DIE WAHRHEIT ÜBER RECHTS UND LINKS

Nr. 341

Für Journalisten und Ratgeberbuchautoren mag die Formel ‚Die Wahrheit über..‘ ein rhetorischer Trick sein, über den sie selbst lachen müssen, indessen gibt es sehr viele Leser, die von der einen, jetzt aber wirklich richtigen Wahrheit nicht nur überzeugt sind, sondern im Sinne des alten CREDO an ein unumstößliches Dogma glauben.

Ein in mittelmäßig prominenter Linker sagte neulich in einem Interview, dass die Kernthese der Linken, des Marxismus die Entfremdung sei. Den Gedanken der Entfremdung hatte der junge Marx von seinem Vorbild, dem alten Ludwig Feuerbach, entlehnt. Er besagt, dass Menschen in Verhältnissen leben, die sie von der Natur und ihrem Ursprung getrennt haben. Ein Landarbeiter, der noch eben verstand, woher die Milch kommt, zieht nur durch die Industrialisierung in die Stadt und baut oder tut etwas, das er nicht mehr versteht, wovon er aber trotzdem lebt. Heute lebt praktisch die gesamte Menschheit in mindestens zwei Welten, wir flüchten nicht mehr in Visionen oder die Utopien, sondern in Fiktionen. Weiter schreibt der linke Autor: Während Kränkung, die neue Grundthese der falschen Linken, subjektiv interpretierbar sei, ‚ist es für jeden erkennbar Ausbeutung…wenn der Fleischzerleger in einer Großschlachterei für einen minimalen Lohn arbeitet“*. Da ist er wieder: der Glaube an die eine Wahrheit. Zehn Millionen Menschen in Deutschland, weit mehr als die Linke Mitglieder oder Wähler hat, essen kein Fleisch mehr, weil sie die Massentierhaltung ablehnen. In dieser Zahl sind nicht diejenigen enthalten, die zu bestimmten Zeiten fasten, was wir, statt es permanent zu diskreditieren, uns alle zum Vorbild nehmen sollten. Es geht nicht um die Kränkung der Tiere, sondern um die Frage, wie weit wir die Würde der Tiere als unsere Schwestern und Brüder anzuerkennen bereit sind. Die Lösung des Problems der Tierwürde, der Billigproduktion überhaupt, liegt wahrscheinlich nicht in herkömmlicher linker Politik, offensichtlich gar nicht in Politik, sondern in einer neuen Ethik des Konsumverhaltens. Zu glauben, dass das Verhalten der Menschen nur durch Gesetze, Schule und Politik zu ändern sei, gehört ebenfalls in den Bereich der Fabel. Vegetarismus, Shell-Boykott, Verzicht auf Plastiktüten, Abschaffung der Sommerzeit – das sind positive Beispiele von Spontanideologie, Zeitgeist und Journalismus. Man kann Marx nicht vorwerfen, dass er das nicht gesehen hat, aber man kann einem heutigen Politiker oder Autor schon daran erinnern, dass die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegt. Die Wähler tun es auch. Vorwerfen müssen wir uns vielmehr, dass wir die frühen Hinweise auf diese neue Ethik beharrlich ignorieren. König Salomo hat ein Gebiet, das er mit seinem Heer durchziehen zu müssen glaubte, vorher von Ameisen bereinigen lassen, damit sie keinen Schaden nähmen. Gandhi stammte mütterlicherseits aus einer jainistischen Familie, die ebenfalls von der Geschwisterlichkeit und dem absoluten Respekt für alle Seelen, auch die der Ameisen, ausgeht.

