ZWISCHEN PANKOFF UND KAHLA

Zwei Romane im Ursachenmilieu

Zu Spitzenzeiten des Kalten Krieges benannten  sich die Kontrahenten nicht mit Namen, sondern mit Metaphern. Adenauer und Brandt (!) hießen im Osten ‚Bonner Ultras‘, während im Westen nur vom Pankower oder Zonenregime gesprochen wurde. Adenauer sagte zudem nicht Pankow, sondern Pankoff, und nahm noch nicht einmal zur Kenntnis, dass die ostzonalen Schwestern und Brüder nicht in Pankoff regiert wurden, sondern dass im Majakowskiring nur die Machthaber wohnten. In der nicht so geschlossenen Siedlung auf der anderen Seite der  Grabbeallee wohnten die systemtreuen Künstler mit Ausnahme von Brecht. Wenige hundert Meter nördlich davon hat die Familie Erpenbeck sogar eine eigene kleine Straße. Und unter der fortwährenden Existenz in dieser pseudoelitären Situation leidet der zu großen Einsichten fähige und befähigende neueste Roman von Jenny Erpenbeck. Er erzählt von einer blutjungen Angehörigen einer solchen proletarischen Edelfamilie, die sich in einen vierunddreißig Jahre älteren anscheinend berühmten Schriftsteller verliebt, der aber eigentlich nur ein neues Verhältnis sucht, für die vergangenen Verhältnisse war er stadtbekannt. Halt: der zweite Makel des auch stilistisch – gemessen an Juli Zeh – herausragenden Romans ist die selbst produzierte und auf alle potenziellen Opfer projizierte Berühmtheit und Größe der eigenen Leute. Jeder Weltbürger hat natürlich Hegel und Marx gelesen, jeder findet die angepinnten Lenin-Zitate gut (Beispiel: Der Marxismus ist richtig, weil er wahr ist.), Brecht ist überhaupt der größte Dichter, den es gab, gibt und geben kann. Im Falle von Brecht fielen sogar die Selbstdarstellung und das von oben herab gelassene Bild des sozialistischen Oberklassikers zusammen. In dem Roman ‚Kairos‘ fehlt es schon nicht an Ironie und Selbstironie, aber ich schwöre – und ich habe auch vierzig Jahre nicht gerade als Gegner in der DDR gelebt –, ich kenne keinen einzigen Menschen, der zum Grab von Ernst Busch gegangen wäre. Viele, die ich kannte, mich selbst eingeschlossen, haben Ernst Busch erst zur Kenntnis genommen, als der Buschfunk meldete, dass Ernst Busch betrunken Honecker die Meinung sagt. Viele, die ich kannte, hätten, wenn ich sie nach Ernst Busch gefragt hätte, zurückgefragt, ob das der Direktor von Zirkus Busch sei. Vielmehr erwies sich am Beispiel von Busch und Brecht der Glaube der DDR-Kulturfunktionäre, dass die ganze DDR nichts anderes las, hörte und sah, als die verordnete Kunst mit ihrer verordneten Berühmtheit, als Aber- und Irrglaube.

