt haben wollten. Ihre Familien haben mit Schlattners Unterstützung das ehemals vollständig deutsche Dorf besiedelt, er organisierte ihnen eine Waldorfschule. Unser langes Gespräch mit ihm über seine drei höchst lesenswerten Romane aus einer zeitlich und räumlich fernen, aber dennoch deutschen Inselwelt wurde durch das Erscheinen von vielleicht hundert Pfadfindern beendet, mit denen wir dann in seiner 800 Jahre alten Kirche DONA NOBIS PACEM sangen.

Zeitgleich verschwanden Elisa Wilks Verwandten und Freunde und verdichteten sich später und sukzessive zu dem lesens- und hörenswerten Theatertext ‚VERSCHWINDEN‘. Er zeigt das Leben und die Remigration einer rumäniendeutschen Familie. Dieses Prisma – die Familie – überdeckt aber die politischen oder historischen Zusammenhänge. Eine große Menge von Rumäniendeutschen musste in der Sowjetunion, nämlich in Kriwoi Rog, im Donbas oder in Sibirien, den Preis des Tickets für deutschen Größenwahn und deutsche Grausamkeit bezahlen. Eine ehemals Banater Punklady hat später einen Roman* darüber geschrieben und prompt den Nobelpreis für Literatur dafür bekommen.  In den Familien wurde darüber nur geflüstert. Auch über die Bestechungssummen für die Securitateverbrecher, die den Weg zum Verkauf der Häuser an sie und der Hausbewohner an Deutschland organisierten, wurde nur geflüstert. Der arme Junge (Lennart Olafsson), der, weil er schwul war und erpresst wurde, sich in einer höchst anrührenden Szene als Denunziant outen muss, muss ebenso flüstern. Aber das Mädchen (Adele Schlichter), das ihn bis dahin liebte, liebt ihn trotz des nun verdoppelten  Hindernisses weiter und weiter. Alle Schauspieler, auch Ines Venus Heinrich als Kathi, müssen ihre Rollen tauschen. Dadurch entstehen ganz nebenbei fast Brechtische Etüden für Schauspieler, die alle als Meisterin und Meister bestehen. Zur Hilfe für uns Zuschauer sind die Koffer wie universelle Migrantenmetaphern und wirkmächtige Requisiten mit Namen beschriftet. Migration ist Rollentausch. Die Wanderung von Mensch zu Mensch hat ein neues Modewort hervorgebracht: Empathie, das Einfühlen in die Mitmenschen. Die auf Individuation gerichtete Wohlstandsgesellschaft tut sich schwer damit, doch die Migration aus Osteuropa, aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan und mehreren afrikanischen Ländern erinnert uns an diese grundmenschliche und grundanständige Fähigkeit, die uns allen innewohnt, auch ihren Leugnern. Leugnen hilft weder vor dem irdischen noch beim Jüngsten Gericht. Wenn das Haus brennt, können wir nicht nach der Herkunft seiner Bewohner fragen, so kann man es schon in einem berühmten zweihundert Jahre alten Großrührstück** lesen, das für mich in den Olymp des Theaters und der Weltnarrative gehört.

Das Prisma der Familie schluckt die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wir sehen und hören eine Familie, die einen Weg zum Glück (?) sucht. Das ewige Dilemma zwischen Hierbleiben oder Weggehen hat zwei gleichschlechte Lösungen: hierbleiben oder weggehen. Das ist überall so, nur in Migrationsgruppen ist es verstärkt wie in einem Brennglas. In einem ehemals pommerschen Dorf dagegen sprach alles für Hierbleiben, und trotzdem gingen immer einzelne weg und rannten in ihr Glück oder Unglück. Wie in einem Mikroskop deckt die Familie und ihr er Einzelne seine einzige wirkliche Identität auf: das Menschsein. Als die Siebenbürger Sachsen aus Deutschland verschwanden, fehlten sie nicht. Als sie achthundert Jahre später aus Rumänien verschwanden, fehlten sie ebenso wenig. Wir sind im wesentlichen doch eben nur Menschen, nicht Deutsche oder Russen, nicht Frauen oder Männer, nicht Alte oder Junge, nicht Muslime oder Christen, nicht Rechte oder Linke. In jeder Familie der Welt gibt es die gleichen Probleme, und, was noch verwunderlicher ist, die gleichen Lösungen. Mein Vorfahr kam aus demselben Grund aus der Wallonie nach Deutschland, aus dem mein Freund aus Eritrea hierher kam. Aus wieder dem gleichen Grund gingen Verwandte von mir nach Amerika, andere Eritreer nach Israel, Israelis nach Berlin, obwohl das einst die Hauptstadt des Rassismus und der Mörder war. Auch die Siebenbürger Sachsen gingen und kamen. Beinahe möchte man sagen: und so weiter und so fort. Natürlich gibt es Unterschiede, aber sie sind marginal. Natürlich gibt es Fortschritt, aber er ist nicht so gigantisch wie die Anhänger von Hegel glaubten oder jedenfalls an die Häuserwände schrieben. Leider wird auch jeder noch so kleine Fortschritt immer wieder durch Krieg und Autoritarismus zunichte gemacht. Und das findet sich dann in der vom Unglück verfolgten Familie wieder, auch in dieser Theaterfamilie. Das Bühnenbild zeigt sowohl die Vereinzelung in den sechs Kabinen. Sie sind zwar mit Mikrofonen ausgerüstet, aber die helfen nicht gegen Schwerhörig- und Hartherzigkeit. Demgegenüber bleiben die Koffer zwar benannt, aber beweglich.

Wenn wir nach einem Sinn für unser Leben suchen, so werden wir ihn nicht in unserer Herkunft finden, so edel sie uns auch beschrieben worden sein mag und wie heroisch unsere Ahnen auch auf den Fotos winken mögen. Der Sinn findet sich, wenn überhaupt, in der über uns selbst hinauswachsenden Tat. Und der Markt für Taten ist groß und überall.      

*ATEMSCHAUKEL von Herta Müller aus Niţchidorf (ehemals Nitzkydorf) im Banat

**NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing aus Kamenz in Sorbien

DEUTSCHLAND DAS SIND WIR SELBER

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DEUTSCHLAND, DAS SIND WIR SELBER

Man hätte Deutschland so vereinigen sollen, dass der Osten den Westen domestiziert, aber auch wieder so, als wenn er selber schon der Westen gewesen wäre. Und den Kaptalismus sollte man einfach mit menschlichem Antlitz gestalten. Du gehst in dein Kaufhaus, nimmst dir, was du brauchst, die Kassiererin sagt: schon gut. Auch dein Arbeitgeber winkt müde ab: bleib zuhaus. Da hinten steht Götz Werner und winkt mit 1000-€-Scheinen.

Schon in der DDR, als sie noch gar nicht wackelte, gab es diesen Trend: Neckermannreisen und Sozialversicherungsausweis. Immer mehr Nichtrentner konnten im Laufe der achtzger Jahre in den Westen reisen, und sie berichteten, dass dort in Bochum einerseits die Hölle herrsche, andererseits das Paradies. Und genau so empfanden viele – wahrscheinlich andere – die DDR UNSER HEIMATLAND, so die arhythmisch-rhythmische Variante der FDJ-Sprechchöre, wenn irgendwo ein Politbüromitglied herein getragen oder geschoben wurde. Die bestgepflegten Greise hatten erreicht, wovon sie früher geträumt hatten. Damit muss man gar nicht das Jagdschloss in Wolletz oder das graue Einfamilienhaus in Wandlitz meinen. Sie hatten die Macht. Das war ihr Fetisch. Andererseits ignorierten sie jedes Problem, also glaubten sie ihre Bevölkerung nicht nur wohlverwahrt, sondern auch wohlversorgt. Im GUNDERMANNfilm gibt es diese berüchtigte Begegnung mit Werner Walde, dem Cottbuser Bezirkssekretär, die das zeigt: was wollt ihr denn, ihr habt doch alles, die Schwierigkeiten kommen von außen.

Dieses Erklärungsmuster ist uns geblieben. Irgendjemand muss immer schuld sein. Die Ikone des linken Vereins mit dem schönen proletarischen Namen Wagenknecht tritt immer wieder damit an: Schuld an der Misere sind die Konzerne, ist der kalte Kapitalismus. Die Misere muss erst herbeigeredet werden. Die Gegenüberstellung lautet ja nicht Hartz IV oder unter der Brücke schlafen, und Hartz IV gibt es keinesfalls nur im Osten, sondern auch besonders schlimm in Bochum. Die Gegenüberstellung Wagenknechtscher Prägung lautet: ob es nicht erniedrigend sei, von den Jobcenterbeamten sanktioniert zu werden. Ihre Antwort auf diese Frage lautet immer gleich: Banken enteignen. Unsere gemeinsame Antwort sollte aber sein: Ja, es ist demütigend, besser ist es arbeiten zu gehen. Die Wagenknechtsche Konstellation scheint zudem davon auszugehen, dass alle Menschen im Osten Hartz IV beziehen, besonders die Rentner. Aber weder die Rentner in ihrer Gesamtheit noch der gemeine Ostmensch sind arm. Sie sind – statistisch gesehen – etwas ärmer als ihre, wie man leider nur früher sagte, als wir noch geteilt waren, Schwestern und Brüder im Westen. Gemessen an ihrer eigenen Vergangenheit sind sie aber viel, viel reicher, auch reicher als ihre Schwestern und Brüder jenseits der Oder-Neiße-Grenze.

Man hätte die Wiedervereinigung nicht besser oder auch nur anders gestalten können. Nur selten in der Geschichte kann etwas aktiv und bewusst, rational und vielleicht noch dazu demokratisch ‚gestaltet‘ werden. Meist passiert die Geschichte, weil zuviele Faktoren zu einem Ereignis beitragen, sagen wir (wie immer) 1000 und nehmen wir einen besonders guten Politiker, sagen wir (wie immer) Willy Brandt. Dann kann er ein Zeichen setzen, niederknien, eine neue Ostpolitik machen, nach Erfurt reisen. Aber er konnte – leider, leider – nicht dafür sorgen, dass sein schöner Spruch JETZT WÄCHST ZUSAMMEN, WAS ZUSAMMENGEHÖRT, der uns damals allen das Wasser in die Augen trieb, schneller als, sagen wir, in hundert Jahren verwirklicht werden kann.

Dass am 1. September 1939 alle Menschen in Deutschland, besonders die Männer, aber vor allem auch die Frauen, Mütter, Schwestern, Verlobten, Freundinnen, Krankenschwestern, gesagt hätten: NEIN, NICHT SCHON WIEDER, ist genauso unwahrscheinlich, wie dass alle Menschen an einem Tag ihr Geld als Bargeld von der Bank abholen. Soviel Geld gibt es nicht, soviel Einigkeit gibt es nicht. Es gibt noch nicht einmal eine Schulklasse in Deutschland, die einstimmig beschließt, die Klassenfahrt nach Lloret de Mar zu machen. Wie Geschichte wirklich funktioniert, konnte man viel besser am 9. November 1989 sehen: ein Staat (und nicht ein Land oder eine Heimat) brach zusammen, weil irgendwelche Tattergreise die Zettel verwechselten oder ihre Schlaftabletten nicht finden konnten. Der Staat ist nichts als die Büroklammer einer Gesellschaft.

Es gibt Länder mit enteigneten Banken, es gibt Länder ohne nennenswerte Industrie, es gibt Länder mit Regierungen, die ihre Politik besser erklären als die Bundesregierung MERKEL IV. Aber keines dieser Länder ist insgesamt erfolgreicher. Die USA und China haben größere Volkswirtschaften als Deutschland, aber will wirklich eine signifikante Menge Menschen aus Deutschland dorthin wechseln? Ich erinnere nur an den erschossenen Austauschschüler aus Hamburg. Da ging es um eine Büchse Bier. Auch wenn es mir immer wieder Kritik einbringt: China ist weder die gewünschte noch die tatsächliche Zukunft der Welt. China wird einfach untergehen. Saudi Arabien ist gerade dabei.

