SCHWEDTER PERSPEKTIVE

Es ist bitter kalt an diesem vorweihnachtlichen Tag in der Kleinstadt Schwedt. Nebelschwaden und ein aufkommender Schneesturm verbreiten eine Stimmung wie auf der Bühne von Macbeth. Im Dunst der kriegszerstörten Katharinenkirche – sei sie nun koptisch, orthodox, katholisch, anglikanisch, lutherisch, protestantisch, evangelisch, calvinistisch-hugenottisch, reformiert, altlutherisch, pietistisch, neuapostolisch, adventistisch, baptistisch, bibelforscherisch, scientologisch oder evangelikal – erwartet man eher die Hexen, die Macbeth eine üble Zukunft voraussagen. Das Damoklesschwert möglicherweise bitterer Entscheidungen hängt auch über der kleinen Stadt mit ihrer kaleidoskopischen Vergangenheit: Germanen, Slawen – daher der Name: swet heißt Licht -, deutsche Besiedlung und Christianisierung, dreißigjähriger Krieg, Gustav II. Adolf, der Kriegsgott, der nirgendwo fehlen darf, die brandenburgisch-preußische Nebenlinie als Markgrafen von Brandenburg-Schwedt, für die Bach seine Brandenburgischen Konzerte schrieb, die Garnison, die Juden, die Hugenotten und schließlich die Pipeline, die über 5327 Kilometer Öl aus Sibirien nach Deutschland bringt. Die Pipeline brauchte ein Stadt, die von Selman Selmanagić im Widerstreit mit Walter Ulbricht geplant und erbaut wurde. Alle Diktatoren halten sich kraft ihres Scheinerfolgs und kraft ihrer Pseudoideologie für allwissend und allvermögend, wie auch Ulbricht. So kam es, dass in Schwedt eine Stadt ohne Schulen, ohne Einkaufszentren, ohne Läden und Arztpraxen entstand. Die angeworbenen Menschen waren trotzdem zufrieden, weil sich ihr Leben, sie kamen aus zerfallenden Altstädten mit Kriegsruinen, deutlich verbessert hat. Später wurde die Infrastruktur nachgebessert, die Stadt verlor aber nie ihre steppenartige Weite. Fast nebenbei entwickelte sich eine neue Bourgeoisie, die stolz ihr Kulturhaus (1978), das heutige Theater, und ihr Klinikum (1973) verwaltete.

Im Schwedter Blickwinkel erschießt Woyzeck seine Peiniger. Es ist die ultralinke Schielweise, die sich nicht mehr von der ultrarechten Blindheit unterscheiden lässt. Woyzeck war Soldat, ist traumatisiert, arbeitet für einen Hauptmann, den der Krieg entstellte, und für einen Arzt, der angesichts all des Elends dieser Welt sein Heil in der Wissenschaft sucht. Er testet an Woyzeck neue Ernährungen, die alle mehr als satt machen sollen. Sie erzeugen aber nicht nur schizophrene Schübe, sondern auch Muskelatrophie. Weder dem Arzt noch dem Hauptmann ist das Dilemma der Eliten bewusst: sie verachten, die sie führen sollten. Aber auch Woyzeck versteht nicht, dass er ohne die Eliten, so zynisch sie auch sein mögen, nicht leben kann. Und er will besser leben: er spart für die geplante und dann so gründlich gescheiterte Idylle, sein Leben mit Marie und dem Kind. Marie aber sieht in einer Gesellschaft ohne soziale Durchlässigkeit nur einen Weg nach oben: sich mit dem Tambourmajor einzulassen, der ein Mann wie eine fleischgewordene Idealskulptur und aus einer weit höheren Hemisphäre zu sein scheint.

Das Beseitigen der Peiniger erscheint gerecht, wenn man im genialen Büchner nur den Verfasser von ‚FRIEDE DEN HÜTTEN! KRIEG DEN PALÄSTEN!‘, des Hessischen Landboten also, sieht. Aber Büchner kannte auch die Alternativen. In Gießen hatte er Justus Liebig kennenglernt, vielleicht mit ihm über dessen Ansatz des ESSEN FÜR ALLE HEISST FRIEDEN FÜR ALLE geredet. Der gutartig revolutionäre Brühwürfel löst die Probleme der bösen Welt.  Das tödliche Erbsenexperiment des bornierten Arztes, der nicht Liebig ist, spricht dafür. Büchner wusste aber auch: ‚Jeder Mensch ist ein Abgrund‘ [Woyzeck] und er fragte ‚was ist es, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet‘ [Dantons Tod]. Kurzum, Büchner erkannte: aus allein einem Grund ist die Welt nicht zu verstehen und zu verändern. Wenn man das berücksichtigt, erscheint das Beseitigen der Peiniger als bloße Rache, als erneutes Recht des Stärkeren, des nun erstarkten Schwächeren, als bloße Umkehr. Die Welt wird sich nicht bessern, wenn wir uns verschlechtern. 

Indessen taucht im Nebel der Katharinenkirche eine Glühweinbude auf, vor der ein einziger Mensch steht, und in der eine einzige Menschin Glühwein und Tee anbietet. Der Platz und die Straße sind ansonsten menschenleer. Wie vom Erdboden verschluckt ist das Volk, das doch Weihnachten feiern und die Regierung hinwegfegen will. Wir nähern uns beinahe ängstlich, so einsam und gespenstisch ist die Szene. Wir hätten uns nicht gewundert, wenn eine der drei Macbeth-Hexen uns zugerufen hätte: fair is foul and foul is fair, auch durchaus passend zur Fußballweltmeisterschaft im Land der himmelschreienden Gerechtigkeit. 