Man muss übrigens auch erst einmal Marxist sein, um diesen Begriff überhaupt zu kennen. In der Schule wird, auch nicht mehr ganz heutig, die Tarifautonomie als Lösung aller Probleme gelehrt. Heute sitzen die Gewerkschaften in Palästen, in denen man früher, wenn man Marxist war, die Ausbeuter vermutete. Sodann gibt es viele Menschen, die von ihrem Arbeitslohn keine Familie ernähren müssen, wie der klassische Arbeiter des ebenso klassischen Marxismus. Ein Langzeitarbeitsloser oder ein frisch eingetroffener Migrant ist vielleicht dankbar, wenn er eine so denunzierte Arbeit gefunden hat. Er würde, wenn er diese Auslassungen und das Parteiprogramm gelesen hätte, diese Partei auf keinen Fall wählen. Was dort als Ausbeutung denunziert wird, sieht er als Segen. Das können wir furchtbar finden, aber es rettet sein Leben. Und ganz biblisch: er lebt nicht vom Döner allein, auch von seinem Smartphone.

Der Besitzer des von uns gerne und zurecht kritisierten Schlachthofs wird mit ebensolchem Recht darauf verweisen, dass seine Art in unsere Welt einzugreifen mit einem andern Wort wesentlich besser beschrieben ist: Wohlstand. Fleischverzehr, Automobil, Urlaubsreisen und Wohneigentum haben neben ihrer tatsächlichen Existenz auch eine Metafunktion als Status- und Wohlstandssymbole. Das Insektensterben ist die direkte Antwort auf unsere Art wohlhabend zu sein. Das Ignorieren der Folgen unseres Tuns ist infantil. Der Kampf gegen Ausbeutung wäre so ziemlich die lächerlichste Antwort, die man auf die Probleme unserer Zeit geben kann, wenn es nicht eine noch lächerlichere, ebenfalls schon oft gescheiterte Antwort geben würde.

All diesen Antworten ist nicht nur der Hang zum Ewiggestrigen eigen, sondern auch die Segregation, die Unterteilung von Menschen in Qualitäten. Stattdessen zeigt sich durch die Annäherung der Lebensweisen, dass es nur die Lebensweisen waren, die sich unterschieden. Die neue Antwort auf Großschlachthof oder Schächten heißt Vegetarismus oder jedenfalls verträglicheres Zusammenleben von Menschen und Tieren**. Auf Plastik und individuelle Mobilität zu verzichten, dürfte ziemlich leicht sein. Vor allem ist es wichtig auf Parteien zu verzichten, die nur vom Gestern schwatzen, statt Ideen zu entwickeln, wie wir Wohlstand, Nachhaltigkeit und Geist miteinander verbinden können. Man sollte nicht davon ausgehen, dass die Wähler dumm sind. Allerdings sind die wenigsten Wähler auf Parteiprogramme aus. Sie gehen vielmehr nach Verlässlichkeit, Plausibilität, Gewohnheit, Rhetorik.

Gegen gute Bildung ist natürlich nichts einzuwenden.

 

 

*Bernd Stegemann, DIE ZEIT, 18. Februar 2019

**John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen

schon bestellt?

03_Haus im Fluss

LINKER WAHN UND RECHTE REUE

Nr. 252

Viele Jahre wurde gesagt, dass das Linksrechts-Schema überholt sei. Wir hörten von Volksparteien, aber mit Attributierungen taten sie sich schwer. Die CDU war mehr für die Wirtschaft, die SPD, so wurde gesagt, eine Arbeitnehmerpartei. Der FDP-Vorsitzende Möllemann nahm sich das Leben, weil es ihm nicht gelang, die liberale Partei in eine rechtskonservative zu verwandeln, sozusagen an der CDU und sogar noch an der CSU rechts vorbeischleichen. Echten Antisemitismus gab es allerdings auch in der CDU, als nämlich illegale Parteispenden zu gespendeten Nachlässen jüdischer Menschen erklärt wurden. Der damalige Innenminister Kanther wurde wegen Betrugs und Untreue rechtskräftig verurteilt.