Umgekehrt ist jeder Glaube an den Staat Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Die erste große Schlusspointe wird lange und tiefgründig vorbereitet: der berühmte Schriftsteller, und das zeigt, dass er nur scheinbar groß ist, tut fast nichts als ununterbrochen essen zu gehen oder in Cafés herumzusitzen. Den gleichaltrigen Freundinnen der blutjungen Geliebten bleibt nichts als Neid vor so viel demonstrativem Reichtum, der dann auch schnell zur Armut verkommt. Beim erstbesten Anlass verfällt der scheinbar berühmte Mann in sein eigentliches Metier: das Denunziantentum. Die Geliebte hat in Frankfurt an der Oder, wo sie einst im Bahnhofsklo eine Stunde lang geweint hatte, und ein Bahnhofsklo im Osten war wahrlich kein Vergnügen, einen einfühlsamen und gleichaltrigen Zuhörer gefunden, dessen sexuellen Avancen sie sehr tapfer und sehr lange widersteht. Unser Berufsdenunziant hat die folgenden Wochen und Monate nichts besseres zu tun als Dossier um Dossier über diesen von ihm so benannten Verrat (und das Wort verrät seine eigentliche Herkunft) zu füllen, bis wohlmeinende Freunde ihm eine Therapie empfehlen. Er geht auch zu einem Psychologen, aber nur, um auch diesen über die einzig wahre Sicht auf Hölderlin zu belehren. So wie in den ersten Monaten der Beziehung jeder Jahrestag (also eher das Monatsdatum) gefeiert wird, wird nun alles zurückgespult und alles unter dem neuen Vorzeichen – nicht des glücklichen Zusammentreffens -, des unglücklichen Auseinandergehens bewertet. Dabei bleibt alles beim alten: die Cafés, das Essengehen, Rauchen der Zigaretten Marke Duett, sechs Ostmark die Schachtel, verwirklichte Pornografie im Bett. Man ahnt, dass der Roman, der sich bisher wie Memoiren einer jungen Frau las, das Potential zur Parabel hat. Diese ganze Liebe beruht auf Verrat und dieses ganze Land beruht auf Verrat. Der Unterschied ist nur, dass die Bewohner des Landes sich unbemerkt von ihrer Führung von ihrer Führung entfernen. Seit immer mehr Nichtrentner in den Westen reisen dürfen, spricht sich herum, dass selbst die Arbeitslosen im Westen weniger klagen als die Entmündigten und Passlosen im Osten. Während wir Leser uns über die von ihm verfassten Kassetten empören, muss Katharina sie minutiös beantworten und gerät dadurch in Konflikt und schließlich in den Dissens mit ihrem Geliebten. Wir ahnen, worauf es hinausläuft, aber die Protagonistin der Fiktion muss erst Akteneinsicht beantragen.

Die zweite Pointe ist nicht so leicht zu erkennen, aber sie ist genauso konstruiert: gleichnishaft zeigt der Roman an der manchmal bis ins Kitschige gleitenden Liebe wie die DDR funktionierte. Denn wir sollten dem Staat unseren Dank, dass wir studieren durften, mit dem drei Jahre währenden Armeedienst abstatten. Aber hätte der Staat nicht uns dankbar sein müssen, dass wir uns auf seine unsinnigen Argumente einließen? Denn wenn wir uns nicht eingelassen hätten, wäre es ein Land ohne Ärzte und ohne Armee geworden. Jedes große System versucht, die Beweislast dergestalt einfach umzukehren. Die Diktatoren und Autokraten verlangen auch noch Dankbarkeit für ihre Anmaßung. Es ist dasselbe Paradox wie bei den Bankeinlagen: wenn alle Kunden ihr Geld an einem Tag abheben würden, gäbe es nicht genügend Bargeld. Aber die Kunden machen das natürlich nicht, und die DDR-Bürger haben zwar gemault, aber auch gekuscht, nur Torsten ging in den Westen statt in die Armee, und er wollte doch nur Zahnarzt werden. Auch das umgekehrte ist denkbar: der Staat, dem man sich widersetzt, rächt sich, er verkündet, alle Dissidenten und Attentäter zu erschießen, aber dann zeigt sich, dass das nicht geht. Zum 90. Geburtstag ließ sich Nina Gräfin Schenk von Stauffenberg ein Foto mit ihren 90 Nachkommen anfertigen, obwohl der allmächtigste Terrorist verkündet hatte, dass er die gesamte Familie mit Stumpf und Stiel ausrotten wird.

Jenny Erpenbecks Roman vom Gott des günstigen Augenblicks findet, obwohl ein bisschen elitelastig, dann doch noch den Weg zur Parabel. Denn die Elite war ja keine, und den berühmten Schriftsteller erkennt heute kein einziger Leser mehr, auch Jenny Erpenbeck musste, wie sie im Nachwort schreibt, ihren Vater und Professor Erdmut Wizisla befragen, um das Flair der untergegangenen Elite zu rekonstruieren. Die Würde des Menschen war nicht nur antastbar und demzufolge grundsätzlich befleckt, sondern wurde verliehen wie ein Orden, und wer ihn nicht erhielt, hatte sich ‚als unwürdig erwiesen‘, wie auch unsere Protagonistin Katharina. Jeder Versuch zu glauben, dass es sinnvoll sei, einen Staat oder eine Religion über ein Land zu verhängen, ist sinnlos und zum Scheitern verurteilt. Die Überschätzung des Staates ist uns Menschen aus der DDR aber doppelt zum Verhängnis geworden: nämlich damals, als wir auf die Pseudoelite hereingefallen sind und mit Brecht- und Leninzitaten um uns haben werfen lassen, und heute, da wir immer noch glauben, dass irgendeine heisere Bürokratin uns aus unserem Elend erlösen will. Das müssen wir schon selber tun und der Staat sollte dabei allerhöchstens der Nachtwächter sein und hin und wieder einen Sozialarbeiter vorbeischicken.