Indessen ruft der alte Mann in brutalem Sächsisch, das er sich über sechzig Jahre Schwedt erhalten konnte,  dass die Grünlinge gerade dabei wären, die Erdölraffinerie zu zerstören und zu verramschen. Ich will zu einem heftigen Schlagabtausch ausholen, als um die Ecke, aus der Vierradener Straße ein kleines Häuflein kommt, angeführt von einem Trommler, so wie früher. Sie halten Schilder und Fahnen hoch, darunter die russische und die des deutschen Kaiserreichs. Und sie skandieren, von ihrer Trommel und ihrem Gleichschritt geführt: WIR SIND DAS VOLK UND WIR WOLLEN, DASS KEIN GESETZ SEI!* Ein Fenster öffnet sich und eine dicke Frau ruft wutentbrannt:  Puppen seid ihr, von ungewollten Gewalten am Draht gezogen.* Das Volk, sagt die Frau in der Glühweinbude, das Volk amüsiert sich im Konsumtempel, in der Kaufrauschkathedrale, im Odercenter und genießt dort die Sonderangebote und Rabattverseuchungen. Das Gespenst, das hier umgeht, ist die Dummheit in ihrer Giervariante. Man folgt dem einfachsten Argument: wem nützt es. Aber man kommt nur weiter, wenn man die Antwort manipuliert und fantasiert und beliebig die Amerikaner, die Russen oder gar die Juden einsetzt, hier, wo es sogar eine Jüdenstraße und eine Veit-Harlan-Straße, benannt nach einem Kaufmannsgeschlecht, gibt. Die Schließung der Raffinerie und Beseitigung der Peiniger nützt wahrscheinlich niemandem, vielleicht der Natur noch am meisten. Vielmehr schadet sich der Verursacher wahrscheinlich selbst am meisten. Wir sollten das besser wissen, waren doch unsere Vorfahren auch solche Verursacher von Leid und Pein: ‚Was ist es, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?‘ Ich frage die Frau in der Glühweinbude, wie sie in die Glühweinbude geraten ist. Sie lacht und sagt, dass sie in einer Bürgerkulturinitiative wirkt, eigentlich Ärztin sei und nun in einer Mischung aus Langeweile und Gutestunwollen hier stehe und nicht anders könne. Wir reden, sagt sie, mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit. Wir glauben: MACH, WAS DICH KAPUTT MACHT, GANZ. Das ist die einfache Umkehrung einer allzu einfachen ultralinksrechten Losung von Woyzeck und Rio Reiser, die sich beim Rasieren trafen und dabei zur Trommel sangen: Mach kaputt, was dich kaputt macht. Sie merkten nicht, dass das nur die Kehrseite von bis alles in Scherben fällt** ist  

Im Theater hingegen ist die letzte Szene, das Finale, herangereift. Marie ist wieder auferstanden. Sie meuchelt nun ihrerseits Woyzeck, um es eine Sekunde später zu bereuen. Zu sehr ist der moderne Mensch, sind wir, daran gewöhnt, canceln zu können, zurückzuspulen, zu resetten. Alle träumen vom großen Reset. Wer hat nicht alles den neuen Menschen erfunden oder erfinden wollen, statt die Welt wenigstens ein My zu verbessern. Der ‚neue Mensch‘ war immer nur Rechtfertigung für die Beseitigung des alten Menschen. Man kann sich Menschen und Welten nicht aussuchen. Aber die Stolpersteine zeigen, dass man Menschen, unsere Schwestern und Brüder, auch nicht beseitigen kann. Die Namen haben sich eingebrannt. Ihr Erbe steht zwischen ihnen und uns: die gestohlenen Möbel, das Zahngold und die Asche.   

 *Dantons Tod von Georg Büchner

**Nazi-Lied von Hans Baumann ‚Es zittern die  morschen Knochen

17. Dezember 2022

VERPASSTE UMVOLKUNG. FUTUR II

 

Nr. 377

Die Argumente, wenn man sie überhaupt als solche zählen will, der neurechten Bewegungen tänzeln nicht nur auf sehr dünnem Eis, sondern werden auch kampagnenmäßig verbreitet, oft auch nicht ganz leise, so als fürchte man, überhört zu werden. Aber es ist ja gerade umgekehrt: große Teile der Medien und mit ihnen der entsprechend größere Teil der Bevölkerung wartet auf die nächste Runde. Zum Beispiel könnte die AfD einen Vorschlag zu einem neuen Rentensystem machen. Der Bismarcksche Generationenvertrag, der die familiäre Obhut ersetzte, geriet durch den demografischen Wandel, den es in allen wohlhabenden Ländern seit etwa hundert Jahren gibt, ins Wanken. Das ist also nicht die Schuld einer aktuellen Bundesregierung. Überhaupt ist die ahistorische Sicht, das Starren auf den Augenblick, ein merkwürdiges Kennzeichen des neurechten Diskurses.

In den allerdings umstrittenen Gesprächen Adolf Hitlers mit dem später abtrünnigen Danziger Senatspräsidenten Rauschnigg heißt es denn auch, dass Hitler sehr wohl bewusst war, dass der Begriff der Rasse aus der Tierzucht stammte und er, Hitler, versuchen würde, dem deutschen Volk eine ahistorische Sicht aufzudrängen. Am meisten verwundert dabei die Verwendung des Begriffes ‚ahistorisch‘, denn bekanntlich hatte sich Hitler in seiner Schulzeit lieber mit Kriegsspielen und Opernpfeifen beschäftigt und seine Bildung später aus antisemitischen Broschüren im Obdachlosenasyl (‚Männerheim‘) nachgeholt.

