DU HAST DIE WAHL

Nr. 349

In vielen Megastädten gibt es weder Straßennamen noch Stadtpläne und nicht jeder benutzt Google. Also stehen Jungs am Straßenrand und geben gegen geringes Entgelt Auskunft. In Europa dagegen hatten zuerst die Häuser Namen, dann die Straßen, dann führte Napoleon die Nummerierung der Häuser ein, schließlich entstanden Stadtpläne und Navigationssysteme. Die Vor- und Nachbereitung von Reisen und Fahrten kann die Reisen und Fahrten ersetzen. Was früher die Vorstellungskraft und die Erinnerung leisteten, haben uns die digitalen Denksubstitute abgenommen. Google Maps verhält sich zur Wirklichkeit wie der Liebigsche Brühwürfel zum Sonntagsbraten.

Und auch die Demokratie entstand nicht durch eine blutige Revolution aus der Asche der Barrikaden, sondern wie ein Brühwürfel nach dem anderen: Dreiklassenwahlrecht, Frauenwahlrecht, Achtstundentag, passives Wahlrecht für alle, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit, die Ersetzung aller Rassismen und Hierarchien, Vegetarismus, Rückbesiedlung des Landes als zigste Reformbewegung, Abschaffung der Kriege und Emanzipation der Verhandlungen. Jede|r mag für sich entscheiden, welche oder wessen Ideale damit verwirklicht wurden. Entscheidend ist nicht, ob beispielsweise eine Forderung aus der Bergpredigt des Großpropheten Yesus oder ein Satz aus Rousseaus Gesellschaftsvertrag wirklich wurde, sondern dass sich zum Schluss herausstellt, dass es keine signifikanten kulturellen Differenzen gibt, dass also der fiktive Großprophet Nathan recht hatte, als er diese immer wieder angenommenen und betonten Differenzen in den Bereich reiner und zufälliger Äußerlichkeiten verlegte. Demokratie und Sozialstaat sind also keine Herkunfts-, sondern Zukunftsfragen.

Was aber alle Visionäre, Propheten und Philosophen nicht vorausgesehen haben oder nicht voraussehen konnten, ist die Ermüdung am Guten. So wie die intensive Landwirtschaft, vielleicht beginnend mit dem friderizianischen Erdapfel, step by step den Hunger beseitigte und nicht ahnen konnte, dass dann nicht nur sattzufriedene, sondern auch adipöse Menschen, überdüngter Boden, Monokulturen und Artensterben das Ergebnis sein werden, so ergeht es auch der Demokratie. Sie schüttet Wohltaten aus und erntet Undank und Widerstand. Demokratie ist aber selbst auch ein Kind des Widerstands und muss sich also nicht über die Umkehrung der Verhältnisse wundern. Ist es nicht eigenartig, dass eines der häufigsten Argumente gegen die etablierte Demokratie deren Geldverschwendung ist und die nationalistischen Alternativen mit eben dieser Geldverschwendung beginnen und mit großer Wahrscheinlichkeit auch enden werden? In den Kinderzeiten der Demokratie zeigte sich, dass der abgeordnete und seiner Erwerbstätigkeit entfremdete Bürger alimentiert werden muss. Im heutigen Deutschland wurde diese Alimentierung wie die Altersrenten an den Inflationsausgleich gekoppelt, gleichzeitig aber durch jährliche Parlamentsbeschlüsse von der Regierung unabhängig gemacht. Und genau das wird nun von denjenigen Menschen kritisiert, die vom Sozialstaat abhängen. Aber das erste, was die Alternative für Deutschland im Bundestag getan hat, war für 10.000 Steuerzahler-€ Schnittchen bestellen. Marie Le Pen machte ihre Leibwächter zu vom Europäischen Parlament bezahlten Assistenten. Finanzskandale sind die Normalität dieser Alternativen, die in Wirklichkeit Karikaturen sind.