Obwohl der im zweiten Roman beschriebene Ort Kana leicht als Kahla in Thüringen und Hort der Neonaziszene erkennbar ist, ist genauso leicht der Parabelcharakter des Buches überdeutlich. Der oberste Neonazi des kleinen Städtchens südlich von Jena, genannt DER BOSS, liebt Bach und nimmt sich eines armen Waisenjungen aus dem Kinderheim an, kurzum, alle unvereinbaren Subkulturen werden hier neu gemischt. Das Personal des kleinen, eigentlich liebenswürdig-verschrobenen Örtchens scheint aus einem Musterbuch des Kleinstadtbewohners zu stammen. Da ist der vom BOSS adoptierte Junge Florian Herscht, ein Riesenbaby von ungeheurer Kraft, man ahnt schon zu Beginn, dass er sie noch brauchen wird. Er ist genauso sympathisch, everybody’s darling, wie sein Vorbild aus der Weltliteratur: Lennie Small aus John Steinbecks großem, wenn auch kurzem Roman OF MICE AND MEN. Er ist der Freund der alten Frauen und der Hochhausbewohner, und er ist so glücklich, dass er im siebten Stock des Hochhauses eine eigene Wohnung besitzt, mit einem Stuhl und einem Tisch und einem Bett. Dort kann er aber mit seinem Laptop keine Bachkantaten hören, denn es gibt kein Internet. Dieses ganze wunderbare Leben verdankt er dem BOSS, der ihn vom Hochhaus zu den Einsätzen abholt, bei denen sie mit Spezialmitteln und noch spezielleren Werkzeugen Graffiti entfernen, besonders von den nationalen Heiligtümern der Bachgedenkstätten in Thüringen. Die Leiterin der Bibliothek gehört zu den Freundinnen und Freunden Florians ebenso wie der pensionierte Physiklehrer Adrian Köhler, von dem er zudem lernt, dass die Welt zu Nichts zerfällt, wenn die Politik nicht schnellstens reagiert. Florian schreibt deshalb mehrere Briefe an Angela Merkel und versucht auch, im Reichstag vorstellig zu werden. Kleinstadtmilieustudien werden nicht nur mit Frau Schneider und Frau Burgmüller vorgelegt, zwei konkurrierenden Nachbarinnen und omnipräsenten Zeitzeuginnen, sondern auch mit der – Frau Ritter aus Köthen nachempfundenen – völlig körperlich und geistig verwahrlosten Mutter des Nazis: die Geburt des [NATIONAL][SOZIAL][ISMUS] aus der Asozialität.

Eine Extrastudie widmet Krasznahorkai dem Festhalten an den alten Essgewohnheiten Bockwurst, Schweineleber und Köstritzer Bier. Es gibt wohl kein Buch, in dem mehr Bockwurst gegessen wird. Aber wir verstehen: die Essgewohnheit ist auch ein Widerstand gegen Burger und Döner. Jedoch wie Weihnachten nie mehr so sein wird wie in der Kindheit, so wird die DDR nicht wieder auferstehen, soviel Bockwurst ihre follower auch in sich hineinstopfen mögen.

Die Kleinstadtidylle ist nach 1990 durch demografische und ökonomische Prozesse zerstört worden, die nicht direkt von einem Staat zu verantworten waren, weder vom untergegangenen noch vom eben aufgehenden. Zurück blieb ein verwahrloster Topos mit so gesehen obdachlosen Menschen. In dieses Vakuum stieß der mentale Linksradikalismus (BANKEN ENTEIGNEN) genauso wie der latente Neonazismus (DEUTSCHLAND DEN DEUTSCHEN), überhaupt jede vereinfachte Antwortoption und jedes autoritäre Reglement. Das Dilemma menschlichen Zusammenlebens ist hier zu sehen: entweder ein optionales Overprotecting oder die mögliche Verwahrlosung. Selbst die antiautoritärste Demokratie benötigt einen Grundkonsens, während auch die härteste Autokratie nicht ohne eine demokratische oder wenigstens merkantile Klammer auskommen kann. Das eine System basiert auf Emphase, dem permanent skandierten Unsinn, das andere auf Empathie, dem immer erneuerten Versuch der Annäherung.