Statt uns also mit – beispielsweise, denn es gibt noch weit mehr Probleme – einem neuen Rentenmodell zu erfreuen, statt also konstruktive Politik zu betreiben, verdrießt uns die AfD, von NPD und anderen Splittergruppen ganz zu schweigen, mit immer weiteren möglichen Dekonstruktionen. Selbst in der Kommunalpolitik glänzen diese neurechten Gruppen nur durch dekonstruktive Ausfälle. So gibt es Anfragen zu Inzest, Kriminalität und Einwanderung, obwohl das keine der drängenden Probleme unserer Zeit sind.

Die Einwanderer könnten, so wird immer wieder unterstellt, sei es durch ihre fremde Kultur, durch ihre Religion oder durch ihre traditionelle Fortpflanzungshaltung, die deutsche Bevölkerung sozusagen unterwandern, aushebeln und schließlich austauschen. Diese archaische Angst vor dem Verlust der sexuellen Oberhoheit, davon abgesehen, dass sie zutiefst frauenfeindlich ist, entspricht einem alten antisemitischen Stereotyp. Wahrscheinlich ist dieser Stereotyp noch älter und überhaupt xenophob. Es beruht auf einem ganz einfach zu durchschauenden Denkfehler, der bis in den Jugoslawienkrieg hinein als mörderisches Politikelement verwendet wurde. Der Denkfehler besteht in der Umkehrung der weiblichen und männlichen Rolle bei der Fortpflanzung. Eine Frau kann praktisch pro Jahr ein Kind bekommen, theoretisch weicht die Zahl etwas ab. Ein Mann kann in einer Nacht tausend Kinder zeugen. Wenn man also einem Volk durch Nichtfortpflanzung schaden will, muss man die Frauen von der Fortpflanzung fernhalten, nicht die Männer. Da aber dieses biologische Phänomen durch das kulturelle Rollenverständnis des dominanten Mannes überlagert wurde und ohnehin fast nur im männerdominierten Krieg wirksam war, konnte man von den biblischen Zeiten her, dem nordamerikanischen Rassismus, über Himmlers sexuelle Germanisierungsfantasien bis hin zum versuchten Genozid in Bosnien und Ruanda diese schrecklichen ‚Umvolkungs‘pläne und -taten beobachten. Da von neurechter Seit immer wieder auf den Genozid an den Ureinwohnern Amerikas hingewiesen wird, muss man deutlich sagen, dass die Rassisten die Mörder waren, während heute Rassisten versuchen, die Einwanderung zu stoppen. Der Goldschatz der Azteken wurde aus Goldgier und rassistischer Verachtung eingeschmolzen.

Jedoch kann man eine Kultur nicht auslöschen, so wie das Weihnachtslicht der Abglanz aller Lichtkulturen, also aller Kulturen ist. Eine einmal aufgestoßene Tür kann man nicht wieder schließen. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit sieht – alle Jahre wieder, seit 2000 Jahren – das sinusförmige Hin- und Herwanken der Kulturen, das eben kein Kampf im Sinne von clash* ist. Die verschiedenen Kulturen streben zueinander, weil sie den gleichen Kern haben. Alle Versuche der Segregation, der Hierarchie und der Hegemonie im kulturellen Sinn sind daher gescheitert und werden auch weiter scheitern. Globalisierung, wie böse sie auch angefangen haben mag – wir schreiben hier immer: 1444 mit dem ersten Sklavenschiff – ist weder rein wirtschaftlich zu begreifen noch ist sie die Fortführung der alten Politik mit neuen Mitteln. Vielmehr wird Globalisierung die neue Qualität des menschlichen Zusammenlebens sein, wenn es gelingt die Probleme der Menschheit weiter zügig zu lösen. Während die drei Kernprobleme: Krieg, Hunger, Pest fast überwunden sind, tun sich neue Probleme auf, indem viele technische Problemlösungen unabsehbare Kollateralschäden hatten, allen voran das Energieproblem, besonders mit fossilen Brennstoffen.

Der von Spengler** vorausgesagte Untergang des Abendlandes tritt genauso wenig ein wie der immer wieder von den Zeugen Jehovas prognostizierte, zuweilen auch mit Datum versehene Weltuntergang. Beide beruhen auf dem Denkfehler der Definition. Eine Definition hält einen Wissensfluss an und ist demzufolge nur didaktisch wahr, nicht aber wirklich. Sie ist eitel und vergänglich. Aber die Welt ist sozusagen nicht die Definition eines noch so Hegelschen Demiurgs, man kann sie nicht anhalten. Vielmehr wissen wir seit 1862, als Clausius mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ein lineares Welt- und Naturbild decodierte und stattdessen erkannte, dass die energetische Hauptgröße der Natur die Entropie ist: ‚Denn alles, was entsteht. ist wert, dass es zugrunde geht.‘***

Einige Jahre zuvor, 1822, decodierte Champollion die Hieroglyphen und erkannte damit die Banalität des Göttlichen, das man zuvor in jeder Schrift gesehen hatte. Der umgekehrte Vorgang, die Codierung komplexer und immer komplexerer Zusammenhänge und Prozesse in einem banal-dualen Zeichensystem ist die Grundlage dafür, dass sich die Kulturen, die ohnehin aus einem Punkt in Afrika stammen, weiter und schneller einander annähern werden. Ohnehin waren sie nie gegensätzlich, und der ideologisch nicht deformierte Mensch, der früher seltener war als heute, hat das auch immer schon so gesehen.