Die Alternative zur etablierten und erstarrten Politik ist der Bürokratieabbau, die Abschaffung der immer unverständlicheren Juristen-, Bürokraten- und Zeitungssprache, die Beendigung der permanenten Verrechtlichung aller Dinge und Prozesse. Wer über die Straße geht oder in einen Fluss springt, muss sich des Risikos für sein Leben bewusst sein, und es ist nicht nur die unmittelbare Gefahr, sondern auch die drohenden Gefahr durch die ständige Veränderung, die gerade auf Straße und Fluss gut angezeigt wird. Ganz im Ernst wurde schon davor gewarnt, dass, wenn der Individualverkehr durch Elektroautomobile leiser wird, die Unfallgefahr steigt. Jede Verbesserung wird durch Verrechtlichung und Bürokratisierung zur Verwässerung oder Verschlechterung. Der Rechtsstaat hat sich vor die Demokratie und vor den Sozialstaat gedrängt, dabei war er doch nichts anderes als ein Assistenzsystem der beiden. Der Rechtsstaat ist nur die Garantie, dass Demokratie und Sozialstaat für jede|n erreichbar sind, dass Gerechtigkeit für alle angestrebt wird. Der Rechtsstaat ist kein Polizeistaat, wie es jetzt auch die CDU, in nachjagendem Gehorsam plakatiert, aber sie jagt nicht dem Recht nach, sondern dem Rechts. Wenn Angela Merkel Ziele verfehlt hat, dann die Modernisierung der CDU, der Antimerkelismus, die Grundtorheit dieser Partei, gebiert solche rechtskonservativen Ungeheuer wie Kramp-Karrenbauer, Spahn, Ziemiak (‚da hilft kein Integrationskurs, sondern nur Gefängnis‘), Kuban, deren Namen man sich hoffentlich nicht merken muss. Auch die CSU jagt der autoritären Karotte nach und bleibt im Kreis der Ewiggestrigen. Nicht zufällig wurde die Erneuerung Deutschlands auf wichtigen Gebieten eben nicht verschlafen, sondern aus Angst verdrängt, Digitalisierung, Bildung, Globalisierungspolitik mit Weltmarkt und Migration. Die CDU ist genauso unrettbar verloren wie die SPD, aber die Karikatur- und Schnittchenpartei Gaulands und Höckes (‚wir brauchen eine neue Männlichkeit‘) ist auch nichts weiter als die Vergreisung des Autoritarismus. Die Erneuerung kommt aus der Jugend und aus der Technik.

Diese Erstarrung von Reformbewegungen oder Willkür verselbstständigter Assistenzsysteme ist natürlich nicht neu. Der Großprophet Salomo beklagte sie genauso wie der Renaissanceriese Shakespeare: ‚and strength by limping sway disabled‘*. Der erste Weltkrieg ist das grandiose und tragische Missverständnis eines solchen Paradigmenwechsels. Die lange Friedensperiode wurde als Stillstand interpretiert und die Voraussage überhört.** Der Fluch der Wende ist, dass man nicht weiß, was kommt. In der Nichtwende weiß man es auch nur durch Gewohnheit und ewige Wiederholung. Eigentlich also weiß man nie, was wirklich kommt. Die Verunsicherung führt zu Angst, Missgunst und Krieg. Wenn man, wie wir, den Krieg nicht mehr zu den praktikablen Mitteln zählt, zeigt sich, wie mächtig die verbleibenden Faktoren Angst und Missgunst sind. Das Neue, für das wir noch keinen Namen haben, eine Mischung vielleicht aus Demokratie, Sozialstaat und Digitalisierung, setzt sich genauso wie einst die Demokratie aber nicht in einer Revolution, sondern in einem schleichenden und damit nicht weniger beängstigenden Prozess durch. Digitalisierung darf man sich aber nicht nur allzu technisch vorstellen. Die Verkleinerung und Verkomplexisierung der Geräte ist nur die eine Seite. Die andere Seite aber ist die immer höhere Zugriffsgeschwindigkeit zu Wissen und Kunst. Das ist die unterschätzte Seite. Auf der dritten Ebene muss also die Intensivierung von Ethik, Sinn, Transparenz und Transzendenz, Abstraktion und die Bevorzugung von simply truth vor simplicity*.

Wir stehen nicht nur am Ende einer alten Welt, sondern auch am Beginn einer neuen. Haben wir eine Wahl?