Ein funktionierendes und wohlgefälliges Staats- und Gesellschaftssystem (schon das Wort ‚System‘ klingt zu sehr nach Konstruktion) wächst ganz langsam. Das Projekt der deutschen Einheit braucht hundert, vielleicht sogar zweihundert Jahre. Schon vor der deutschen Teilung gab es ein statistisches Gefälle zwischen Nord und Süd, Ost und West. In den ostpreußischen oder uckermärkischen Dörfern gab es vor hundert Jahren Armut, in Bochum dagegen Wohlstand. Gerechtigkeit ist ein Ideal, genauso wie Freiheit, dennoch nehmen sie real in der Gesellschaft zu. Flaschensammler gab es schon in der DDR, man kann bezweifeln, dass sie nur ein Armutszeugnis sind.

1989 waren wir alle überfordert. Ein winziger Fehler hatte zu einem politischen Erdrutsch geführt. Jeder war auf seine Weise desorientiert. Der Kalte Krieg war zuende, die Sowjetunion brach in sich zusammen, Grenzen verschwanden, Völker wanderten ein- und aus. Aber heute verlangen Unrealisten, dass die damaligen Politiker schon damals gewusst hätten, was wir selbst heute nur erahnen können: Zusammenhänge, Netzverflechtungen, Strömungen, Einflüsse. So ungern man es (immer wieder) sagen muss: der Koloss Kohl war ein Pragmatiker der Macht und als solcher der richtige Mensch zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Der Schwachmatiker Lafontaine dagegen hat zurecht alle Wahlen verloren. Wahrscheinlich ist sein Anteil am Untergang der deutschen Sozialdemokratie größer als sein Rache- und Geltungsbedürfnis. Seine Gattin Wagenknecht, mit dem schönen proletarischen Namen und dem rosa Luxemburgkleid, radelt auf ihrem 10.000-€-Fahrrad durch das arme Saarland und überlegt, was man im Osten noch zur Misere erklären könnte. Auch sie hat eine Partei in den Ruin gestürzt. Das alles ist weder schade noch traurig: jegliches hat seine Zeit. Traurig ist, dass im Osten Deutschlands nicht nur das Erklärungsmuster gleich geblieben ist, sondern auch die Parolensucht. Eine Parole müsste doch irgendwann einmal richtig sein, glaubt man hier. Politik im Osten ist ein bisschen wie Lotto: man tippt immer die selben Zahlen (Parolen) und verliert.

Statt dessen gilt: Im Lotto kannst du nichts gewinnen, mit einem Lächeln kannst du alles gewinnen. Liebe Mitschwestern und Mitbrüder im Osten: lächelt. Seid doch endlich einmal froh, dass es keine Grenzen mehr gibt, aber dafür Baumärkte (reißt mal eure alten Schuppen ab!), dass ihr ein gutes Auto habt, ein Haus, eine freundliche Wohnung (selbst die einst grauen Plattenbauten leuchten in vielen Kleinstädten), freut euch, dass ihr nach Mallorca reisen könnt, aber fahrt bitte auch einmal woanders hin. Seid stolz und nicht wehleidig. Baut Leuchttürme statt Tränenteiche und Jammertäler! Lest Heine!

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KAPITALISMUS, DAS SIND WIR SELBER

Je größer das Vehikel, desto größer ist auch die Neigung, sich dahinter zu verstecken. Die abstruse Ansicht, dass mit der Abschaffung der Zinsen auch die Ungerechtigkeit verschwände, hat Millionen Menschen vom Nationalsozialismus überzeugt. Trotzdem empfindet der Betroffene die Zinsen, den Kaufpreis des Geldes als ungerechtfertigt (hoch), auch wenn sie extrem niedrig sind. In Deutschland vergingen kein halbes Dutzend Jahre, als die schräge These aufkam, dass die Abschaffung des Eigentums nun aber wirklich und endgültig Gerechtigkeit brächte. Diese These fand sogar ihren Weg in das Programm der soeben gegründeten neuen konservativen Partei, der CDU. Wenn heute jemand Enteignung, die im Grundgesetz vorgesehen ist, fordert, schrecken alle auf, in Berlin sollten damit aber die Fehler des SPD-geführten Senats kaschiert werden, der seinerzeit städtische Wohnungen an private Investoren verscherbelt hatte. Und dabei war Berlin einst, mit so großen Sozialdemokraten wie Ernst Reuter und Martin Wagner, die Geburtsstätte des sozialen Wohnungsbaus als architektonische Meisterleistung.

Das alles kann und sollte gewusst werden. Trotzdem lassen sich immer wieder viele Menschen mit dem tröstlichen Gedanken einlullen, dass an allen Schwierigkeiten der Kapitalismus schuld sei. Wir wollen nicht schon wieder den berühmten Bäcker von Adam Smith herbeizitieren, obwohl wir uns gerne an dem Erstaunen ehemals nur linker, neuerdings auch rechtskonservativer Leser weiden: ach, es gibt gar keinen Versorgungsauftrag? Der Staat macht gar keine Preise? Adam Smith‘ Bäcker bäckt nur, um selber satt zu werden?

Es scheint schwer vorstellbar, dass aus dem Chaos von blinden Akteuren so schöne Produkte wie der Faustkeil, die Dampfmaschine und das Smartphone geboren werden können. Dasselbe ungläubige Erstaunen haben die Gegner der Evolutionstheorie vorzubringen, die am Kreationismus festhalten, weil er evident ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es keinen Bauplan, sondern die Ordnung gebiert sich aus dem Chaos. Dasselbe Chaos ist der Markt. Nassim Nicholas Taleb schreibt sich die Finger wund und die Kasse voll mit seiner nun wahrlich nicht neuen These, dass nichts vorhersehbar und der Markt chaotisch ist. Wir tun gut daran, uns ausnahmsweise dieses Autoritätsbeweises, der natürlich keiner ist, zu bedienen. Dadurch dass es Mode geworden ist, dass jeder Kommentare zu allem absondern kann, dadurch entsteht keine Kompetenz. Und so wie die Physik sich seit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zur Relativität aufschwingen musste, bis sie bei der Heisenbergschen Unschärferelation ankam, so musste sich auch die ökonomische Lehre von den naturwissenschaftlich erscheinenden Gesetzen abwenden und der soziologisch verbrämten Spekulation zuwenden.

Man hätte es beim Televisor ahnen können: ganze Völker und Kontinente ziehen Information und Unterhaltung der primären Bedürfnisbefriedigung vor. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Europa noch gelächelt, als afrikanische Dörfer gezeigt wurden, die einen Fernsehapparat mittels dieselbetriebenen Notstromaggregats unterhielten und sich köstlich über, beispielsweise, Schnee und Eis auf europäischen und nordamerikanischen Straßen amüsierten, weil es zwar Endgeräte, aber keine eigenen Programme gab. Gleichzeitig, aber nicht kausal verbunden mit dieser Informationsrevolution ist auch der Hunger zurückgedrängt worden. Übrigens übersehen das gerne diejenigen Argumenteure, die vor einer, bis vor kurzem islamischen, jetzt plötzlich afrikanischen Invasion in Europa warnen. Sie glauben, das sei ein mathematisches Problem. Mathematische Probleme sind beispielsweise Gleichungen, aber nicht Invasionen. Die Lösungen der afrikanischen Probleme sind ebensowenig durch Migration zu finden, wie die europäischen, fast identischen Probleme in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts durch Migration zu lösen waren, obwohl es riesige Migrationsströme vor allem nach Amerika gab. Hunger und Bevölkerungswachstum als Problem haben eigentlich nur eine Lösung: Wohlstand. Der war in Europa damals ziemlich wohlfeil, weil die Industrialisierung, noch nicht aber die Massengüterproduktion und die Sozialversicherung angeschoben war. Die Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion hat aber auch heute erst sichtbare Nachteile. Wir werden nicht weiter so viel Fleisch essen können wie bisher. Der Fokus auf die tatsächlich nicht unbeträchtlichen Probleme Afrikas vergisst aber, dass gleichzeitig der Westen, nämlich nicht nur Europa, ebenfalls anwachsende Probleme hat. In Japan kann man das demografische Problem des Westens am besten studieren, in den USA ist es durch die Einwanderung abgeschwächt, in Europa stehen wir an der Schwelle: eine Gesellschaft ohne Kinder reproduziert sich auch geistig nicht, erstarrt und verkalkt im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn. Der Sinn des Lebens geht ohne Kinder verloren, denn er kann nun und nimmermehr im Konsum bestehen. Das gilt übrigens nicht nur nur auf der materiellen Ebene. Wir befinden uns vielleicht auf dem Zenit der Reproduzierbarkeit von Kunst. Aber die Euphorie wird in Langeweile umschlagen. Letztlich befriedigend ist, genügend Zeit und Geld vorausgesetzt, nur die Produktion. Noch nie haben soviele Menschen geschrieben, musiziert, fotografiert. All das bedarf aber auch der kontinuierlichen Innovation.

Afrika wird nicht den Weg der Industrialisierung gehen können, wie ihn einst Europa ging, aber wir müssen gemeinsam Lösungen zum Wohlstand finden, natürlich außerhalb der Migration. Migration ist enorm wichtig für den von den Konservativen so sehr verteufelten Kulturaustausch, sollen sie bei ihrem Theoretiker Ernest Renan nachlesen. Aber Migration löst selbstverständlich nicht die Probleme einer noch wachsenden Bevölkerung.

Das alles ist der Kapitalismus. Das alles sind wir. Die Konzerne kommen und gehen. Sie streben nach Maximalprofit, den sie aber nur erlangen können, wenn wir alle maximal konsumieren. Und das tun wir, je mehr Freizeit und Geld wir zur Verfügung haben, desto lieber und desto mehr. Auf Facebook, einem kapitalistischen Goliath, der Spielwiese des Lords Zuckerberg, krächzen manche gegen den Kapitalismus. Das ist ebenso hilflos wie lächerlich. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wanderte ein seltsamer Apostel der Umkehr durch Europa, mit dem passenden Namen Gusto Gräser, barfuß und ohne jedes Eigentum. Er wurde verhaftet, für verrückt erklärt, verlacht und verschmäht. Zurück-zur-Natur-Apostel gab es auch in Siedlungen wie Eden, Gildenhall oder Monte Verita, genützt haben sie nichts oder nicht viel. Die europäische Menschheit schlitterte blind und ohnmächtig in einen Konsumrausch nicht nur ohnegleichen, sondern wie er nie und nimmer vorstellbar war, es sei denn im absurden Märchen vom Schlaraffenland.

Wir machen den Fehler aller Diktaturen und Diktatoren: wir häufen Fehler auf Fehler, mit denen wir uns selbst schaden, bis wir untergehen. Ungeachtet dessen, ob der Klimawandel menschengemacht ist oder nicht, sollten wir auf zwei Dinge in der Zukunft verzichten, weil die Lebensqualität durch sie sinkt und nicht etwa steigt: auf Fleisch aus Massentierhaltung und auf große Städte. Man kann natürlich nicht zuerst den Menschen in Lagos oder Mumbay empfehlen, aufs Land zurück zu gehen, weil sie nur die Wahl zwischen Scylla und Charybdis haben. Wir müssen damit anfangen, wir, die wir es uns leisten können. Die Erwerbsarbeit darf dann natürlich nicht auf Pendeln, sondern muss auf Digitalisierung beruhen. Auch der Fleischkonsum muss vom Westen und vom Wohlstand aus zurückgedrängt werden. Das wäre ein Lackmustest zur Abschaffung des Kapitalismus von seiten der Konsumenten. Keine noch so steile These ersetzt den handfesten Boykott.