Von solchen Gedanken ist das ahistorische und detailverliebte Geschwafel der neurechten Argumonteure weit entfernt. Aber selbst ihr selbsternannter Oberschreiber, Spengler, intellektuell weit über Kubitschek und seinesgleichen stehend, singulär auf weiter Flur, ungeheuer belesen und bewundernswert eloquent, konnte nicht aus dem Schatten seiner eigenen ideologischen Beschränktheit treten. Ein fast formelhaft geschnitzter Satz, der daraus seinen Wahrheitsgehalt ziehen zu können glaubte, erweist sich als Bumerang: ‚Die Judengasse‘, schreibt er auf Seite 950, ‚ist der gotischen Stadt um tausend Jahre voraus.‘ Das klingt einleuchtend und objektiv und ist doch nicht nur der Gipfel pseudowissenschaftlicher Verlogenheit, sondern auch eine tragische Verkehrung der Tatsachen. Wenn es tatsächlich ein Voraus und ein Hinterdrein einer linear vorgestellten Geschichte in gut Hegelscher Tradition geben sollte, dann hätte die Schlussfolgerung aus der Spenglerschen Formel heißen müssen: dann lasst uns die vorauseilenden Kenntnisse der Judengasse schnellstmöglich in die gotische Stadt integrieren.

In tausend Jahren werden wir gesehen haben, was aus dem afrikanischen Dorf zu lernen war.

 

*Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations, 1996

**Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 1923

***Goethe, Faust I, Vers 1339f.

DAS IST ES. MIGRANTEN SIND WIR SELBER.

 

Nr. 370

Die ältesten überlieferten Geschichten erzählen von Zwist, Neid, Hader und Brudermord. Aber diese Geschichten sind keine Zustandsberichte, keine Soziologie des Altertums, sondern sie sind Warnungen. Dem Verfasser einer dieser alten Warngeschichten fiel auf, dass wir, wenn man seine Geschichte wörtlich nähme, alle von Kain, dem Brudermörder und Stammvater des Neids, abstammten. Also bekamen Eva und Adam noch einen Sohn, Seth. Wenn wir alle von Neid und Bruderzwist zerfressen wären, wären wir schon längst ausgestorben. Sollten wir aussterben, dann nicht am Bruderstreit, sondern an unserer schamlosen Ausbeutung der Natur. Es wird ihr, seit wir nicht mehr hungern,  mehr entnommen als zurückgegeben. Das ist kein guter Deal.

Die menschlichen Beziehungen dagegen scheinen nur subjektiv enttäuschend zu sein, was tatsächlich eine Quelle der Kunst ist, der subjektivsten Art der Weltbetrachtung. Objektiv betrachtet – soweit das überhaupt geht -, jedenfalls in der Bilanz aller Bilanzen, soweit sie erkennbar ist, muss die Solidarität den Hass überwogen haben.

Wenn aber nun alle Feldzüge, die nach Meinung der Konservativen notwendig und allgegenwärtig, sogar der Vater aller Dinge wären und in der Natur des Menschen lägen, die dem Landerwerb oder der Landverteidigung dienten, nichts als verkürzte, komprimierte und militarisierte Migrationen wären? Dann würde die Migration aus dieser Sicht vom Makel befreit sein. Denn immer noch steht in fast jedem Dorf und in fast jeder Stadt ein Obelisk mit der Aufschrift, dass diese militarisierte Wanderung mit Gottes ausdrücklichem Segen stattfand. Im ersten Europakrieg wurden von hunderttausenden Soldaten tausende von Kilometern hin- und zurückgelegt und dabei zwei Dutzend Millionen Menschen umgebracht.  Das war nicht nur kein gutes Beispiel für Sesshaftigkeit und Lebensraum, es hatte auch nichts mit Treue, Nation und Religion zu tun. Es ging nur um Geld und Abschlachten. Zum Schluss dieses verheerenden und totalen Krieges trafen sich die Fürsten Europas in Münster und Osnabrück und schlossen das erste europäische Vertragswerk. Nicht der Krieg war also notwendig, sondern eine neue Ordnung, und die ist nicht durch den Krieg erreicht worden, sondern durch den Westfälischen Frieden.

Was aber sind die unbewaffneten Völkerwanderungen? Können sie nicht die Folge zu stringenter Ordnungen sein, die dann zum Krieg oder zum Ausweichen ganzer Bevölkerungsgruppen führen? Die Hamelner Rattenfängerlegende und vorher der Kinderkreuzzug können Hinweise auf gezielte Migration überzähliger Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall von Kindern und Jugendlichen sein. Aber auch sonst weisen Migranten eine Reihe gemeinsamer Merkmale, wie Flexibilität, Resilienz und eine große eidetische Bewahrkraft,  auf. Nicht unbedingt eine überdurchschnittliche Intelligenz oder eine hohe Berufsqualifikation, sondern eine – auch sprachlich-mental – besondere Anpassungsfähigkeit und -willigkeit. Eine schleichende Invasion völlig feindlicher Kräfte zur Unterwanderung einer alten Kultur, wie sie AfD und andere rechte Gruppierungen besonders seit Sarrazins unseligem Buch von 2010 und seit 2015 immer wieder beschworen haben, ist schon von daher Unsinn. Sarrazin geht einerseits von einer Übernahme durch Fertilität, andererseits aber von der genetischen Unfähigkeit muslimischer Einwanderer durch Inzucht aus. Eine ähnliche Ungereimtheit trat dann gleich zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise aus, indem einerseits den Flüchtlingen unterstellt wurde, dass sie weder arbeiten könnten noch wollten (‚make the lazy nigger working‘), sie aber andererseits und enigmatischerweise eine direkte Bedrohung für die Arbeitsplätze der autochthonen Bevölkerung wären.Inzwischen hat die Rechte ohnehin die Gefahr aus dem Islam zugunsten der afrikanischen Invasion fallengelassen.