Eine Ausnahme oder ein Zwischenglied ist der Lehrer. Da er sein Wissen unmittelbar weitergibt, glaubt er, es auch unmittelbar empfangen zu haben, er hält es und sich für absolut und schon sitzt er in der ungewollten Autoritätsfalle, obwohl er eigentlich nur durch Einfühlung existieren kann. Adrian Köhler versucht vergebens, die falsche Interpretation zu stoppen und verfällt in Demenz als der notwendigen Zivilisationskrankheit. Keine Autorität kommt ohne Kataklysmus aus, ob er nun im kleinen Städtchen Kahla im Untergang der Porzellanfabrik oder in der prächtigen Metropole Lissabon passiert, wo einst und deshalb die Aufklärung geboren wurde. Das Erdbeben ereilt Kahla wie Lissabon.

Indes tritt zu den gewalttätigen Neonazis eine weitere Bedrohung: die Wölfe, die alte Urangst des Menschen, der sich immer mehr von der Natur entfernt. Der Wolf als Metapher für sich selbst und den Flüchtling und die Pandemie ist die verkörperte Irrationalität. Der Mensch, selbst wenn er an Gott glaubt, glaubt sich rational, demgegenüber kommen die genannten Monster aus dem Off der Unvernunft.

Der Staat bleibt hilflos und unsicher, die Polizei tappt im Dunkeln, weil sich das Paralleluniversum der Neonazis als Stecknadelkopf im Heuballen entpuppt hat.

Jeder Glaube an den Staat ist Aber-, wenn nicht Irrglaube.

Der Staat sind bestenfalls wir, aber dieser Fall kann wohl kaum eintreten, solange bezahlte Büttel von verlorener Macht träumen.

Beide Bücher spielen mit einer Art Unstrukturiertheit und spiegeln damit das zunächst unstrukturierte Leben, das uns erst nekrologisch logisch wird. Andersherum gesagt: nur im Kunstwerk können wir den Sinn oder den Unsinn des Lebens erkennen. Das tägliche Leben erschließt sich uns nur schwer. Wir wissen nicht, warum unser Nachbar stirbt oder drei Häuser weiter das siebte Kind geboren wird. Deswegen steht auf vielen Grabsteinen WARUM, aber keine Antwort, und Memoiren dienen eher dazu, die Gründe zu verschleiern statt sie aufzuklären. Erpenbeck beherrscht den Perspektivwechsel innerhalb eines Absatzes oder sogar eines Satzes. Dadurch entsteht im Leser eine Unmittelbarkeit, eine Dichte, die den Memoiren des alten Kindes dokumentarische Züge verleiht.

Dieselbe Wirkung erreicht Krasznahorkai dadurch, dass es in seinem ebenfalls 400 Seiten starken Buch nur einen einzigen Punkt gibt, den Schlusspunkt. Es gibt auch keinen Absatz und die Kapitelüberschriften sind Zitate vorheriger Kapitel. Dadurch können wir Leser glauben, dass der Roman das Leben so wiedergibt wie es ist: unstrukturiert, unverständlich, unglaublich, unverfroren, unwiederholbar, unhaltbar, unendlich. Aber der Schein trügt. Man ahnt es: Florian Herscht wird es beenden, so wie unser aller Leben eben endet. Am Schluss sterben sie alle wie die Fliegen. Aber die schönste Pointe, nach der die böseste der Bösen durch Genickbruch zu Tode kam, ist, dass die Pistole der toten Bösen noch einmal losging und HERSCHT mit den beiden vom Naturschutz geschändeten Wölfen stirbt, im Kopf hört er aus dem Stabat Mater von Pergolesi/Bach TILGE HÖCHSTER MEINE SÜNDEN. Ja, das wäre schön.  