 

 

*Sonett 66

**Rathenau

LINKER WAHN UND RECHTE REUE

Nr. 252

Viele Jahre wurde gesagt, dass das Linksrechts-Schema überholt sei. Wir hörten von Volksparteien, aber mit Attributierungen taten sie sich schwer. Die CDU war mehr für die Wirtschaft, die SPD, so wurde gesagt, eine Arbeitnehmerpartei. Der FDP-Vorsitzende Möllemann nahm sich das Leben, weil es ihm nicht gelang, die liberale Partei in eine rechtskonservative zu verwandeln, sozusagen an der CDU und sogar noch an der CSU rechts vorbeischleichen. Echten Antisemitismus gab es allerdings auch in der CDU, als nämlich illegale Parteispenden zu gespendeten Nachlässen jüdischer Menschen erklärt wurden. Der damalige Innenminister Kanther wurde wegen Betrugs und Untreue rechtskräftig verurteilt.

Die Volksparteien bewegten sich dann unter Schröder noch weiter aufeinander zu, und zwar in Richtung der neuen Mitte. Jeder wollte die Mitte der Gesellschaft für sich gewinnen. Insofern war dies eine Abbildung tatsächlicher Verhältnisse, indem es in Deutschland immer noch einen starken Mittelstand gibt. Allerdings ist durch die Schröder-Politik auch deutlich der Billiglohnsektor gefördert worden. Warum es weder der FDP noch der SPD gelungen ist, das Handwerk als das Rückgrat des Mittelstandes nachhaltig zu sanieren, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist es der Sparwahn oder der Sparzwang, der uns hindert, wirklich gute und also auch teure Produkte zu kaufen. Allerdings da, wo ein guter Ruf sich aus der Mittelstandszeit erhalten hat, nämlich in der Automobilindustrie und in der Landwirtschaft, da wird er gerade in einer neuen Stufe verspielt. Natürlich ändern sich die Zeiten. Niemand möchte mehr hungern – das ist so trivial, dass es schon lächerlich ist -, niemand möchte mehr am Milchladen mit seiner Kanne anstehen. Aber der Preis für unseren Luxus und unsere Verwöhntheit, das sehen wir jetzt überdeutlich, ist auch sehr hoch. Nicht nur öffentliche Toiletten und U-Bahnen riechen nach diesem Desinfektionsmittel, sondern auch das Gelbe vom Ei.

Je mehr die Parteien ihr Profil zugunsten der Mitte aufgaben, desto wirkungsloser wurden sie als Partei, als ein Verein mit einem bestimmten politischen und auch praktischen Ziel. Alle Parteien verloren bis zur Hälfte ihrer Mitglieder. Da aber der Politikbetrieb nicht nur ungestört, sondern hocheffektiv weiterlief, wurde der Verlust an Parteimitgliedern nicht als Verlust gesehen. Wahrscheinlich – ich weiß es nicht -, wird das Aufhängen der Wahlplakate outgesourct, und es werden Firmen aus Polen damit beauftragt.

In all diesen Jahren der Mittewanderung und Umprofilierung der Parteien hat sich aber rechtes und linkes Gedankengut – und das ist ein großes Wort für kleinen alten Unsinn – angesammelt und sogar konzentriert.