Auch das Ausweichen vor Hungersnöten, wie zum Beispiel die irische und deutsche Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, fällt in diese Kategorie, denn spätestens seit Friedrich II. wissen wir, dass der Staat sehr wohl, auch vorausschauend, für seine Untertanen sorgen kann und muss, nicht nur für die bewaffneten.

Der Kulturaustausch in Kriegszeiten wird fast immer im wesentlichen auf der Vergewaltigung und Zerstörung menschlicher, wirtschaftlicher und baulicher Existenzen beruhen. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten – auch wenn das den Vorwurf des Zynismus einbringt -, dass alle Konzepte oder auch nur Vorstellungen von nationaler oder ethnischer Reinheit eben durch die Angreifer und immer ad absurdum geführt werden. Es gibt sie nicht. Wo Menschen aufeinandertreffen, ob im Guten oder Bösen, tauschen sie Gene und Geist, Erfahrungen und sogar auch Traditionen aus. Deshalb flüchten alle segregationistischen Modelle, alle erzkonservativen Ordnungen, alle Mauerbauer und Intelligenzverwalter zum Schluss immer in biologistische Wahnvorstellungen: es ist eben so. Durch Segregationsschübe kommt es immer wieder auch zu Liberalisierungen. Da aber die Bildung weltweit zunimmt, haben autokratische Systeme und segregationistische Modelle immer weniger Chancen sich durchzusetzen, wenn sie es auch auch wieder und wieder, wie eben jetzt, versuchen.

Auf die Frage, ist aber zum kulturellen Austausch Migration zwingend erforderlich, kann man leicht antworten: nein, wahrscheinlich nicht, es reichen auch Kriege. Gemessen an den wirklich großen Kriegen, gibt es immer weniger und immer kleinere Kriege. Da wir heute viel mehr über Gerechtigkeit wissen und nachdenken, da wir viel mehr von der Opferperspektive ausgehen, finden wir solche asymmetrischen Kriegen wie den saudisch unterstützen Bürgerkrieg im Jemen oder den syrischen Stellvertreterkrieg unerträglich. Das war früher, als es immer wieder auch große Kriege gab, ganz anders. Goethe hat das in der Osterszene im Faust I mit sprichwörtlich gewordener Präzision beschrieben. Empathie ist ein Ergebnis der Demokratie, der Bildung und des Wohlstands.

Zwar ist die Berliner Mauer wahrscheinlich die einzige Sicherung eines rigiden Staatssystems nach innen, aber sie ist – vom Jubiläum ihres Falls ganz abgesehen – hervorrragend geeignet zu zeigen, dass alle natürlichen und anscheinend auch alle sozialen Systeme Osmose als Grundprinzip haben. Andersherum gesagt: es gibt keine Undurchlässigkeit. Die Berliner Mauer hatte ihren Höhepunkt vielleicht 1976, also fast genau in der Mitte ihrer Existenz, als Gartenschläger durch Abbau von Selbstschussanlagen nachwies, dass die Mauer selbst, ohne Hunde und diese Schießautomaten, hochdurchlässig war. Er musste es mit dem Leben bezahlen, aber die DDR-Regierung musste die Anlagen, die übrigens ein SS-Ingenieur für die KZ erfunden hatte, abbauen. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon das Mauermuseum am Checkpoint Charlie, das bis heute die verlogene Großspurigkeit der DDR-Führung und die Großporigkeit der Mauer zeigt. Nach Berlin kommen jährlich mehr als dreißig Millionen Menschen, wahrscheinlich sehen sie sich alle die Reste der porösen Mauer an und wissen, dass so etwas nicht funktioniert. ‚Je kompakter die Ordnung, desto aggressiver die Entropie,‘ sagt der polyglott-philosophische Reiseführer afrikanisch-jamaicanischer Herkunft, ‚die Definition ist der Grund der Spaltung.‘ Aber da wendeten sich schon viele Touristen der Currywurst zu.

 

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘ 

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘, Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884       

HEIMAT

 

Nr. 311

 

Wir fahren durch eine nicht kontinuierlich berauschend schöne Landschaft. Sie ist weitgehend menschenleer und doch strukturiert. Aber es gibt wunderschöne Alleen und Wälder, in denen noch der Schatzhauser aus Wilhelm Hauffs wahrem Märchen zu leben scheint. Die letzte Eiszeit hat Hügel hingeworfen und Moore hinterlassen, die so scharf an die Straße grenzen, dass wir kurz denken, wie verschwunden wir wären, wenn wir vom Weg abkämen. Niemand wüsste, wo er uns suchen sollte, nicht für immer, aber für einige tausend Jahre wären wir unsichtbar, dann eine archäologische Sensation. Hier ganz in der Nähe ist im vorigen Jahr ein Bahndamm ins Moor abgerutscht. Vor ein paar Tagen verschwand eine steinalte, demente Frau, die in Russland geboren worden war, in die, wie ihre Tochter sagt, vierte Dimension. Sie brachte einen Mülleimer nach draußen, wurde dann von Hundestaffeln, Hubschraubern und Hundertschaften der Bundespolizei gesucht: vergeblich. Die Hügel sehen aus, als hätten Riesen sie hingeschoben, und ihr Schweiß sind die tümpelhaft täuschenden Moore.