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘, Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884

Zwei Texte aus dem Jahr 2020

NATIONALISMUS BRAUCHT KEINEN WOHLSTAND

Wohlstand braucht keinen Nationalismus

In Europa, Nordamerika, Japan und Australien gehört das Automobil als Wohlstandsfaktor, als Mobilitätsvehikel und als Freiheitssymbol zu den Alltagsdingen. In Deutschland gibt es je 1000 Einwohner 573 Autos, in Eritrea 2. Sechzig Prozent aller deutschen Arbeitnehmer haben ihren Arbeitsplatz nicht an ihrem Wohnort, sind Pendler, davon benutzen 68% das Auto, um zur Arbeit zu gelangen. Schon allein statistisch ergibt sich also eine nur lockere Bindung an das, was man früher Heimat nannte. Die Identität von Geburts-, Wohn- und Arbeitsort ist seit der Industrialisierung aufgehoben. Dadurch ist die Identifizierung mit dem Ort, mit der Region, mit der Religion und mit der Ethnie nicht mehr kohärent oder zwingend. Es mischt sich neu. Zwar gab es auch früher schon Wanderungen durch Kriege und Hungersnöte oder umgekehrt paradiesische Verheißungen, jedoch hat die Mobilität durch den und nach dem zweiten Weltkrieg rasant zugenommen. Hinzu kommt, das Länder wie Deutschland, Japan und Russland vergreisen und fast keine Kinder mehr haben. In Nordamerika, Europa, Japan und Australien gibt es einen signifikanten und sicheren Wohlstand. Selbst eine hohe Inflation, wie im Moment, kann die Menschen nicht in ihrem Konsumtionsverhalten irritieren. Alle katastrophenorientierten Ideologien (also Rechtspopulisten, Linkspopulisten und Religionsgemeinschaften) beschwören bei jeder kleinen Krise allerdings Bürgerkrieg, Apokalypse und Armageddon herauf. Wenn sich auch der Konsum kaum verändert, so doch das Sozialverhalten im allgemeinen. Bei einem kleinen Teil der Bevölkerung werden Urängste wach. Sie fürchten um ihren Wohlstand und sehen sich ungeschützt unabsehbaren Katastrophen gegenüber. Oft ist es also noch nicht einmal Nationalismus, sondern blanker Egoismus, der zum Beispiel weite Teile der selbsternannten Friedensfreunde antreibt, dem populistischen Geschwätz von Wagenknecht, Schwarzer, Lafontaine, Precht, Tellkamp zu folgen. Allerdings waren nur 10.000 Leute angereist, nicht, wie von Wagenknecht angekündigt, die Hälfte der Bevölkerung.

Aber es geht hier nicht um Statistik, sondern um Gefühl. Sowohl Wohlstand als auch seine Drillingsschwester Demokratie lockern die Bindungen an Ordnungskräfte, die dritte im Bunde, Freiheit,  lässt alles sogar grenzenlos erscheinen. Bildlich gesprochen: wer sich selbst Navigation kaufen kann, benötigt keine staatlichen und institutionellen Wegweiser. Wir beklagen die Individualisierung, die als Nebenprodukt des Wohlstands doch eigentlich unser Ziel war. Schon oft ist das Bild des Autos beschworen worden, in dem ein Mensch sitzt, der sich frei und beweglich glaubt, obwohl seine Abhängigkeit von Geld, Öl, Ressourcen, Know-how und Wohlwollen seiner Mitbürger offensichtlich ist. Je größer das Auto, desto größer die Unfreiheit.

Trotzdem gibt es Menschen, die an den Traditionen der Armut und der Vergangenheit hängen, deren Zusammenhang sie vielleicht gar nicht sehen. Sie glauben, dass die Heimatlosigkeit vom Staat verordnet ist, dass der Staat überhaupt seine Erziehungsfunktion beibehalten hat. Deshalb verbietet er, woran die Menschen hängen: Ernst Moritz Arndt und das Bargeld. Während der Glaube an Verschwörungstheorien in Kriegs- und Krisenzeiten verständlich ist, bleibt er im Wohlstand ein unbegreiflicher Atavismus, der selbst wieder zur Quelle neuer Ängste wird.  

Eigentlich ist die andere Seite, der Nationalismus, der keinen Wohlstand braucht, viel schwerer zu deuten. Warum lassen sich Menschen mit billigen Phrasen abspeisen? Herkunftsglaube, so wollen wir den modernen Nationalismus nennen, ist sehr bequem: man wird geboren und ist schon bedeutend. Schon als Baby auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, mag erfreulich sein. Aber das geht nur, wie wir alle wissen, wenn man auf der Gegenseite ein kräftiges Feindbild malt. Ein Feind lässt uns nicht nur leuchten, sondern auch ohne Schuld sein. Der russische orthodoxe Patriarch Kirill I. hat seine Theologie über Bord geworfen und seit mehr als tausend Jahren erneut verkündet: wer in diesem Krieg stirbt, wird von seinen Sünden befreit. So kreuzigt man Yesus erneut.  

Vielleicht liegt die Lösung in dem synthetischen Charisma, das die Autokraten auszeichnet. Während natürliches Charisma nach Max Weber Kennzeichen eines jeden Politikers ist – wir sehen allerdings viele saft- und kraftlose Bürokraten unter ihnen – mangelt es dem zukünftigen Diktator gerade daran. Er wählt sich also im Katalog der Charismatypen einen aus und versucht, ihn darzustellen. Hitler nahm dazu Schauspielunterricht. Fidel Castro erfreute sein Volk mit vierstündigen Reden. Ceauşescus Frau Elena, die sich mit akademischen Graden überhäuft hatte, obwohl sie die Dorfschule nie beendete, fragte noch in der Todesstunde, ob der Soldat, der sie fesselte, nicht wüsste, dass sie die Mutter der Nation sei. Honecker übertönte seine Fistelstimme mit Horrido-Jagdgeschrei und Putin rennt oft halbnackt herum, um einen Supermacho zu imitieren. Die theatralisch-pseudoreligiösen Massenveranstaltungen und Bekenntnisdemonstrationen aller Autokraten, besonders aber der kommunistischen und faschistischen, sind Ausdruck dieses Substitutes: das fehlende Charisma wird durch synthetisches ersetzt. Das ist alles leicht durchschaubar. Was viele Menschen aber scheinbar wirklich glauben, ist die einfache Antwort auf die immer komplizierter werdende Welt. Es gibt immer noch zehnt Prozent Menschen, die glauben, dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt. Andere glauben an die Allmacht der Amerikaner oder der Russen oder der Chinesen. Beliebt ist es auch, die gegnerische Regierung für Marionetten zu halten. Wieder andere sehen in der eigenen Regierung Marionetten. Der Nationalsozialismus bietet für alle ein breitgefächertes Narrativ und Analogon des Pro und Contra an. Feinde werden zu Nazis und man selbst ist immer der antifaschistische Widerstandskämpfer, die Sophie Scholl oder der Marschall Schukow der Gegenwart. Dieses Rollenverhalten wird gestützt durch die Allgegenwart des Fiktiven, genaugenommen der Literatur, meist aber in Form von Spielfilmen, Videos und Computerspielen. Jeder Mensch hat seit frühester Kindheit Rollen und Verhaltensmuster im Kopf und spielt sie wie eine Schallplatte immer wieder ab, bis der Überdruss dem ein Ende setzt.

Vielleicht aber gibt es auch in der immer komplexer und voller werdenden Welt noch einfache Antworten. Sowohl die Ratten als auch die Menschen sind gleichermaßen neophob und sozial: scheu, schlau und empathisch. Vielleicht suchen deshalb viele von uns die Demokratie, die Liberalität, ein solidarisches Miteinander. Andere, zeitgleich oder zeitversetzt, bevorzugen sozialdarwinistische Modelle des struggle for life, der Hierarchie und Befehlsstruktur, Ordnung statt Freiheit. Vielleicht tobt dieser dichotomische Kampf seit Jahrtausenden und noch weitere Jahrtausende, während die gegenwärtigen Menschen immer an den Fortschritt oder an die Überlegenheit des Gestern glauben. Vielleicht hatten Yesus von Nazareth und Isaak Babel einfach nur Pech in eine Periode der Ordnung geboren zu werden, um in ihr gewaltsam zu sterben. Einstein und Chaplin dagegen konnten ihren Häschern entgehen und Optimismus ausstrahlen. Vielleicht hatte doch Nietzsche recht, wenn er an die ewige Wiederkehr des Gleichen glaubte.    

EMMA ROSENBAUMs MENSCHENKNÄUEL BRINGT DIE PAPPELN ZUM SCHWEIGEN

Obwohl in Jana Franke-Freys Roman ‚Emma Rosenbaum‘ eine Familiengeschichte erzählt wird, ist das Buch keine neue Fortsetzungssaga und schon gar keine daily-soap-Vorlage. Vielmehr hat der lange Landaufenthalt der Autorin, der Abstand zu der Stadt, in der die Familie des Buches einst agierte, einen Filter gesetzt, der uns langwierige Handlungen über lange Zeiträume, ein Familiengeheimnis gar, das mit allen Staatssystemen kollidierte, erspart. Das aufklärerische Moment eines Entwicklungsromans ist auch nicht die tragende Säule dieses interessanten Buches, denn die Protagonistin Emma Rosenbaum fühlt sich in der Vergangenheit wohl, ohne sie zu verklären. Ein ironischer Schleier von Metaphern, die in Aphorismen und manchmal sogar in Gedichte übergehen und dann beginnen, ein Gitternetz von Befindlichkeiten zu konstruieren: ‚Niemand weiß, wie die Vergangenheit mit Sauerstoff reagiert…‘, heißt es da, jedoch wird es immer klarer, dass die Vergangenheit, ans Licht und in den Sauerstoff gezerrt, nicht leidet, sondern wieder Leben produziert. Das ist das erste konstruktive Element des Buches: zerstreutes und gefiltertes Leben wurde in Sätze gegossen, für die einem sofort das schöne alte Wort ‚Bonmots‘ einfällt. Statt zu behaupten: so ist es gewesen, zeigt uns das Buch ‚dieses übergangslose Vergessen, das wie ein Hochwasser mit jeder Sekunde steigt‘. [S.127]. Und so gesehen ist der Roman eine Hilfe für die in ihren Erinnerungen Ertrinkenden. Zwei große Themen der Vergangenheit fallen wie Steine ins Wasser und ziehen Kreise um sich: die Nazizeit aus der Sicht einer jüdischen Familie, die sich mit der Verbastelung von Verletzungen und Amputationen beschäftigt. Beinprothesen und Glasaugen werden zu verbitterten Substituten und tapferen Metaphern. Und gerade an diesen äußeren und inneren Vernarbungen wird gezeigt, dass der Schmerz nichts weiter ist, ‚als ein Trichter mit zu enger Tülle‘ [S.98]. Der Versuch, diese Vergangenheit sozusagen an einem winzigen Zipfel aus dem Moor der Erinnerungssuppe zu ziehen, zeigt uns, wie schnell und gewollt Vergessen geht. Der Zipfel ist kaum noch fassbar. Das andere große Thema wird dagegen plastischer, weil es in uns auch plastischer ist: die frühe DDR, selbst für diejenigen, denen sie nicht in der Familiengeschichte als Gespenst erscheint.

Das zweite konstruktive Element des Romans sind die Personen, ist ein Kaleidoskop von personellen Bauelementen mit sprechenden, flüsternden oder schwatzenden Namen. In jedem Leben wie in jedem Roman gibt es eine Vielzahl von Personen und Protagonisten. Hier erscheinen sie wie ein Baukasten, ohne dass die alte Frage aufgeworfen wird, ob der Baukasten von vornherein Sinn macht oder nachgerade Zufall ist. Besonders im ersten Teil fällt es etwas schwerer, diese beinahe impressionistische Komposition zu verstehen. Selbst die Pappeln werden aufgefordert sich zu kompostieren [S. 97]. Vielleicht liegt es daran, dass man doch eine Saga oder einen Entwicklungshelden erwartet. Beides gibt es erfreulicherweise nicht, um etwas Neues hervorzubringen: ein manchmal bis ins Clowneske getriebenes, aber doch erstaunlich sinnvolles Kaleidoskop. Seinen Sinn erhält es nur durch die auf zweihundert Seiten festgehaltene einmalige Sicht, und diese Sicht sagt uns: du musst deine Sicht auf dein Kaleidoskop finden, du kannst es drehen und wenden, aber wenn du ausgewählt bist, dann nur dazu, in deinem Kaleidoskop zu kugeln und dich zu finden. Das ist schon eine große Sache.