Jenny Erpenbeck, KAIROS., Penguin Verlag, München 2021

Laszlo Krasznahorkai, HERSCHT 07769, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021

TRANSIT IN EBERSWALDE

Am schwersten ist es beim Schreiben, die Beweglichkeit der Welt und der Menschen einzufangen. Leichter ist es, die Welt so zu beschreiben, als wäre sie ein Gemälde von Pieter Brueghel. Diese bewegliche Beschreibung nannte Michail Bachtin den polyphonen Roman und in diesem Roman tritt jedes Wort in Dialog mit dem Leser. Bachtin wurde von Stalin verbannt und schrieb als Buchhalter und später deklassierter Lehrer an einem Lehrerbildungsinstitut seine bahnbrechenden Werke. Sein Schicksal und seine Bedeutung sind gut mit Lew Theremin vergleichbar, der sogar in ein GULAG verbannt wurde.

In brennender Hitze bietet eine im Innern dunkle neogotische Kirche Trost und Erfrischung, die sogar – wie sich gleich zeigen wird – in Erbauung überführt werden kann. Eberswalde ist die einzige städtische Siedlung in Preußen, in die im achtzehnten Jahrhundert Schweizer Religions- und Wirtschaftsflüchtlinge gelangten. Die meisten bevorzugten Dörfer, wie zum Beispiel Linow bei Rheinsberg (‚Ruppiner Schweiz‘) oder Nattwerder, heute ein Stadtteil von Potsdam. Eine der Linower ähnliche Fachwerkkirche mag am Eberswalder Markt gestanden haben. Sie wurde baufällig und im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts durch einen bemerkenswerten Neubau ersetzt. Zwar wurde der Entwurf des Wettbewerbssiegers nicht verwirklicht, er stammte von dem Schöpfer der Hartungschen Säulen, die in Berlin Verkehrsgeschichte geschrieben hatten, aber die gebaute Kirche ist heute dennoch ein, wenn auch makelhaftes, Kleinod. Denn sie wurde im zweiten und letzten Weltkrieg hart getroffen. Die Antifa-Jugend führt deshalb an einer Mauer in der Eisenbahnstraße einen Graffito-Kampf gegen die Fa-Jugend: wurde Eberswalde wie Anklam und viel früher Freiburg im Breisgau durch die Nazi-Luftwaffe oder durch allied Aliens zerstört? Heute, nach gelungener Wiederaufbauarbeit, stellt sich allerdings auf der Website der Kirchengemeinde die Frage nach der Zukunft. Die wenigen Beter benötigen in der Innenstadt noch nicht einmal eine, geschweige denn zwei große und schöne Kirchen.

In der Kirche befinden sich äußerst freundliche Einladungen zum Verweilen, auf denen mehrfach betont wird, dass man nicht verpflichtet ist zu spenden oder sich taufen zu lassen. Auch die Adresse der Wiedereintrittsstelle fehlt dankenswerterweise. Stattdessen hört man leise Musik, die sich zunächst wie ein einzelnes und auch einstimmig gespieltes Orgelregister anhört. Aber von der architektonisch interessanten Eule-Orgel auf der Empore kann die Musik nicht kommen. Da immer noch der dunkle Kirchenraum dominiert, verzögert sich die Analyse der mysteriösen Musik. Sie könnte von einem Theremin stammen, dem ersten elektronischen Musikinstrument, lange vor der Hammond-Orgel. Zusammen mit seinem Erfinder war es lange verschollen und vergessen. Nun klingt es wie ein klagend verflötetes Flageolettcello und ganz entfernt auch nach einer frühen Hammond-Orgel. Auf dem Büchertisch liegt, passend zur Herkunft der Kirche, Anna Seghers‘ Roman TRANSIT. Wer zu lesen beginnt oder sogar bis zuende liest, wird höchst erstaunt sein über die Aktualität eines über achtzig Jahre alten Buches:

„Und selbst wenn von diesen Unzuständigen einige sich bis hierher gerettet hatten, an Leib und Seele noch blutend, sich in dieses Haus hier doch noch geflüchtet hatten, was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“

Der Roman beschreibt in geradezu filigranen Winkelzügen die immer wieder verhinderte Abfahrt nicht nur des namenlosen Protagonisten, sondern ganzer Heerscharen ungeduldig Wartender. Die Bürokratie, einst geschaffen, um die eigenen Leute zu schützen, erweist sich als die größte Hürde bei der Rettung von Menschen. Im Altarraum tauchen nun plötzlich Inge Keller und Jürgen Holtz auf, zwei gendervertauschte Uraltgreise, die das sechsundsechzigste Sonett von Shakespeare tänzeln:

„…und hohles nichts nur hochgezoomte tollerei / und reinste treue ohne glück in schwur und zwist / und goldne ehre ganz beschämend deplatziert / und mädchentugend hingeworfen zum verhuren / und rechte perfektion als schaden vorgeführt / und kraft springt hinkend aus den guten spuren / und kunst wird mundtot durch autorität / und die gelehrte narrheit kontrolliert den sinn / und simple wahrheit ist zur dummheit umgedreht / und güte vom bösen boss gefesselt als verbrecherin…“

Das sind zehn böse Unds, von denen so viele glauben, dass sie erst in der neuesten Neuzeit gälten. Davon handelt der Roman. Er gibt detailliert Auskunft über menschliches und unmenschliches Verhalten an einem Staudamm der Gefühle. So viele Menschen fliehen vor dem Bösen und landen in der Dummheit oder Verbohrtheit. Dabei ist es gleichgültig, wovor man flieht, denn der Fliehende hat abgeschlossen mit seiner Vergangenheit, die er nur mit seinem Gesicht mit sich durch die Welt trägt. Erst jetzt erschließt sich: das Buch stammt von der ersten Dichterin der bürokratischen Diktatur des Proletariats. Honecker, so könnte man denken, schaltet seine aus Westberlin importierten Pornofilme auf Pause und liest dieses Buch. Es ist unvorstellbar. Sie, die Dichterin, kam fünf Jahre vor ihrem Mann aus dem mexikanischen Exil und reihte sich ein in die erzwungene Arbeitereinheitsfront, besah sich Schauprozesse gegen ihre Freunde, schwieg zu Ausbürgerungen und Zuchthausstrafen und genoss ihren Ruhm. Sie war neben dem frühverstorbenen Brecht die einzige Weltliteratur in unserem kleinen verfluchten Land, mit immerhin drei Büchern, von denen im Osten nur Das siebte Kreuz Kult war, und das auch nur in der Anfangszeit. Am Ende ihres Lebens, das ihr wie ein Wartesaal in Marseille vorkam, soll sie nur noch betrunken gewesen sein. Aber vielleicht ist das auch nur ein böswilliges Gericht.

PALIMPSEST IST DAS SCHICKSAL ALLER BOTSCHAFTEN.

Ein polyphones Gewirr von Bleibenden und Fliehenden, die sich untereinander und gegenseitig behindern, verspotten, betäuben und helfen. Die Geschichte ist ganz und gar unideologisch. Kommunisten spielen in ihr eine geringere Rolle als etwa die Frau, die zwei Doggen in Pflege nimmt und dafür ein Einreisevisum erhält. Der mexikanische Konsul, den es wirklich gegeben hat, kommt öfter vor als alle Nazis und spanischen und italienischen Faschisten zusammen. Und obwohl das zum Zeitpunkt der Niederschrift und der größten Rezeption gar nicht absehbar war, kann man heute sagen: und so ist es auch. Der gutwillige Konsul ist der Pate des Europas geworden, von dem die damaligen Flüchtlinge träumten. Aber Europa konnte erst gut werden, nachdem Millionen Menschen flohen, ermordet wurden und Krieg führten, nachdem im kalten Krieg das alles noch einmal, aber eher theoretisch durchgespielt wurde, wenn auch eine Mauer zu Flucht und Jagd und Ermordung verleitete.

„…Vergangenheit und Zukunft, einander gleich und ebenbürtig an Undurchsichtigkeit, und auch an den Zustand, den man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart…“

Der heiße Tag ging zuende. Leider spielte niemand auf der schönen Orgel oder auf dem Theremin ‚Abend wird es wieder‘ oder ‚Der Mond ist aufgegangen‘. Stattdessen schob sich durch die quietschende Nordpforte ein kranker Nachbar aus dem Lied und aus der Stadt in die dunkle Kirche, die nur durch ihre Freundlichkeit erhellt war. In Wirklichkeit aber kam er aus dem Transit, das in seinem Land መተላለፊያ hieß.  