In der scharfen Linkskurve hätten wir scharf nach rechts fahren müssen, nun müssen wir wenden und erreichen doch noch das versteckte Dorf. Die Kirche ist aus dem dreizehnten Jahrhundert, ein Feldsteinsaal mit angemalter Balkendecke. Vor dem Dreifenstergiebel steht einer der schönsten Renaissancealtäre weit und breit. Die Kirche war schon dem Verfall preisgegeben, der Altar auseinandergefallen, der auferstandene Jesus fehlt immer noch, die historische Orgel von einem Marder ausgeweidet. Wir glauben nicht an den Marder. Es gibt immer genug Menschen, die Zinn und Holz gebrauchen können. Vor dem wertvollen Altar ist ein Podest aufgebaut, von Scheinwerfern angestrahlt, ein Tischchen und drei Stühle. Die Vorsitzende des Bürgervereins, der schon die Kirche rettete, sagt den etwa siebzig Besuchern, die ihre Autos auf der Wiese neben den Schafen parkten, was sie erwartet:

Einst ging ein junger Mann* in Beirut in eine Bibliothek. Er schlug ein Buch auf und fand sein Lebensthema, ja, seinen Lebenssinn. Es waren Gedichte von Rainer Maria Rilke. Da er aber nicht Deutsch konnte, las er zunächst die englischen Übersetzungen, lernte dann Deutsch, wurde Philosophieprofessor und Lyriker.

In Deutschland lernte er einen berühmten Schauspieler** kennen, der jetzt, – die Rede der Vorsitzenden ist beendet -, eine Theaterlegende ist und in diese Kirche in diesem abgelegenen Dorf kommt. Er ist fast 90 Jahre alt und geht nicht am Stock, sondern spielt – immer noch als junger Mann – einen Greis, zum Beispiel den traurigen König Lear, der am Stock geht. Er spielte nicht nur in Berlin – Ecke Schönhauser und ein Dreivierteljahrhundert lang alle großen Theaterrollen unter allen großen Regisseuren, sondern auch Shakespeares Sonette mit Inge Keller in der Regie von Robert Wilson*** aus Waco, Texas, der Stadt mit den zwei Massakern, und mit der Musik von Rufus Wainwright, dem Schwiegersohn von Leonard Cohen. Bei uns ist in jedem Absatz mehr Welt als in einem ganzen Parteitag der so genannten Alternative für ein Land, das es so nicht mehr gibt und das man nicht zurückholen kann.

Jetzt liest er, dass ‚wir wie Stein im Bett des Schicksals‘ lägen und dass ‚der Wind an die Tür‘ klopfe und dass Jesus, der an dem Altar fehlt, gesteinigt wird, wieder und wieder. Ein Gedicht handelt davon, dass wir wissen wollen, woher alles kommt, aber nicht, wohin alles geht. Seine Stimme ist unverwechselbar, man hört den Berliner durch, aber es ist ein Berliner, der durch die Welt der Worte schlurfte und wie ein Schwamm, wie ein Moor den Sinn aufsaugte, der verborgen scheint und doch überall zutage liegt. Dieser Sinn des Lebens oder der Welt wird durch die atmosphärischen Klänge der arabischen Laute, oud, was Holz heißt und von dem unser Wort ‚Laute‘ abstammt, die seit dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend bekannt ist, bloßgelegt. Weil sie keine Bünde hat, können diese natürlich wirkenden Glissandi**** hervorgebracht werden. Sie klingen wie das schluchzende Singen einer alten Frau mit einer jungen straffen Sopranstimme. Eine Oktave ist nicht in zwölf Töne, wie beim europäischen System, sondern in achtzehn Töne unterteilt, so dass wir Vierteltöne hören. Die Tonsysteme der Welt haben ihre Namen vielleicht in Europa erhalten, aber sie sind auch tatsächlich vergleichbar, ähnlich, austauschbar. Wenn wir nicht hinsähen, würden wir nicht die arabische Musik von derjenigen unterscheiden können, die hier gespielt wurde, als der Altar entstand. Das war 1610.

Im Publikum sitzt eine Frau mit leuchtend rotem Haar, ganz wie der Judas in der Predella des Altars. Ein alter Mann hat eine usbekische Mütze auf. Wahrscheinlich ist er ein bekannter Künstler, die meisten Künstler hier sind Maler. Aber er ist der Traditionsbrecher, wir haben nichts dagegen, aber wir wollen es sagen, weil es soviel Geschrei auf den Straßen gibt, wer wessen Kultur missachtet. Diese Kirche hier wurde weder durch die Usbekenmütze noch durch den Islam fast zum Einsturz gebracht, sondern durch Gleichgültigkeit und durch das Verlöschen des christlichen Lichts in Europa. Und erhalten wurde sie, kurz gesagt, durch die Kunst.

Wir hören also in einem verschwundenen uckermärkischen Dorf sowohl das mehr als viertausend Jahre alte Instrument, sitzen vor einem mehr als vierhundert Jahre alten wunderschönen Altar, dessen Bildsprache zwischen höchster Abstraktion und fast infantilem Jahrmarkt schwankt, hören einem höchst bemerkenswerten alten Mann zu, der einen Dichter interpretiert, der zwischen Babel , Beirut und Berlin, aber immer in den Worten zuhause war. Hölderlin, der von einer weniger bekannten Frau gelesen wurde, verblasste vielleicht nur, weil er mehr bekannt ist.

In Babel, auch das ein uralter multikultureller und multireligiöser Ort, wurden angeblich die Sprachen verwirrt, aber die Menschen verstanden sich trotzdem. Sie lauschten der oud und summten in ihrer Seele, dass nur Liebe belebt – und beinahe hätten wir gesagt – und sonst gar nichts. Deshalb wurde Jesus gesteinigt und deshalb – vielleicht – fehlt er auf diesem Altar.