Und so wird diese kleine Ostberliner Welt noch einmal gespiegelt, nämlich aus einem Kinderzimmer. Die Puppen erzählen die Weltgeschichte, und wem kommt dabei nicht der Gedanke, dass wir nur Marionetten in wessen? Händen seien? Dass die Pubertät die Pforte zu einer Welt ist, die wir weder wollen noch meiden, ist jedem klar, aber einen mutigen Roman über diese Pforte auf die Tür des Kinderzimmers zu schreiben, ist ein Kunststück. Aber sieht die Welt nicht aus wie ein Kinderzimmer? Die Puppen, die gerade erzählten, liegen nun achtlos weggeworfen. Das Kaleidoskop ist zerbrochen. Die Eisenbahn ist stillgelegt. Erinnerungen verkamen zu Lametta, aber das Lametta ist Erinnerung. Die Brotkrumen einer Saga liegen unter dem Tisch. Aber da ist ja Emma Rosenbaum mit ihren Vierwortbefehlssätzen, die sie von ihrer Mutter geerbt und an ihre Tochter weitergegeben hat: Spiel nicht mit Brot. Spiel ist Lebensabbild, auch für diejenigen, die in der Wirklichkeit ankommen wollten.

Der vierte Baustein ist diese Kette von Frauen, die Familiengeschichten ohne die blauen Glasaugen und mit beiden Beinen im Leben. Es ist eine die Geschichte über das vermeintlich universell Weibliche [S. 113], aber tatsächlich über das feminine Universum. Zwar werden auch die Berührungspunkte zwischen Männern und Frauen berührt und beschrieben, aber, und das könnte das Wort sein, das  wie ein Dietrich funktioniert [S.108], es ist weder der Versuch unternommen worden, die beiden Welten zu versöhnen, noch sie zu vermanschen. Emma Rosenbaum ist ein Gegenentwurf, nicht etwa zum Leben, sondern zur ständigen Vermännlichung der Geschichten. Dabei kommt das Buch ohne feministische Klischees und gar Ermahnungen aus. Es ist überhaupt nicht didaktisch, man soll nicht lernen, aber man kann lernen, wenn man will und kann.

Äußerst klar treten Frühgeschichten eines untergegangenen Landes hervor. Das FDJ-Hemd wird umgenäht, ein Kind fällt von einer menschlichen Pyramide des konstruierten Internationalismus auf den Platz vor Wilhelm Pieck, der schon allein mit seinem Namen die Kontinuität Ostdeutschlands sowohl im Roman als auch in der Wirklichkeit verbürgt. Vielleicht war sogar Wilhelm Pieck der Bonus, den Ulbricht und Honecker dann verspielten. Aber nie geht es in ‚Emma Rosenbaum‘ um Geschichte um der Geschichte willen. Es geht um Geschichten, die Menschen passieren, die mit einem Spielzeug in der Hand noch mit einem Bein – das andere ist aus Holz und mit Schnitzereien verziert – in ihrem Kinderzimmer stehen. Vielleicht bedauern sie, dass sie die nachfolgende Welt nicht mit den Augen ihrer Mutter sehen konnten. Aber vielleicht war ihre Mutter auch ein allzugetreues Abbild männlicher Welten, die sie in Vierwortbefehlen kopierte.

Nach dem Lesen dieses sehr poetischen Romans muss man nicht die Welt besser verstehen, aber vielleicht versteht man, dass ein Kaleidoskop etwa so genau ist wie ein Horoskop, und dass der Horror der Geschichte in der Familie durch Liebe abgedämpft werden kann. Vielleicht ist Liebe eine Erfindung der Frauen, meint Emma Rosenbaum. So gesehen handelt das Buch vom wahren Leben und nicht vom ‚Zerbrechen der Bügelfalten‘ [S.92].      

Jana Franke-Frey, Emma Rosenbaum, Roman, VogelsangVerlag Wallmow 2014, ISBN 978-3-939196-05-1,

191 Seiten, 16,80 €

GRUND LEGENDE LEGENDE

Ob ein Gedanke brandnew oder trivial ist, kann der Verfasser selten entscheiden, genauso wenig aber die Leser.

So vielen Menschen fällt es schwer, in der Gegenwart zu leben. Sie sehnen sich nach der Zukunft oder nach der Vergangenheit. Dabei scheint es reziprok zuzugehen: wer in der Vergangenheit lebt, beurteilt die Zukunft als fortwährende Katastrophe, wer in der Zukunft lebt, verzerrt die Vergangenheit. Allerdings muss auch, wer die Vergangenheit liebt, diese reinigen, geraderücken, den Regeln der heutigen Vernunft anpassen. Vernunft aber, so hatten wir schon letztens geschrieben, ist keine Triebkraft der Geschichte, sondern allenfalls ein Instrument ihrer Beschreibung. Rational geht es bei uns Menschen nicht zu.

Der ukrainische Autor Serhij Zhadan schreibt Bücher über den Krieg mit Russland, der seit 2014 tobt und seit einem Jahr durch den russischen Angriff in eine heiße Phase getreten ist. In ‚Internat‘ [2017] holt ein leicht behinderter, nicht sehr selbstbewusster Lehrer der ukrainischen Sprache, die er aber im Alltag selbst nicht spricht, seinen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt Charkiw, die nicht genannt wird. Der Neffe liebt seine Familie nicht und ist nicht besonders handsome, er folgt seinem Onkel nur widerwillig. Während dieser insgesamt dreitägigen Ruinenodyssee begegnen sowohl dem Lehrer allein auf dem Hinweg und den beiden zwangsbefreundeten Wanderern zwar hin und wieder Soldaten, aber es lässt sich oft gar nicht ausmachen, zu welcher Seite die oft versprengten Truppen gehören. Meist lassen sie unsere beiden relativ unbehelligt entkommen, wenn nicht, findet sich ein Umweg. Es wird also weniger der Krieg beschrieben, als vielmehr das Chaos, das dem Krieg auf Schritt und Tritt folgt. Überall findet sich aber auch das Chaos der Sowjetzeit. Warum also die Neorechten hierzulande Zhadan als Kriegstreiber bezeichnen, bleibt ein Rätsel, wenn man außeracht lässt, dass in der neorechten Szene Etiketten wohlfeiler als Argumente sind. 

Noch krasser wird das in dem schon davor erschienenen Roman ‚Die Erfindung des Jazz im Donbass‘ [2010] erfahrbar. Die ganze Welt des Donbas besteht aus Versatzstücken der Sowjetunion, der oligarchiegesteuerten Privatisierung und des schwelenden Konflikts. Daher kommen auch die ständig erwähnten Postkarten aus Woroschilowgrad, so auch der Originaltitel des Buches, die zeitweilige Bezeichnung der Stadt Luhansk nach dem sowjetischen Politiker und Militär. In Luhansk befand sich die im Jahre 1900 von dem Dresdner Fabrikanten Gustav Hartmann gegründete größte Lokomotivfabrik Europas – aber sie ist weitgehend zerstört und stellt heute, in einer winzigen Restproduktion, Töpfe für den Haushalt her! Die Odyssee, auch dieses Buch ist die Vorlage für ein roadmovie, des Protagonisten Herrmann zurück in seine verwüstete Heimat ist beinahe noch fragiler als jene, immerhin auf drei Tage beschränkte Wanderung durch Charkiw, denn sie hat einen nicht benannten Ausgangspunkt und mündet Kriegswüsteneien. Die agierenden Menschen sind alle ehemalige Leninpioniere und haben ihre Immer-bereit-Ideologie nicht aufgegeben. Der Zerfall des Sowjetimperiums mag für einige eine Katastrophe sein, für andere ein Segen, geopolitisch verbesserte sich das Gesamtsystem beträchtlich. Es ist von großer symbolischer Bedeutung, dass neben der Krim der Donbass, das einstige industrielle Herz Russlands, mit seinen reichen Kohlevorkommen, die seit 1795 abgebaut werden, das Streitobjekt zwischen Russland und der Ukraine ist. Um Kohle und Diesellokomotiven wird es in der nahen Zukunft eben nicht mehr gehen. Der gesamte Putinismus ist ein Streben nach dem verlorenen Gestern: Hegemonie, Einflusssphären, Großmachtstreben, Kolonialismus und eben Kohle und Stahl.  

So lässt sich auch viel besser als mit allen anderen Ansätzen erklären, warum die Ostdeutschen so merkwürdig retrovertiert verhalten, obwohl sich – jedenfalls äußerlich – ihr Landstrich wesentlich schneller entwickelte als alle anderen: man vergleiche das prosperierende Potsdam mit dem schrumpfenden Saarbrücken. Nur in der Anzahl der Bettler kann Saarbrücken punkten. Trotzdem wählten die Ostdeutschen beharrlich PDS, jetzt DIE LINKE, nun aber AfD, obwohl sie von sich glauben, dass sie keine Nazis sind. Dies scheint mir am besten erklärbar mit diesem Verharren im Vergangenen, so wie es Zhadan für die Ukraine schildert, die auf dem Weg in den Westen ist, aber jede Menge leninistisches Sperrgut mitschleppt. Auch die Korruption ist als Erbe der Sowjetzeit erklärbar. Sie spielte in der DDR aber nicht die große Rolle, vielmehr war das so genannte Vitamin B eher ein Austausch, wenn auch nicht gleichberechtigt. Das lag aber am extrem asymmetrischen illegalen Umtauschkurs zur D-Mark.  

So wie jedes musikalisch ausdrückbare Gefühl im WTC und jedes zeichnerisch Fassbare sich in Michelangelos Werk findet, so findet sich auch jede menschliche Schwäche und jede Freude im vielleicht kollektiv entstandenen Shakespeareschen Dramen- und Gedichtwerk. So wird auch Hamlet gerne als Zögerer und Zauderer gesehen, weil er dreieinhalb Theaterstunden braucht, um zu tun, was getan werden muss. Hamlet in einer Demokratie würde Jahrzehnte benötigen, um vorwärts zu kommen. Aber ist nicht die berühmte Zeile, dass wir, da wir nicht wissen, was kommt, lieber in den Übeln verharren, die wir kennen, als zu anderen uns zu fliehen, von denen wir nichts wissen*, die Grunderzählung der Vorsicht, der Angst vor der Veränderung? Das ist kein Zaudern, das ist die Flucht zu jenen, die uns das ewige Gestern versprechen. Es gibt keine fortdauerndes Vorwärts. Minderheiten bremsen und wollen zurück und manchmal schaffen sie es, eine Welle der Mehrheit mit sich zu reißen. Aber warum schauen diese Menschen nicht einfach zurück und sehen, dass in der Vergangenheit all das nicht gelöst war, was uns heute belastet. Ausdrücklich lässt Shakespeare seinen nicht ausgedachten, sondern realistisch gezeichneten Protagonisten sagen, dass er bei those ills we have bleiben will. Er weiß und unsere Zeitgenossen wissen, dass es beträchtliche Nachteile gibt. Aber man kennt sie, und deshalb will man bei ihnen bleiben. Die Angst ist größer als das Heilsversprechen, also wird das Heilsversprechen nach hinten verlegt, ins graue, trübe Gestern.

Die Zeitenwende, von der der Redenschreiber des Kanzlers sprechen ließ, ist nicht die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, so notwendig sie vielleicht sein mag, der wirklich wichtige Paradigmenwechsel ist die Ablösung der fossilen Energieträger, der sorgsame Umgang mit den Ressourcen einschließlich des Menschen selbst, das Ende einer europazentrierten Denk- und Wirtschaftsweise, eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz unter besonderer Beachtung der weltweiten Migrationskrise, beinahe möchte man schreiben: und so weiter und so fort, damit klar wird, ein wie winziges Rädchen in diesem Getriebe der Zukunft die Bundeswehr und die Wehrhaftigkeit sind. Sie sind winzige Rädchen!  Es wird uns kein Zaudern mehr weiterhelfen. Wir müssen die Aufgaben, die das Leben der Menschheit uns stellt, beherzt, visionär und bei vollem Verstand zu lösen versuchen. 

Der Protagonist Herrmann wird aus dem Privatzug eines lächerlichen Oligarchen geworfen, der sich auf toten Gleisen befindet. Nach einem langen Fußweg durch die im Nebel liegende unsichtbare Landschaft, bei dem er Angst vor einer Begegnung hat, strecken sich ihm plötzlich aus dem Nebel (des Lebens sozusagen) sechs Kinderhände entgegen. Die Kinder führen ihn in das Sammellager einer Völkerwanderung, die von der UNO und der EU aus Menschenrechtsgründen begleitet wird. In dem Lager, in dem ganzen mongolisch-tatarisch-unbestimmten Volk, haben die Frauen das Sagen. Alle leben in provisorischen Zelten, überall sind Feuer zugange. Es herrscht eine aufgeregte Erwartung. Alle warten auf die Niederkunft der Führerin, die ein Baby, ein Mädchen, ohne kennbaren Vater zur Welt bringen wird, daher der Stopp in der Steppe, und dann auch tatsächlich gebiert.