Er war in dem Krisenjahr 2015 über das Mittelmeer zu uns gekommen und der Fahrschullehrer mit der schmutzigen Schaufensterscheibe hätte nur das Buch lesen müssen, das in der Kirche der Schweizer Migranten ausliegt. Aber lag es damals schon aus? Oder liegt es erst aus, seitdem die neuen Migranten kamen? Er hätte es, wann auch immer, lesen können: „…was konnte es einem Riesenvolk schaden, wenn einige dieser geretteten Seelen zu ihm stießen, würdig, halbwürdig, unwürdig, was konnte es einem großen Volk schaden?“  Der Junge war also durch den höllenheißen Sudan gekommen, das ging noch, durch Libyen, das war die Hölle, auf einer Schaluppe über das Mittelmeer, dort lag er fast die ganze Zeit auf dem Boden, weil er der kleinste war, dann von der italienischen Polizei mit Latexhandschuhen hart angefasst, dann durch Italien, in Mailand hat ihm eine Dame ein Frühstück in ihrer Wohnung gemacht, in Paris gab es eine Frühstücksstube kostenlos, in Aachen stand ein mürrischer alter Mann bereit, der ihn in sein Auto lud, damit er sich ordentlich bei der Polizei melden konnte, dann kam er nach dem unaussprechlichen und unsäglichen Eisenhüttenstadt, wo sie keine Flüchtlinge mochten, obwohl so viele Wohnungen leerstanden und auf den Spielplätzen nur Hunde kackten und keine Kinder spielten, dann lernte er Deutsch, dann bekam er sein erstes Praktikum, seine erste Arbeit, wurde wegen Corona gefeuert, sie feuern immer die schwächsten zuerst, hire and fire only the poorest, dann bekam er eine gute Arbeit, er ist aber auch sehr fleißig und sehr freundlich. Nun ging er daran, seinen zweiten Traum zu erfüllen. Der erste Traum war eine kleine Wohnung, die hatte er als WG, zusammen mit seinem Freund in einer winzigen Zweiraummansarde, die Möbel stammten von einem alten Mann, der einsam im Pflegeheim gestorben war, dessen entfernte Verwandten aus dem noch entfernteren Schwerin hatten im Kaufland annonciert: Möbel zu verschenken und eine Gitarre. Und der zweite Traum war die Fahrschule. Auch hier ging zunächst alles gut. Er bestand auf Anhieb die Theorie, fuhr leidlich gut, gut, alles verstand er dann doch nicht, es dauerte etwas länger, aber seine Freunde erzählten ihm, dass es bei ihnen auch so war. Doch dann häuften sich die Beschimpfungen des Fahrschullehrers mit der schmutzigen Schaufensterscheibe. Seine Tiraden wurden so schmutzig und gottverlassen wie sein Schaufenster. Jedenfalls kündigte der Junge, nachdem er so viel Geld bezahlt hatte. Der Fahrschulbesitzer mit der schmutzigen Scheibe und Seele verhinderte aber ein halbes Jahr lang, dass der Junge, der inzwischen ein junger Mann geworden war, sich in einer neuen Fahrschule anmelden konnte, indem er ihm seine Unterlagen, den Nachweis, dass er gefahren war, vorenthielt. Und der Grund war vielleicht gar nicht einmal, dass er ihm schaden oder sich rächen wollte. Der Grund war vielleicht, dass die Kladde, die Unterlagen, mit der Hand geschmiert, von Schmalzstullen besudelt, gar zu unordentlich für einen deutschen Fahrschullehrer waren, der noch dazu eine stadtbekannte schmutzige Schaufensterscheibe hatte.

Stand das nicht alles schon in dem Buch? Stand da nicht, dass das Leben wie eine Flucht ist, die Gegenwart ein Transit zwischen Vergangenheit und Zukunft? Und dass Transit ein Auf und Ab, eine ewige Sinuskurve, ein Kreuz ist, das du tragen musst?

Eigentlich ist die dunkle Kirche der einstigen Schweizer Migranten, die längst vergessen und verwest sind, auch ein Transitraum, für jene zumindest, die daran glauben, dass es irgendwie weitergeht. Und, sagte der weitgereiste junge Mann, irgendwie muss es weitergehen, schön, dass wir sprechen konnten und dass es einen so schönen Raum zum Sprechen gab.  

Eberswalde 13.7.2021