Das Geschrei auf den Straßen will uns weismachen, dass Heimat der Staat sei, dessen Grenzen, wie jeder, der aus Deutschland oder Babel ist, weiß,  verschiebbar waren und sind und tausendmal verschoben wurden. Grenzen sind immer auch gleichbedeutend mit Gefängnis. Draußen, vor der Kirche, weiden jene Schwarzkopfschafe, auch sie leiden unter dem Elektrozaun, der irre Grenze ist, denn nirgendwo scheint das Gras grüner als hinter dem Zaun. Der Bock trägt eine Schürze um sein Genital. Der Mensch hat sich schon sattgewürgt an den überzähligen Lämmern, die er dem Wolf und dem Migranten missgönnt. Wir missbilligen das Schlachten in angeblich anderen Kulturen, und billigen die Massentierhaltung und das Töten von, allein in Deutschland, fünfzig Millionen männlichen Küken jährlich. Wir missbilligen die Burka, billigen aber die sexistische Herabwürdigung der Frau in jedem Schmutzblatt, das in jedem Zeitungsladen sichtbar ist. Wir verurteilen angeblich mittelalterliche Rituale und dulden das Insektensterben, das Vogelsterben, den allgemeinen biologischen Tod, auch eines zwölftausend Jahre alten Waldes, nur weil wir nicht von der Gewohnheit des Überfressens lassen wollen.  Die Angst vor einem undefinierbaren und unvorstellbaren Identitätsverlust – wie können wir unsere Identität verlieren, die eine Eigenschaft der Seele ist? -, lässt uns Insektensterben durch Monokultur, Entwürdigungen aus merkantilem Größenwahn und Massentierhaltung hinnehmen und irgendwelchen unwichtigen Randerscheinungen die Schuld geben. Die vielen schwarzweißen Fachwerkhäuser hier zeugen von der einstigen Desintegration und der jetzigen Überintegration der französischen Einwanderer. Sie sprechen heute noch nicht einmal mehr ihre Namen französisch aus. Was ist richtig?

Wir bezweifeln, dass der Marder die Orgel fraß. Die Kirche wurde von einem Bürgerverein gerettet, nicht vom Christentum. Die Eiszeitlandschaft und der Renaissancealtar sind mehr Heimat als der Staat oder das Christentum oder Recht oder vergängliche Ordnung. Wer wüsste das besser als jede Hausfrau, die es nicht mehr gibt.  Das Menschenrecht, auf das Europa so stolz ist, stand schon auf den Gesetzestafeln des Hammurapi aus Babel und des migrantischen und unehelichen Sohns Mose aus Ägypten. Die Laute, aus der die gesamte Musik hervorging, die Kunst, ja, selbst der Maler mit der Usbekenmütze sind mehr Heimat als jeder Grenzpfahl.

Heimat ist ein Gedanke, ein Gefühl, eine austauschbare Traditionslinie, mehr Weihnachten als Staat oder Apparat.

 

 

 

*          Fuad Rifka 1930-2011

**        Jürgen Holtz, geboren 1932 in Berlin

***       dessen künstlerische und tatsächliche Biografie Abbilder der inneren und äußeren Welt sind

****     Rutschen auf den Saiten

LINKER WAHN UND RECHTE REUE

Nr. 252

Viele Jahre wurde gesagt, dass das Linksrechts-Schema überholt sei. Wir hörten von Volksparteien, aber mit Attributierungen taten sie sich schwer. Die CDU war mehr für die Wirtschaft, die SPD, so wurde gesagt, eine Arbeitnehmerpartei. Der FDP-Vorsitzende Möllemann nahm sich das Leben, weil es ihm nicht gelang, die liberale Partei in eine rechtskonservative zu verwandeln, sozusagen an der CDU und sogar noch an der CSU rechts vorbeischleichen. Echten Antisemitismus gab es allerdings auch in der CDU, als nämlich illegale Parteispenden zu gespendeten Nachlässen jüdischer Menschen erklärt wurden. Der damalige Innenminister Kanther wurde wegen Betrugs und Untreue rechtskräftig verurteilt.

Die Volksparteien bewegten sich dann unter Schröder noch weiter aufeinander zu, und zwar in Richtung der neuen Mitte. Jeder wollte die Mitte der Gesellschaft für sich gewinnen. Insofern war dies eine Abbildung tatsächlicher Verhältnisse, indem es in Deutschland immer noch einen starken Mittelstand gibt. Allerdings ist durch die Schröder-Politik auch deutlich der Billiglohnsektor gefördert worden. Warum es weder der FDP noch der SPD gelungen ist, das Handwerk als das Rückgrat des Mittelstandes nachhaltig zu sanieren, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist es der Sparwahn oder der Sparzwang, der uns hindert, wirklich gute und also auch teure Produkte zu kaufen. Allerdings da, wo ein guter Ruf sich aus der Mittelstandszeit erhalten hat, nämlich in der Automobilindustrie und in der Landwirtschaft, da wird er gerade in einer neuen Stufe verspielt. Natürlich ändern sich die Zeiten. Niemand möchte mehr hungern – das ist so trivial, dass es schon lächerlich ist -, niemand möchte mehr am Milchladen mit seiner Kanne anstehen. Aber der Preis für unseren Luxus und unsere Verwöhntheit, das sehen wir jetzt überdeutlich, ist auch sehr hoch. Nicht nur öffentliche Toiletten und U-Bahnen riechen nach diesem Desinfektionsmittel, sondern auch das Gelbe vom Ei.

Je mehr die Parteien ihr Profil zugunsten der Mitte aufgaben, desto wirkungsloser wurden sie als Partei, als ein Verein mit einem bestimmten politischen und auch praktischen Ziel. Alle Parteien verloren bis zur Hälfte ihrer Mitglieder. Da aber der Politikbetrieb nicht nur ungestört, sondern hocheffektiv weiterlief, wurde der Verlust an Parteimitgliedern nicht als Verlust gesehen. Wahrscheinlich – ich weiß es nicht -, wird das Aufhängen der Wahlplakate outgesourct, und es werden Firmen aus Polen damit beauftragt.