An dieser Stelle des Romans, dessen Sprache oft fast lyrisch ist, aber in den Dialogen in einen prolethaften Fäkaljargon fällt, obwohl alle Protagonisten einen Hochschulabschluss haben, an dieser Stelle wird das Versagen aller Religionen und Ideologien und gleichzeitig die Größe und Mächtigkeit des notwendigen Bruchs deutlich. Sie verharren bei der unbefleckten Jungfrauengeburt eines Knaben, dessen Vermächtnis sie seitdem mit Füßen treten. Es werden Yesuspuppen hin- und hergeschleppt, Marienbilder geküsst, alte Männer, begleitet von jungen Knaben, tragen Tabernakel und wedeln mit Weirauch. Aber es ist ihnen und keiner anderen Religion oder Ideologie in mehr als dreitausend Jahren nicht gelungen, den einfachen Satz, dass man seine Feinde lieben soll, weil man dann keine mehr hat, verständlich zu machen und die Menschheit damit zu infizieren. Statt dessen wird weiter gespalten, gehetzt, verleumdet, gelogen, gemordet und scheinheilig getan. Den einstweiligen Gipfel dieses eklatanten Missbrauchs dürfte jener KGB-Offizier sein, der sich jetzt Kirill der Erste nennt und als Oberhaupt der russischen Orthodoxen zum Brudermord an den ukrainischen Orthodoxen  offen aufruft, einschließlich der von ihm verfügten Vergebung aller Sünden.

Dem Verfasser von ‚Die Erfindung des Jazz im Donbass‘ geht es wahrscheinlich, mir ganz sicher nicht um ein neues Matriarchat. In manchen Bereichen sieht es zwar so aus, aber in anderen herrscht noch das blanke Mittelalter. Was sich da in der Steppe bei Woroschilowgrad zusammenbraut, ist die Metapher für die Größe der Lösung, die wir brauchen. Wie immer, deutet die Metapher einiges an: Nomaden auf dem Weg in die Sesshaftigkeit, Sesshafte auf dem Weg (!) ins Nomadentum, Frauen als Quelle des Lebens, Kinder als Quelle fortwährender Fröhlichkeit. Auf dem Weg in die Emanzipation aller Minderheiten sind wir schon weit fortgeschritten. Aber noch gibt es viel zu viele Kinder, die nicht genug essen oder lernen können. Wir müssen den Hänsel-und-Gretel-Komplex endgültig und nachhaltig umdrehen: Kindern darf die Zukunft nicht nur sprichwörtlich gehören, sondern wörtlich. Sie brauchen ein modal angepasstes Wahl- und Mitbestimmungsrecht. Sie brauchen Investitionen in ihre Bildung, moderne Schulen, moderne Methoden, moderne junge Lehrerinnen und Lehrer.  

Neulich sagte ein mit mir befreundeter Pfarrer, dass die Menschen von Moral nichts mehr hören wollen, dass sie moralsatt sind und dass deswegen die Säkularisierung in die Diktatur führt. Das ist zum Glück schon deshalb falsch, weil das Christentum zwar einen großen Anteil an unserer Moral, unserer Ethik und unserem Wertesystem hat, aber nicht der alleinige Urheber ist. Rousseau, Kant, Lessing (‚Der Aberglauben schlimmster ist, den seinen für den erträglichern zu halten.‘) , Schiller (‚Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt.‘), Goethe  (‚Gott  nur ist moralisch, kein Mensch ist es vis-a-vis von sich; man ist es nur gegen andere, denn niemand kann sich selbst subordinieren.‘), Kierkegaard und Nietzsche, die ganze Aufklärung, das ganze Programm, haben ebenfalls dazu beigetragen. Wenn wir aufhören, uns gegenseitig zu halten, wenn wir einander die Treue brechen, dann wird das Meer uns verschlingen, dann geht das Licht aus** – das steht nicht in der Bibel, das ist von einem der größten Denker Amerikas, James Baldwin.       

*Hamlet III1

**The Price of the Ticket, S. 400

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CUI BONO?

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Im Sommer 1967, zwischen dem Sechs-Tage-Krieg und meiner Armeezeit, arbeitete ich in der Berliner Stadtbibliothek als Magazinarbeiter. Der Sechs-Tage-Krieg fiel mit unserem Abitur zusammen. Ich wollte unbedingt noch etwas Geld verdienen. Der eigentliche Gewinn dieser schönen, drei Monate währenden Arbeit, lag aber darin, dass ich jeden Tag ein Buch las, denn zu den Pausen kam, als unverhoffte Lesezeit, die durch den Mauerbau höchst umständliche S-Bahn-Fahrt mit dem Berliner Außenring. Eines Tage lautete ein außerplanmäßiger Auftrag, Bücher aus dem benachbarten Staatsratsgebäude und dem wenige Meter weiter befindlichen ZK der SED zu holen. Unter Bewachung schwerbewaffneter MfS*-Soldaten fuhren wir mit unserm Wägelchen auf dem breiten Bürgersteig und über die Breite Straße in Ostberlins Mitte. Das Staatsratsgebäude gab es erst seit drei Jahren, während das ZK-Gebäude eine ebenfalls kurze, aber doch schon sehr bewegte Geschichte hinter sich hatte. Es wurde als Erweiterungsbau der Reichsbank geplant und gebaut. Um den Architekturwettbewerb rankt sich die Legende, dass ihn Hitler selbst zuungunsten der weltberühmten Architekten um Gropius, Mies van der Rohe und Hans Poelzig entschieden hatte. Auf der konservativen Seite bewarb sich Heinrich Tessenow aus Neubrandenburg. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Kompromisskandidat, der Hausarchitekt der Reichsbank, Heinrich Wolff, sich mit seinem Kompromissvorschlag der gemäßigten Moderne durchsetzte. Zur Grundsteinlegung mit Hitler kamen 6000 geladene Gäste. Legendär waren (oder sind?) die flutbaren Tunnelsysteme unter und neben dem Gebäude, die der Sicherung der Gold- und Geldreserven dienen sollten. Erst 1959 zog in das Haus am Werderschen Markt, den es gar nicht mehr gibt, das Zentralkomitee der SED ein. Um den Sitzungssaal seines Politbüros, der eigentlichen Machtzentrale der DDR, ist nun ein absurder Streit entstanden. Vielleicht hat der erste in diesem Haus residierende gesamtdeutsche Außenminister, Klaus Kinkel, FDP, vorgeschlagen, diesen weiter als Sitzungssaal genutzten Raum nach dem Gründer des Auswärtigen Amtes, Bismarck, zu benennen.  Die jetzige Ministerin, Annalena Baerbock von den Grünen, hat ihn in Saal der deutschen Einheit umbenannt, vielleicht in Erinnerung, dass er einst Saal der deutschen Zweiheit war. Die rechte Grünenschelte macht nun daraus eine Abkehr vom Gesamterbe. Weder der Saal noch das Gebäude hat irgendetwas mit Bismarck zu tun. Es gibt in Deutschland rund 500 Bismarckdenkmäler und 150 Bismarcktürme. Der Bismarckturm in Frankfurt an der Oder wurde 1945 von der Wehrmacht gesprengt, während der Bismarckturm auf der Porta Westfalica hoch über der Autobahn A2 thront, wie jeder weiß. Um das Erbe Bismarcks muss sich also niemand Sorgen machen, zumal die von ihm begründeten Sozialversicherungen ein absolutes Markenzeichen Deutschlands sind. Jeder Sozialkundelehrer betont und erklärt das unzählige Male.  Diese Würdigung als Schöpfer eines Sozialsicherungssystems ist aus heutiger Sicht mehr wert als weitere Denkmäler, Türme und Säle. Allerdings hat Bismarck noch eine zweite bemerkenswerte, jedoch dunkle Seite: das Sozialistengesetz, beide sind eng verflochten. Dabei geht es nicht um die Sozialdemokratie, die sogar gestärkt aus der Unterdrückung hervorging, sondern um die Unterdrückung als Instrument autoritärer Herrschaft. Obwohl Bismarck die Katholiken im von ihm entfachten Kulturkampf als seine Feinde betrachtete, übernahm er den autokratischen Grundsatz von Papst Pius IX.: Wenn sich jemand — was Gott verhüte — herausnehmen sollte, dieser unserer endgültigen Entscheidung zu widersprechen, so sei er ausgeschlossen. Die Exkommunikation ist seither – auch in ihrer passiven Form als Migration – ein beliebtes Mittel aller Autokraten. Wir erinnern uns noch an den berüchtigten Satz Erich Honeckers, wahrscheinlich in diesem Gebäude, vielleicht sogar in diesem Saal formuliert, aus dem Jahr 1989: Wir weinen ihnen keine Träne nach. Ähnlich äußerte sich auch der eritreische Diktator Isaias Afwerki angesichts des Massenexodus von mehr als einer Million junger Menschen aus seinem winzigen und bettelarmen Land.

Kein Mensch und kein Geschehen hat nur eine Seite. Früher nahm man die beiden Seiten von Münzen als Metapher dafür, heute wissen wir, dass auch Münzen eher tausend als nur zwei Seiten haben.  So ist es auch mit dem von vielen Menschen zurecht verehrten Preußenkönig Friedrich II. Er brachte die Aufklärung und die Kartoffel, aber auch Kriege und Hegemonialstreben. Aus seiner gegen absolutistische Autokraten gerichteten Schrift Anti-Machiavell zitieren wir gerne den Satz, dass der König der erste Diener seines Staates sein soll. Darin steht aber auch, dass Politiker gerne glauben machen wollen, dass Politik und Moral unvereinbar und demzufolge List, Verrat und Eidbruch erlaubt seien.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Spross eines Professorenehepaars, studierte ordentlich Jura, um dann aber Schauspieler, Komödiant, Komiker, comedian zu werden. Den größten Erfolg hatte er mit der Hauptrolle in der Seifenoper Слуга народу, zu Deutsch: Diener des Volkes. Darin spielt er einen Geschichtslehrer, der sich über die Verlogenheit und Korruption in seinem Land aufregt und dabei unversehens zum Präsidenten wird, der gegen die Verlogenheit und die Korruption ankämpft und sich damit in die Herzen seines Volkes dient. Kurze Zeit darauf hat sich Selenskyj tatsächlich als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen und hat mit über siebzig Prozent gegen den staunend-verzweifelnden Amtsinhaber Poroschenko gewonnen. Seither kämpft er gegen Verlogenheit und Korruption und wird immer beliebter, weil kompetenter. Allerdings muss man auch sehen, dass vor knapp einem Jahr der Ukrainekrieg Russlands in seine heiße Phase einstieg und sich hier Selenskyjs Führungsqualitäten erst richtig entfalten konnten. Legendär ist seine Antwort auf US-Präsident Bidens Angebot, ihn aus Kyjiv** ausfliegen zu lassen: I need ammunition, not a ride.  Über die Umkehrung des Verhältnisses von Politiker und Imitator haben wir schon zweimal in Bezug auf Chaplin und Hitler geschrieben. Allgemein wird angenommen, dass der Film Der große Diktator, in dem Chaplin sowohl den jüdischen Friseur im Ghetto als auch den Diktator Hynkel spielt, eine Hitlerparodie sei. Das ist der Film auch sicher und grandios. Aber es gilt auch das umgekehrte: der kinobegeisterte arbeits- und obdachlose Hitler sah den Tramp oft im Kino und nahm ihn sich zum Vorbild. Er wollte der einfache, unbedarfte Mann aus dem Volk sein, der erst vom Pech verfolgt, dann aber ein Diener des Volkes wird. Statt dessen hat er aber die Komikerstaffage als Tarnung seines durch List, Verrat und Wortbruch gekennzeichneten Politikstils übernommen.