In der linken Partei wird seit Jahrzehnten – und so auch in der diesjährigen Bundestagswahl – gefordert, die Banken und alle Großverdiener zu besteuern. Liest man die Kommentare dazu, so ist das nichts anderes als die Forderung, diese Großverdiener zugunsten der Kleinverdiener abzuschaffen. Man darf nicht vergessen, dass es in der linken Bewegung auch Verwirklichungen dieser Forderung gegeben hat. Heute weiß zum Glück niemand mehr, was das Wort ‚Kulak‘ bedeutet. Aber in der großen Hungersnot, die auf die Kollektivierung der Landwirtschaft 1928 in der Sowjetunion folgte, wurden – nach den fünf bis sechs Millionen verhungerten Menschen – drei Millionen Kulaken ermordet. Kulaken waren Großbauern. Der ehemals linke Diktator von Zimbabwe, Robert Mugabe, hat die weißen Rosenzüchter, die – und das ist schon merkwürdig genug – das Fundament der Wirtschaft des Landes waren, als Verursacher des Rassismus erschießen lassen. Niemand wird nun annehmen, dass der linke Flügel der linken Partei die Banker erschießen lassen will. Aber die Unterstellung, dass durch eine Umverteilung des vorhandenen Geldes mehr Gerechtigkeit entstehen wird, übersieht, mild gesagt, dass alle diese Versuche bisher gescheitert sind. Wenn Marx den Frühkapitalismus vielleicht wortgewaltig beschrieben hat – und einige dieser Wörter werden noch gebraucht -, dann konnte er nicht sehen, dass eine spätere Produktion die für ihn zur Revolution vorgesehen Arbeiterklasse abschaffen wird. Wir leben in immer mehr Wohlstand, den immer weniger Menschen herstellen. Jede Revolution wird aber genau die Gewalt anwenden, die sie gerade bekämpfen will. Selbst in der relativ friedlichen DDR sind tausend Menschen an der Grenze und hunderte in den Stasi-Gefängnissen gestorben. Der Gram zählt seine Opfer nicht. Die Forderung also, ein aus der Vergangenheit überkommenes Phänomen historisch durch die Eliminierung der Menschen, die es tragen,  zu beseitigen, widerspricht, wie wir aus der Erfahrung wissen, jeglicher Menschlichkeit, weil das immer mit Gewalt verbunden ist. Die Gewaltlosigkeit, als Methode gegen Machtmissbrauch, bedarf auch einer Idee für die Zukunft. In Indien wurde nach der gewaltfreien Beendigung des Kolonialismus Demokratie und Marktwirtschaft, inzwischen mit wachsendem Erfolg, übernommen und nicht etwa der Marxismus. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit  ist aber, wenn eine vorgeblich linke Zeitschrift den Buchtitel eines Hitlerbuches für Marx reklamiert: Er ist wieder da. Allerdings hat diese Zeitschrift auch einen Populisten deswegen zum Herausgeber ernannt, weil sie hofft, von dessen 700.000 Facebook-Fans  für die eigene schwächliche Auflage zu profitieren.

Die wiederauferstandenen Er-ist-wieder-da-Rechten werden es bereuen, dass sie sich so spät aufgemacht haben, ihre Halbsätze – denn das Wort ‚Thesen‘ weigert sich, hier zu erscheinen – unter die Leute zu bringen. Wenn man bedenkt, dass diese neurechte Bewegung gerade in dem Moment aufkam, indem die Akzeptanz der muslimischen türkisch-kurdischen und unbemerkten polnischen Migranten am höchsten war. Niemand in Deutschland, mit Ausnahme einer winzigen NPD-Minderheit, hat  mit den widerlichen NSU-Morden sympathisiert. Millionen aber fanden die Forderungen der zum Glück schon halb vergessenen Pegida und der kurz darauf als eurokritische Partei gegründeten Alternative für Deutschland akzeptabel oder wenigstens überlegenswert. Es musste also erst eine neue Gruppe von Menschen hinzukommen, die keiner kannte und die man als neuen Feind deklarieren konnte. Wenn man alle Vorsicht fahren lässt, beruht der Vorschlag der Neurechten – genauso wie der Altlinken – darauf, eine Menschengruppe zu eliminieren. ‚AUF DER FLUCHT ERSCHOSSEN‘ war ja im Nazireich eine häufige Todesursache, und die Ironie der Geschichte macht vor Menschenleben nicht halt.

Was oder wen soll man also wählen? Die absurden Vorschläge erhalten im untern Bereich – um die sieben Prozent –  immer noch Zustimmung, obwohl sie beide durch die Geschichte endgültig widerlegt sein könnten. Warum sind die Menschen so dumm? Die Menschen sind nicht dumm. Die Hoffnung auf eine schnelle und einfache Antwort ist bequemer als das mühselige Sammeln von Fakten, Tendenzen und Meinungen. Es gibt heute auch zu jeder einzelnen  Frage eine wissenschaftliche Theorie mit eigener Fachsprache.  Die große Menge der Menschen wird weiter die empfohlene Mitte wählen, und es wäre ja auch schade um das mühevoll erworbene Ansehen. Keiner wird das fordern, was wir wirklich brauchen: Bildung, Sinn und Empathie.