In all diesen Jahren der Mittewanderung und Umprofilierung der Parteien hat sich aber rechtes und linkes Gedankengut – und das ist ein großes Wort für kleinen alten Unsinn – angesammelt und sogar konzentriert.

In der linken Partei wird seit Jahrzehnten – und so auch in der diesjährigen Bundestagswahl – gefordert, die Banken und alle Großverdiener zu besteuern. Liest man die Kommentare dazu, so ist das nichts anderes als die Forderung, diese Großverdiener zugunsten der Kleinverdiener abzuschaffen. Man darf nicht vergessen, dass es in der linken Bewegung auch Verwirklichungen dieser Forderung gegeben hat. Heute weiß zum Glück niemand mehr, was das Wort ‚Kulak‘ bedeutet. Aber in der großen Hungersnot, die auf die Kollektivierung der Landwirtschaft 1928 in der Sowjetunion folgte, wurden – nach den fünf bis sechs Millionen verhungerten Menschen – drei Millionen Kulaken ermordet. Kulaken waren Großbauern. Der ehemals linke Diktator von Zimbabwe, Robert Mugabe, hat die weißen Rosenzüchter, die – und das ist schon merkwürdig genug – das Fundament der Wirtschaft des Landes waren, als Verursacher des Rassismus erschießen lassen. Niemand wird nun annehmen, dass der linke Flügel der linken Partei die Banker erschießen lassen will. Aber die Unterstellung, dass durch eine Umverteilung des vorhandenen Geldes mehr Gerechtigkeit entstehen wird, übersieht, mild gesagt, dass alle diese Versuche bisher gescheitert sind. Wenn Marx den Frühkapitalismus vielleicht wortgewaltig beschrieben hat – und einige dieser Wörter werden noch gebraucht -, dann konnte er nicht sehen, dass eine spätere Produktion die für ihn zur Revolution vorgesehen Arbeiterklasse abschaffen wird. Wir leben in immer mehr Wohlstand, den immer weniger Menschen herstellen. Jede Revolution wird aber genau die Gewalt anwenden, die sie gerade bekämpfen will. Selbst in der relativ friedlichen DDR sind tausend Menschen an der Grenze und hunderte in den Stasi-Gefängnissen gestorben. Der Gram zählt seine Opfer nicht. Die Forderung also, ein aus der Vergangenheit überkommenes Phänomen historisch durch die Eliminierung der Menschen, die es tragen,  zu beseitigen, widerspricht, wie wir aus der Erfahrung wissen, jeglicher Menschlichkeit, weil das immer mit Gewalt verbunden ist. Die Gewaltlosigkeit, als Methode gegen Machtmissbrauch, bedarf auch einer Idee für die Zukunft. In Indien wurde nach der gewaltfreien Beendigung des Kolonialismus Demokratie und Marktwirtschaft, inzwischen mit wachsendem Erfolg, übernommen und nicht etwa der Marxismus. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit  ist aber, wenn eine vorgeblich linke Zeitschrift den Buchtitel eines Hitlerbuches für Marx reklamiert: Er ist wieder da. Allerdings hat diese Zeitschrift auch einen Populisten deswegen zum Herausgeber ernannt, weil sie hofft, von dessen 700.000 Facebook-Fans  für die eigene schwächliche Auflage zu profitieren.

Die wiederauferstandenen Er-ist-wieder-da-Rechten werden es bereuen, dass sie sich so spät aufgemacht haben, ihre Halbsätze – denn das Wort ‚Thesen‘ weigert sich, hier zu erscheinen – unter die Leute zu bringen. Wenn man bedenkt, dass diese neurechte Bewegung gerade in dem Moment aufkam, indem die Akzeptanz der muslimischen türkisch-kurdischen und unbemerkten polnischen Migranten am höchsten war. Niemand in Deutschland, mit Ausnahme einer winzigen NPD-Minderheit, hat  mit den widerlichen NSU-Morden sympathisiert. Millionen aber fanden die Forderungen der zum Glück schon halb vergessenen Pegida und der kurz darauf als eurokritische Partei gegründeten Alternative für Deutschland akzeptabel oder wenigstens überlegenswert. Es musste also erst eine neue Gruppe von Menschen hinzukommen, die keiner kannte und die man als neuen Feind deklarieren konnte. Wenn man alle Vorsicht fahren lässt, beruht der Vorschlag der Neurechten – genauso wie der Altlinken – darauf, eine Menschengruppe zu eliminieren. ‚AUF DER FLUCHT ERSCHOSSEN‘ war ja im Nazireich eine häufige Todesursache, und die Ironie der Geschichte macht vor Menschenleben nicht halt.

Was oder wen soll man also wählen? Die absurden Vorschläge erhalten im untern Bereich – um die sieben Prozent –  immer noch Zustimmung, obwohl sie beide durch die Geschichte endgültig widerlegt sein könnten. Warum sind die Menschen so dumm? Die Menschen sind nicht dumm. Die Hoffnung auf eine schnelle und einfache Antwort ist bequemer als das mühselige Sammeln von Fakten, Tendenzen und Meinungen. Es gibt heute auch zu jeder einzelnen  Frage eine wissenschaftliche Theorie mit eigener Fachsprache.  Die große Menge der Menschen wird weiter die empfohlene Mitte wählen, und es wäre ja auch schade um das mühevoll erworbene Ansehen. Keiner wird das fordern, was wir wirklich brauchen: Bildung, Sinn und Empathie.