Das ist auch Putins Politikstil. Und auch er stammt aus einer Fernsehserie: sein Vorbild ist der fiktive KGB-Agent Max Otto von Stierlitz alias Wsewolod Wladimirowitsch Wladimirow. Der Zusammenhang zwischen Putin und dieser sowjetischen Kultfernsehfigur der siebziger Jahre wird am besten durch einen Witz aus dieser Serie charakterisiert: In Hitlers Bunker kommt ein Mann und schenkt Tee ein, Hitler fragt Gestapochef Schellenberg, wer das war, Schellenberg antwortet, das war Stierlitz aus meiner Abteilung, in Wirklichkeit ist er aber ein russischer Agent: Oberst Issajew, Hitler fragt: und warum verhaften Sie ihn dann nicht? Schellenberg antwortet: das bringt nichts, er wird sich herauswinden und sagen, er hätte nur Tee gebracht.  

Putin hat das anhand des von ihm erfundenen Bedrohungsszenarios durch die NATO vorgeführt. Der einstige US-Außenminister James Baker (unter Präsident Bush senior) hat tatsächlich während der Deutschland-Verhandlungen 1990 gesagt, dass sich die NATO keinen inch nach Osten bewegen wird. Aber: da existierte der Warschauer Pakt noch fast zwei Jahre und niemand hat auf diese Bemerkung geachtet und sie ist nirgendwo verhandelt oder in Verträge aufgenommen worden. Nachdem sich der Warschauer Pakt  Ende 1991 aufgelöst hatte, erinnerten sich die nun selbstständigen Staaten des ehemaligen Einflussbereichs der Sowjetunion – die es nun auch nicht mehr gab – an die fortwährende Bedrohung durch Russland, das es nun plötzlich wieder gab. Sie drängten also nach Westen unter das Dach der NATO und der EU. Das fand Putin 2004 in einer Pressekonferenz mit dem damaligen Bundeskanzler Schröder nicht problematisch, im Gegenteil, er lobte die neue Stufe der Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland im neugeschaffenen NATO-Russland-Rat. Des Rätsels Lösung ist also, dass der Jelzin-Nachfolger Putin weder den Zusammenbruch der Sowjetunion noch den des Warschauer Paktes hat verarbeiten können. Im Gegenteil: er spielt mit der Großmachtsehnsucht seines nicht im Wohlstand lebenden Volkes. Wohlstand braucht keinen Nationalismus. Deshalb sucht er jetzt immer wieder nach neuen Begründungen für seinen wahnsinnigen und auch erfolglosen Krieg. Er behauptet, die NATO rücke bedrohlich näher, tut aber alles, damit die NATO tatsächlich näher rückt (Schweden, Finnland).

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Keine Person, so wissen wir alle, und kein Geschehen kann aus einem einzigen Grund erklärt werden. Die berühmte Frage wem nützt es? hat auch eine berühmte Antwort der ist es gewesen!, denn sie stammen beide aus einem Strafprozess. Wem irgendetwas nützt ist ein Aspekt einer Sache, aber oft nicht der oder noch nicht einmal ein Grund. Wer also glaubt, dass, da die Gaslieferungen nun auch aus den USA kommen, die USA der Nutznießer des Krieges und demzufolge auch sein Verursacher sei, ist mindestens einer Verkürzung aufgesessen, wenn nicht einer Verschwörungstheorie, man denke an den 11. September 2001 (nine eleven). Die Frage wem nützt es? sucht nicht eine Erklärung, sondern einen Schuldigen. Trotzdem wollen wir sie einmal für die Argumentation zulassen. Dann stellt sich heraus: die Abhängigkeit Europas vom russischen Gas (zu 50%) und Erdöl (zu 30%) nützte unserer Gier nach billigen und fossilen Rohstoffen für die Energie. Der niedrige Preis ergibt sich aus unserem tief verwurzelten Glauben an das Geld. Gleichzeitig hat die billige Energie unsere gravierenden Wettbewerbsnachteile gegenüber den USA und China, zum Beispiel mangelnde Innovation, kompensieren können. Wir hingen an den fossilen Rohstoffen, weil wir nicht glauben, dass wir gerade dabei sind, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Der Wohlstand für immer mehr Menschen hat ein enormes Wachstum der Weltbevölkerung gebracht, allein in unserer Zeit drei Verdopplungen: von zwei auf vier, von drei auf sechs und schließlich von vier auf acht Milliarden Menschen. Dieses Wachstum wird erst in der Mitte des Jahrhunderts enden, wenn – und auch nur falls – der Wohlstand so hoch ist, dass zu seinem Erhalt nicht mehr Kinder als Erwachsene notwendig sind. Die vielen Menschen können aber mit Nahrung und Energie versorgt werden, allerdings nicht durch Verbrennung und ungehinderten Ressourcenverbrauch.

Der Krieg hätte tatsächlich verhindert werden können: wenn wir das alles bei Putins Machtantritt beachtet hätten, statt dessen haben wir ihn gewähren lassen, nicht einmal aus Appeasement-Gründen, denn Georgien, Ossetien, Abchasien, Transnistrien, Tschetschenien, Donbass, Luhansk und Krim waren uns gleichgültig, sondern aus Gier und Eigennutz. Wem nützte das alles: UNS, bis das System aus Eigennutz, Gier und Unverstand zusammenbrach. Damit keine Missverständnisse aufkommen, wiederhole ich, dass der Kapitalismus zwei Seiten hat: Maximalprofit und Maximalkonsum.

Das linke Abonnement, im gesamten Ostblock war die Frage Standard,  auf die Wem nützt es?-Frage kam wohl durch den kommunistischen Medien-Guru Willi Münzenberg (‚der rote Millionär‘), der sie in seinem Braunbuch vom Reichstagsbrand nicht nur benutzte, sondern ihr die allerhöchste Priorität einräumte. Er rückte in diesem hoch verdienstvollen Braunbuch auch von der Klassenkampftheorie ab und ersetzte sie mit einem Kriminalroman über die Nazi-Führung, der wahrscheinlich ziemlich realistisch war. Im Reichstagsbrand, dem Braunbuch und dem Prozess  kann man das Ringen zweier Verschwörungstheorien nach der Wem nützt es?-Frage beobachten. Der Reichstagsbrand nützte den Nazis und er nützte den Kommunisten, und wir wissen immer noch nicht, wer den Reichstag angezündet hat. Die Beantwortung dieser Frage, wir wiederholen es, bringt selten eine Erklärung, oft aber einen Schuldigen, noch öfter einen vermeintlich Schuldigen zum Vorschein.

In der Logik kann der einseitigen Betrachtung durch die cui-bono-Frage auch mit dem Trugschluss des cum hoc ergo propter hoc widersprochen werden:  zwei Ereignisse, die gleichzeitig auftreten, müssen deshalb nicht verbunden sein, schon gar nicht kausal. Der amerikanische Soziologe David A. Baldwin hat das mit den Taxifahrern erklärt, die vom Regen profitieren, ohne für ihn verantwortlich zu sein. Mir scheint dieser immer wieder beliebte Trugschluss verwandt zu sein mit dem Scholllatourismus nach dem einst omnipräsenten Fernsehjournalisten Peter Scholl-Latour, der aus seiner Anwesenheit an einem bestimmten, meist kritischen Ort seine Kompetenz, die dortigen Ereignisse erklären zu können, herleitete. Von ihm stammen berüchtigte und auch leider langlebige Vorurteile, wie zum Beispiel das Kalkutta-Paradox oder die Ansicht, dass der Islam an sich menschenfeindlich sei. Vorurteile sind leichter zu erlangen als Urteile und halten sich länger als diese. Und obwohl Verurteilungen schon in der Bibel verurteilt werden, halten so viele Menschen an ihrer Berechtigung und scheinbaren Kompetenz dafür fest.

Warum aber kann der Krieg nicht mit UNO-Soldaten gestoppt werden? Russland hat als Siegermacht des zweiten Weltkrieges, als Signatarmacht der UNO  und als Nuklearmacht im UNO-Sicherheitsrat ein Vetorecht, das es genauso oft ge- und missbraucht hat wie die anderen vier Vetomächte. Die Gegner der Waffenlieferungen übersehen, dass diese ein traditionelles Mittel für den jeweils unterlegenen und überfallenen Kriegsteilnehmer sind. Durch Waffen- und Logistiklieferungen wurde der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg geholfen, Südkorea im Koreakrieg, Nordvietnam im Vietnamkrieg (auf dessen Gegenseite immerhin erst Frankreich und dann die USA standen), Bosnien im Jugoslawienkrieg, Kosovo im Kosovokrieg und nun der Ukraine im Ukrainekrieg.  Was ist daran nicht zu verstehen?  Russland will seine wirtschaftliche Schwäche, die es nicht eine wirkliche Großmacht sein lässt, hinter nationalistischen und kolonialistischen Großmachtfantasien verbergen. Russland ist bevölkerungsmäßig doppelt so groß wie Deutschland, hat aber ein Bruttoinlandprodukt, das nur halb so groß ist. Jeder weiß, dass es sich zu wahrscheinlich achtzig Prozent aus Rohstoff- und Lebensmittellieferungen speist. Russland ist technologisch ein Entwicklungsland. Das viele Geld, das es durch Erdöl und Gas verdient, verschwindet bei den Oligarchen oder in anderen korrupten Kanälen. Wahrscheinlich weiß das niemand. Ich erinnere an die 100 Millionen US-Dollar, die Putin zur Verfügung gestellt hatte, um in der Ukraine, vor dem Angriff, Agenten und Claqueure anzuwerben, die die russischen Truppen, unter anderen die Fliegerstaffel der Luftlandeoperation auf dem Flugplatz Kiew-Hostomel und den 60-km-Konvoi in Richtung Kiew, begrüßen sollten. Bekanntlich stand da kein einziger agent provocateur, der Flugplatz wurde nicht eingenommen, der Konvoi kam nicht an. Bis zum 23. Februar des vorigen Jahres haben wir wohl alle angenommen, dass die russische Armee, wenn schon nicht die zweitstärkste der Welt (wie in dem ukrainischen Witz, dass sie jetzt dafür die zweitstärkste in der Ukraine ist), doch eine sehr starke, große und schlagkräftige Armee sei. Nun zeigt sich, dass ihre ganze Stärke lediglich in der schieren Menge schlecht ausgebildeter Soldaten besteht. Putin droht mit Waffen, die als Prototyp bestehen mögen, von denen es aber keine in der kämpfenden Armee gibt. Dutzende Generäle sind gefallen, jeden Tag sterben geschätzt 800 Soldaten, der dritte Oberkommandierende soll jetzt das Kompetenzchaos richten, das bisher Putin genützt hat (!), nun aber dem Krieg und dem Sieg schadet. Russland wird diesen Krieg nicht gewinnen. Im schlimmsten Fall wird es auseinanderbrechen, im besten Fall kommt es zu einem Kompromiss wie nach dem Winterkrieg gegen Finnland. Wir erinnern uns, dass wir schon einmal den sowjetischen General zitiert haben, der das Ende des Winterkriegs mit folgenden Worten kommentierte: Wir haben gerade soviel Land gewonnen, dass wir unsere gefallenen Soldaten darauf beerdigen können. Schon jetzt sind der Donbass und Luhansk so weit zerbombt und geschunden, dass noch nicht einmal die Post funktioniert. Der Donbass war einst das Ruhrgebiet oder die Wallonie der Sowjetunion. Mariupol am Schwarzen Meer wurde erobert, aber es existiert nicht mehr, so wie Karthago nach dem dritten Punischen Krieg nicht mehr existierte. Wem nützt das?

Niemand weiß, wie dieser Krieg ausgehen wird, jede Seite spekuliert zu ihren Gunsten. Aber das darf niemanden hindern, kein Land und keinen Menschen, denjenigen zu helfen, die in Bedrängnis sind. Ich finde es merkwürdig, wenn ganze Theorien ausgedacht werden, warum damals Bosnien und heute die Ukraine keiner Hilfe würdig sind. Wer kann und will über Tod und Leben entscheiden?

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Wer nicht will, dass mit seinem Geld etwas getan wird, was er oder sie nicht will, muss die Partei wählen, die sein oder ihr Geld in seinem oder ihrem Sinne verwendet. Das ist sowohl ironisch gemeint als auch realistisch: die linke Partei hat in der letzten Bundestagswahl 4,9% der Wählerstimmen erhalten, die andere Alternative 10,3%. Damit kann keine der beiden Parteien regieren, wenn sie sich noch dazu so verhalten, dass die anderen Parteien mit der einen nicht koalieren können, wegen der Nähe zum Rechtsextremismus, mit der andern nicht wollen, wegen des ständigen Taktierens, Spaltens und Hetzens.

Ihren Wählern oder auch den Nichtwählern bleibt wohl nur zu schimpfen. Mit der Politikerschelte, die selbstverständlich unter die Meinungsfreiheit fällt, aber nicht produktiv ist, begann übrigens der Auflösungsprozess des Konsenses nach dem Ende des Kalten Krieges. Dem einen Politiker wird vorgeworfen, dass er nichts tut, dem anderen, dass er übereifrig ist, die eine ist inkompetent, die andere hat den falschen Beruf, der nächste verdient zu viel oder kauft zu teure Häuser, der wieder nächste verschwendet Steuergelder. Letztendlich steckt dahinter das Unbehagen an der Demokratie. Statt sich wenigstens in die Kommunalpolitik einzubringen und dort an Entscheidungen teilzunehmen, verbleibt man im Empörungsmodus. Empörung gibt einem das gute Gefühl, etwas erkannt zu haben, etwas getan zu haben, auf der richtigen Seite zu sein. Man scheint auch wissender als man ist. Der größte Teil der Empörung speist sich aus puren Behauptungen. In der sechzehn Jahre währenden Kanzlerschaft von Angela Merkel konzentrierte sich ein Großteil der sich sogar schon formierenden Empörung (Pegida, dann AfD) im Osten Deutschlands. Dafür gab es verschiedene Erklärungsansätze: die Ostdeutschen hätten sich noch nicht aus der Diktatur hinauswinden können, sie seien staatsgläubiger als die Westdeutschen, sie hätten ein besonderes Verhältnis zu Russland. Tatsächlich ging die besondere Russlandpolitik bereits von den Kanzlern Kohl und Schröder aus und wurde von Merkel nur fortgeführt. Die Pegida hatte ihren Ursprung tatsächlich in Dresden, die AfD dagegen hatte immer Führer aus dem Westen. Chrupalla ist der erste autochthone Ostbürger. Wahrscheinlich aber spielt die Herkunft, wie auch in anderen Bereichen, gar keine herausragende, vielleicht sogar gar keine Rolle. Empörung ist einfach von allen Aktivitäten die passivste, die trotzdem ein gutes Gefühl erzeugt: man muss nichts tun und ist trotzdem richtig.  

Demokratie, Säkularisierung, Globalisierung rütteln tatsächlich an den Grundfesten der alten Welt. Aber sie stammen nicht von Aliens vom Mars. Die Globalisierung begann, wenn man solche Großereignisse überhaupt an einem Datum festmachen kann, 1444, als das erste Schiff mit Sklaven aus Afrika nach Europa unterwegs war. Die Religionen, die jetzt beklagen, dass ihnen die Menschen abhandenkommen, erklärten die Afrikaner für Nichtmenschen, damit sie entwürdigt und verwertet werden konnten. Allerdings muss man zur Ehre der Christen sagen, dass der Abolitionismus auch von Klerikalen in Portugal (Marques de Pombal), Großbritannien und den USA ausging. Jedoch spielte dabei auch die Aufklärung und die Ökonomie eine große Rolle. Die Aufklärung begann, wieder so ein Datum, am 2. November 1755, als Lissabon in einem Erdbeben, einem Tsunami und einem Großbrand zerstört wurde und der Kanzler Marques de Pombal sagte: Begraben wir die Toten und bauen wir die Stadt wieder auf. Die Religionen verharrten, statt darauf zu reagieren, in der Hoffnung, dass sie immer Staatskirche bleiben und der Glaube sozusagen polizeilich garantiert würde, so wie in Deutschland heute noch die Kirchensteuer ein Teil der Lohnsteuer ist. Die Säkularisierung führt also zur Demokratie, nicht zur Diktatur, allerdings auf langen, verschlungenen und widersprüchlichen Wegen. Immer noch ist die Sinuskurve die beste Abbildung dafür. Demokratie ist auf schicksalhafte Weise mit Wohlstand verbunden, und beide sind nie erreicht, sind asymptotisch. Die Coronakrise hat gezeigt, wie schnell viele Menschen in den Krisenmodus zurückfallen können. Beim ersten Lockdown wurde gehamstert, in der Folge gab es kein Klopapier (dummes Horten) und keine Hefe (schlaues Horten). Unter schlauem Horten verstehen wir die Parallele zum schlauen Bettler: er kauft sich Brot und ein Buch Wie werde ich Millionär?

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So wie die von Darwin beschriebene Evolution die Geduld der Natur vorschreibt, die aber kein Ziel und kein Ende hat, so ist die Demokratie die fast unmögliche Geduld ausgerechnet derjenigen Menschen, die Individualisten in einer bis vor kurzem unvorstellbar großen Menge, die durch Globalisierung aber eng verbunden und in einem ständigen Austausch befindlich, durch Säkularisierung aber ihrer bisherigen Wegweiser verlustig gegangen sind. Der berühmte Kierkegaard-Satz, dass wir vorwärts leben müssen, das Leben aber nur rückwärts verstehen können, ist beinahe noch zu optimistisch, denn wir können vieles historisch auch nicht richtig verstehen, weil wir immer zu viel Vernunft und Logik in unendliche Mengen von zufälligen Ereignissen hineininterpretieren. Vernunft und Logik sind nicht Triebkräfte der Geschichte, sondern Elemente ihrer Beschreibung. Außerdem interpretieren wir die Wirklichkeit mehr in ihren ikonografischen Dimensionen als nach tatsächlichen Ereignissen, die uns nach wie vor nicht zugänglich sind, die nicht verborgen werden, sondern verborgen sind. Je mehr Bilder es gibt, desto mehr werden sie für die Wirklichkeit gehalten. Das Goldene Kalb, das einen sichtbaren Gott einem unsichtbaren vorzog, ist wieder einmal Wirklichkeit geworden.

Wir werden nicht mehr von charismatischen Führern geführt, sondern von enigmatischen Bürokraten, die einerseits allwissend sind, andererseits uns immer wieder befragen, ob wir noch da sind, wieviel wir verdienen und ob wir noch zu Transparenz und Kooperation bereit sind. Die Bürokratie selbst verbirgt sich hinter Öffnungszeiten und Inkompetenzen. Das beste Beispiel dafür ist die Verwaltung der Bundeshauptstadt und des Landes Berlin, allein schon diese Doppelfunktion ist ein bürokratisches Monster. Man muss aber auch sehen, dass wir einerseits den Mangel an Vereinfachungen und Digitalisierungen beklagen, andererseits aber am Bargeld kleben. Kein Wunder also, dass hinter all den unverständlichen und unlogischen Erscheinungen ein böser oder guter Geist vermutet wird, der sowohl Gott abgelöst hat als auch den Despoten, dem man dankbar sein oder den man verfluchen konnte (‚Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen‘). Die meisten Menschen in den gegenwärtigen großen Demokratien haben lange und mit großem Unverständnis auf die Sehnsucht nach charismatischen und allwissenden Führern herabgeblickt, ohne zu bemerken, dass sie selbst überall den Weltgeist, das Unglück, das Böse, die Vernunft, die Unvernunft, die Ungerechtigkeit, die Ungleichbehandlung, den unermesslichen Reichtum, die unverschuldete Sklaverei, die Zunahme des Verbrechens und so weiter vermuten.

Jede neue Sicht wird beargwöhnt. Die alten Feinde der Menschheit Rassismus, Klassismus und Sexismus glaubt man fern. Gendern erscheint so gesehen als unverständlicher, despotischer Eingriff in die angeblich eigene Sprache, in die vermutete Intimsphäre. Die Diskriminierung des anderen wird billigend in Kauf genommen. Das ändert sich, wenn man sich in den Schönhauser  Allee Arkaden mit einer Frau trifft, die man früher als junger Mann kannte. Dann beginnt man zu überlegen, wer, wie, was ist. Ebenfalls in Berlin, im Alten Museum, gegenüber vom Haus am Werderschen Markt, steht der so genannte Berliner Hermaphrodit. Er ist knapp zweitausend Jahre alt und zeigt, wie alt das Problem und wie schön man schon früher damit umgegangen ist: sexuelle Identität ist fragil. Wir haben das große Glück, in einer Zeit zu leben, in der winzigen Minderheiten die umfassende, längst überfällige Würde zurückgegeben wird, denn wir können vermuten, dass Diskriminierung oder Segregation Zutaten von Herrschaftsmechanismen der staatlichen und religiösen Ordnungen und Ideologien waren und sind.

Hinter jeder Umbenennung wird demzufolge auch eine banal-böse Macht vermutet und nicht etwa einfach neue Erkenntnisse. Wer zum Beispiel beobachtete, dass die Greifswalder Universität ihren Namen abgelegte, kann das als Abschütteln der Nazivergangenheit deuten oder als Distanzierung von wichtigen Traditionen. Aber alle Traditionen sind historisch, sie kommen und vergehen und sie werden, solange sie da sind, maßlos überschätzt, wenn sie aber verschwanden, schnell vergessen. Deshalb erklären autokratische Staatsysteme jedes zweite Ereignis zur tausendjährigen Tradition. Das Alter einer Universität hat nichts mit dem Namen zu tun, zumal wenn er erst vor kurzem von fragwürdigen Gestalten verliehen wurde. Die Greifswalder Universität verdankt ihren nun abgelegten Namen den Nazis und die Ablegung einem Beschluss des Senats und einer Befragung der desinteressierten Studenten, was sich in der äußerst geringen Wahlbeteiligung zeigte. Was sagen die Pommern dazu? Die Pommern sagen dazu nichts, weil sie schon lange nicht mehr wissen und wissen wollen, wer Ernst Moritz Arndt war. In Greifswald leben auch nicht nur Pommern und schon gar nicht nur geschichtsinteressierte Pommern. In Greifswald lebte vor vielleicht fünfzehn Jahren eine afrodeutsche Bratschistin, die im Stadttheater arbeitete und von einer rassistischen Kellnerin nicht bedient wurde. Aber das ist lange her und zeigt jedoch, wie übel lange Traditionen wirken. Natürlich ist niemandem (von wem auch?) verboten, Pommern zu sagen oder zu lieben. Selbst in der DDR war es nicht verboten, aber unerwünscht. Statt dessen sollte man sagen, man lebe im Bezirk Rostock oder im Bezirk Neubrandenburg. Dieser – aber auch nicht gewaltsame – Eingriff wirkt bis heute nach, so dass Menschen in Pommern glauben, dass sie nicht in Pommern leben oder nicht Pommern sind. Aber vielleicht neunzig Prozent aller Menschen interessieren sich nicht dafür. Pommern als Identität war wichtig, solange die meisten Menschen lebenslang in ihren Dorf sozusagen gefesselt waren, gefesselt durch Familie, Arbeit, Tradition, Unwissenheit, vor allem mangelnde Navigation. Statt dessen ist in einer Demokratie alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist, wie zum Beispiel das Hakenkreuz, weil es in Deutschland eben nicht ein altindisches Sonnensymbol ist, sondern weil bei uns bis auf den heutigen Tag die einseitige Interpretation als Kennzeichen einer rassistischen und militaristischen Diktatur vorherrscht. Es ist auch nicht verboten (von wem auch?), Menschen aus Afrika als Neger zu benennen. Nur zeigt man damit, dass man in letzter Zeit nicht viel verstanden hat. Nicht erlaubt ist dagegen, die Würde eines Menschen ‚anzutasten‘, wie es im Grundgesetz heißt.

Andererseits kann durch ein Gesetz, so falsch oder unpopulär es auch immer dem einzelnen erscheinen mag, keine jahrtausendealte Identität zerstört werden, weil es die nicht gibt. Nationen etwa begannen sich erst im 18. Jahrhundert herauszubilden, und sie sind immer ein zweifelhaftes Konstrukt [Ernest Renan].  Identitäten und Definitionen sind ebenso historisch wie fragil, fragwürdig und zweifelhaft. Definitionen sind meist tautologische Plattitüden, Identitäten dagegen gleichen eher idealisierten Wunschbildern. Da alles in Bewegung ist, sind Definitionen so falsch wie Tatortfotografien. Nichts ist mit etwas anderem identisch, noch nicht einmal mit sich selbst.

Ob jemand sein Dorf, zunehmend auch seine Stadt, eine Region, ein Land, vielleicht sogar eine Nation oder einen ganzen Kontinent, wie viele Afrikaner tun, als seine Heimat festlegt, kann der- oder diejenige nur selbst wissen. Bei vielen Menschen ändert sich das auch. Seit eh und je, und auch heute noch, gibt es Nomaden und Sesshafte und tausend Zwischenformen.  Migration kann ein Ziel haben (Amerika), kann aber auch nur Flucht sein.  Sesshaftigkeit kann ein Ausdruck von Treue und Loyalität sein oder aber einfach Dummheit (‚stupid economy‘).  

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Obwohl ich selbst immer die Multikausalität beschrieben habe (jedes Ereignis hat tausend Gründe, jedem Grund folgen tausend Ereignisse, alles überschneidet, widerspricht und schließt sich aus und ein), müssen doch auch Generalisierungen möglich bleiben.

Viele Menschen glauben zu sehr an den Staat. Sie verstehen nicht oder wollen nicht verstehen, dass der Staat kaum mehr sein kann als sie selbst. Wer den von ihm geschätzten oder gewählten Staat als alternativlos sieht, missachtet seine Mitmenschen. Wer den Staat, in dem er lebt, ablehnt, lehnt sich selber ab. Er müsste den Staat umstürzen oder gehen. Die DDR und Eritrea sind dafür schöne Beispiele. Die Divergenz des Staates mit seinen Bürgern kann man dank eines der besten Geschichtsbücher der letzten fünfzig Jahre*** bis ins letzte Detail und bis ins letzte Dorf studieren. Selbst gutgemeinte Wissenschaft führte zu Rassismus, wenn sie die Prämissen (Traditionen) von gestern als Maßstab anlegt, und selbst der bestmeinende Despot (Baudouin)  wird in seiner Imitation (Mobutu) nicht nur zur Farce, sondern zum Monster. Mobutu hatte übrigens Ceausescu als Vorbild, der wiederum den Personenkult von Kim Il Sung imitierte.

Der Staat, als Staatsapparat, als Exekutive, ist ein Ordnungsinstrument, letztlich ein Attribut der Gemeinschaft. Durch seine Macht (Fiskus, Polizei) sehen wir ihn aber als Akteur. Der eigentliche Akteur ist das Parlament im Auftrag seiner Wähler. Da wir aber den gesamten Parlamentarismus nur medial konsumieren, oft sogar ignorieren, erscheint er uns als irrelevant.

Menschen in Ländern mit vielen oder gravierenden Problemen sehen die Lösungen deshalb im starken Staat, im charismatischen Führer. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass Charisma nur im engen Raum-Zeit-Rahmen wirkt. Hitler erscheint uns heute als Parodie Chaplins ohne happy end. Trump und Berlusconi zeigten sich als Politclowns. Clowns, im schlechten Sinne, gibt es auch bei uns: Gysi, Wagenknecht, Höcke, sie brillieren mit einer Rhetorik, die einen kleinen Kreis von Menschen magisch anzieht, die sogar danach süchtig werden.  Dadurch sind sie in den omnipräsenten Medien omnipräsent und erscheinen diesem engen Kreis von Menschen als die eigentlichen Macher oder Führer. Immer steht unter YouTube-Videos mit Wagenknecht: Wagenknecht muss Kanzlerin werden. Aber auf demokratischem Weg kann Wagenknecht zum Glück für uns alle nie Kanzlerin werden. Das ist ein Problem der Demokratie, das nur durch Bildung zu lösen ist. Wenn wir die 100 Milliarden Euro für die Rüstung akzeptieren, müssen wir zugleich 100 Milliarden für Bildung fordern. Nur damit können wir erreichen, dass ein Argument erkannt oder gefordert wird.

Die Allgegenwart von Medien und medialen Nachrichten vertieft die Verwechslung vom Ereignis und seinem Bild. Wir nehmen die Welt als Kommentar wahr. Der Unterschied zu früher ist, dass wir die Welt überhaupt wahrnehmen können, was früher in einem pommerschen oder anderswoigen Dorf schier unmöglich war. Es ist also ein Fortschritt, der natürlicherweise ein neues Problem hervorgebracht hat. Wie dem Alkoholiker muss man dem modernen Menschen die Flasche entziehen. Es ist nicht nur so, dass es viele, zu viele Nachrichten gibt. Die Nachrichtenmacher stehen vielmehr in einem ständigen Zwang, etwas melden oder kommentieren zu müssen. Selten gibt es gute Nachrichten. Nie sagt ein Nachrichtensprecher: heute ist nichts relevantes passiert. Und das würde auch nicht stimmen. Aber nicht alles, was passiert, wissen wir oder ist für alle relevant oder auch nur interessant.

Das ist alles schon tausendmal beschrieben worden, und trotzdem schaffen wir es nicht, unseren Fernseher oder das Handy auszuschalten. Wir müssen lernen, damit zu leben. Es ist nicht schlecht, informiert zu sein, aber zu viel Informationen führen zu einer neuen Formiertheit, wenn nicht sogar Uniformiertheit, die dann ganz schnell in Uninformiertheit zurückschlagen kann. Die rechte Kritik an den von ihren Protagonisten mainstream genannten Medien hat die eigenartige Lösung in noch kritikwürdigeren, nun auch noch unprofessionellen, absolut tendenziösen Medien, ganz ohne Korrespondenten und Kompetenzen. Auch Linksaußen folgt man lieber der vorgegebenen Ideologie, gestern zum Beispiel wurde ein sozial verträglicher Klimawandel gefordert. Dabei geht es nicht um die Lösung des Problems, sondern um die Erhaltung der Wählerschaft. Das ist natürlich bei jeder Partei so, aber die anderen sehen sich nicht als Alternativen zueinander, sondern als Komplementäre in zukünftigen Koalitionen.

Fernsehen und Internet verleiten uns auch dazu zu glauben, dass wir nicht nur alles wissen, sondern alles besser wissen.

Der Jäger und seine Sammlerin brauchten keine Nachrichten. Sie hatten nur 45 Jahre zu leben und mussten sich täglich um das Essen und die Kinder kümmern. Das bisschen Freizeit ging dafür drauf, die Götter günstig zu stimmen.  Die Dorfbewohner im alten Pommern hatten einen streng reglementierten Tag, eine durchgestylte Woche und ein sich immer wiederholendes Jahr. Nur Schicksalsschläge und Kriege störten die Monotonie. Die Kartoffel, die Dampfmaschine, der Brühwürfel, die Eisenbahn, das Fahrrad, das Automobil, das Telefon, die Schallplatte, schließlich Radio, Fernsehen und Computer brachen die festen Rollen und rigiden Regeln auf. Jetzt haben wir Wohlstand, Bildung, Freiheit, Demokratie, Säkularisierung, Globalisierung und langes Leben und bejammern den Verlust von Heimat, irgendein Dorf mit Latrine.  

*Ministerium für Staatssicherheit, DDR 

**Kiew = russische Transkription 

***David van Reybrouck, Kongo, 2010

WEIHNACHTSBRIEF 2022

 

antwort: leidenschaft für gott

kann nur leidenschaft für menschen sein

was du meinem geringsten bruder getan hast

hast du mir getan und nicht umgekehrt

nicht mit symbolischen yesuspuppen spielen

sondern jedem kind aufmerksamkeit schenken  

wir müssen keinem kult folgen

-lass deine linke nicht wissen was deine rechte tut-

sondern einfach der nächstenliebe

und der ehrfurcht vor dem leben

An einem Freitag im Advent rief mich unser Bäckerladen an, um mir zu sagen, dass mein Dinkelvollkorn trotz der gestrigen Absage doch da sei. Die polnische Verkäuferin, die sehr freundlich und beliebt ist, hatte nicht verstanden, dass das zurückgelegte Brot für mich war. Sie wollte nichts falsch machen. Das ist der Vorteil der Kleinstadt und des Landlebens. Seitdem ich keine Klasse mehr in Berlin habe, verstärkt noch durch Corona, betätige ich mich hier, und das wird dankbar angenommen. Die Mitarbeit beim Zensus hat mein Verständnis für die indigene Bevölkerung vertieft. Wenngleich ich diese Kenntnis nicht verlauten lassen darf, ist sie doch in mein Weltbild eingezogen. Meine Welt ist sozusagen um ein Uckermarkstädtchen reicher geworden. Ich habe meinen Gaststatus aufgegeben. Bald werde ich mein halbes Leben hier verbracht haben. Meine Arbeitsstellenbilanz war auch nicht schlecht: vierzig Jahre an einer Schule, die allerdings wie ein Chamäleon mehrmals ihre Farbe wechselte. Lange Zeit war es uns sogar gelungen, den genius loci zu erhalten: eine Schule mit menschlichem Antlitz. Gern würde man in diesem beschaulichen Bilanzstil fortfahren, wenn da nicht der Krieg wäre, dessen neue apokalyptische Reiter Inflation, Energiekrise und Flucht heißen. Aber halt: vergleicht man die Flucht der Ostpreußen und Hinterpommern vor der Roten Armee im Jahre 1945 mit der Flucht der Ukrainer im März 2022 nach Polen und Deutschland, so sieht man sofort, dass die fünfundsiebzig Jahre dazwischen nicht umsonst waren. Die aktuellen Flüchtlinge kamen in Autos und Bussen, sie wurden überwiegend freundlich aufgenommen. In unserer kleinen Stadt ist es schnell gelungen, für Wohnraum, Deutschkurs, Schule und Behördenerträglichkeit zu sorgen. Die Probleme blieben klein und lösbar. Die Energiekrise ist bisher nur Befürchtung, der Holzpreis stieg zwar enorm, verharrt aber unter dem Gaspreis. Die Inflation ist für unsere Verhältnisse beträchtlich, behindert aber das Konsumverhalten der hiesigen Bevölkerung nicht. Gegen die Bösartigkeit oder Verworrenheit der Welt kann man nur konkret handeln. Man muss etwas Konkretes tun, damit es auch für einen selbst besser wird. Jeder Tropfen auf den heißen Stein kühlt die Wut und höhlt den Stein, jedenfalls letztendlich. Das waren alles immer nur als Fertigteile gelieferte Ausreden. Tatsächlich wird das Paradox zum Spagat: die guten Zeiten haben wir uns jahrzehntelang zum Idyll beschworen. Am Ende des kalten Krieges  wurde der abseitige und pseudoreligiöse Gedanke von Hegel durch Francis Fukuyama zur Weltformel erhoben: Das Ende der Geschichte. Demokratie schien überall angestrebt und gelebt zu werden. Schon damals haben wir die großen Ausnahmen übersehen, China, den politischen Islam, die Macht des Militärs, die auch weiter im Westen – wenn auch nicht gerade bei uns – gepflegt wurde. Wir haben übersehen, dass die nicht aufhaltbaren schleichenden Prozesse der Säkularisierung und Globalisierung auch tiefe Löcher reißen, Leere hinterlassen, wo sich früher Nationen, Götter und Rituale befanden. Das Böse und die Bösen wurden dagegen immer schon zur Apokalypse gesteigert, deren große Anziehungskraft wir ebenfalls unterschätzt haben: ‚den entrollten Lügenfahnen / folgen alle. Schafsnatur‘ heißt es schon im ‚Faust‘.

Wem sollen wir folgen? Wer wird uns folgen? Ist folgen überhaupt die gute Bewegung? Alles fließt kann auch heißen, dass alles wegfließt oder überschwemmt oder austrocknet. Wünschen wir uns, dass wir wegwerfen, was weggeworfen werden muss, und dass wir festhalten, was festgehalten werden will, und dass wir gut unterscheiden lernen. 

Trotzdem: kommen aus Moor, das vielleicht zurück zur Natur findet, die besten Wünsche für ein gutes Jahr.