Die Volksparteien bewegten sich dann unter Schröder noch weiter aufeinander zu, und zwar in Richtung der neuen Mitte. Jeder wollte die Mitte der Gesellschaft für sich gewinnen. Insofern war dies eine Abbildung tatsächlicher Verhältnisse, indem es in Deutschland immer noch einen starken Mittelstand gibt. Allerdings ist durch die Schröder-Politik auch deutlich der Billiglohnsektor gefördert worden. Warum es weder der FDP noch der SPD gelungen ist, das Handwerk als das Rückgrat des Mittelstandes nachhaltig zu sanieren, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist es der Sparwahn oder der Sparzwang, der uns hindert, wirklich gute und also auch teure Produkte zu kaufen. Allerdings da, wo ein guter Ruf sich aus der Mittelstandszeit erhalten hat, nämlich in der Automobilindustrie und in der Landwirtschaft, da wird er gerade in einer neuen Stufe verspielt. Natürlich ändern sich die Zeiten. Niemand möchte mehr hungern – das ist so trivial, dass es schon lächerlich ist -, niemand möchte mehr am Milchladen mit seiner Kanne anstehen. Aber der Preis für unseren Luxus und unsere Verwöhntheit, das sehen wir jetzt überdeutlich, ist auch sehr hoch. Nicht nur öffentliche Toiletten und U-Bahnen riechen nach diesem Desinfektionsmittel, sondern auch das Gelbe vom Ei.

Je mehr die Parteien ihr Profil zugunsten der Mitte aufgaben, desto wirkungsloser wurden sie als Partei, als ein Verein mit einem bestimmten politischen und auch praktischen Ziel. Alle Parteien verloren bis zur Hälfte ihrer Mitglieder. Da aber der Politikbetrieb nicht nur ungestört, sondern hocheffektiv weiterlief, wurde der Verlust an Parteimitgliedern nicht als Verlust gesehen. Wahrscheinlich – ich weiß es nicht -, wird das Aufhängen der Wahlplakate outgesourct, und es werden Firmen aus Polen damit beauftragt.

In all diesen Jahren der Mittewanderung und Umprofilierung der Parteien hat sich aber rechtes und linkes Gedankengut – und das ist ein großes Wort für kleinen alten Unsinn – angesammelt und sogar konzentriert.

In der linken Partei wird seit Jahrzehnten – und so auch in der diesjährigen Bundestagswahl – gefordert, die Banken und alle Großverdiener zu besteuern. Liest man die Kommentare dazu, so ist das nichts anderes als die Forderung, diese Großverdiener zugunsten der Kleinverdiener abzuschaffen. Man darf nicht vergessen, dass es in der linken Bewegung auch Verwirklichungen dieser Forderung gegeben hat. Heute weiß zum Glück niemand mehr, was das Wort ‚Kulak‘ bedeutet. Aber in der großen Hungersnot, die auf die Kollektivierung der Landwirtschaft 1928 in der Sowjetunion folgte, wurden – nach den fünf bis sechs Millionen verhungerten Menschen – drei Millionen Kulaken ermordet. Kulaken waren Großbauern. Der ehemals linke Diktator von Zimbabwe, Robert Mugabe, hat die weißen Rosenzüchter, die – und das ist schon merkwürdig genug – das Fundament der Wirtschaft des Landes waren, als Verursacher des Rassismus erschießen lassen. Niemand wird nun annehmen, dass der linke Flügel der linken Partei die Banker erschießen lassen will. Aber die Unterstellung, dass durch eine Umverteilung des vorhandenen Geldes mehr Gerechtigkeit entstehen wird, übersieht, mild gesagt, dass alle diese Versuche bisher gescheitert sind. Wenn Marx den Frühkapitalismus vielleicht wortgewaltig beschrieben hat – und einige dieser Wörter werden noch gebraucht -, dann konnte er nicht sehen, dass eine spätere Produktion die für ihn zur Revolution vorgesehen Arbeiterklasse abschaffen wird. Wir leben in immer mehr Wohlstand, den immer weniger Menschen herstellen. Jede Revolution wird aber genau die Gewalt anwenden, die sie gerade bekämpfen will. Selbst in der relativ friedlichen DDR sind tausend Menschen an der Grenze und hunderte in den Stasi-Gefängnissen gestorben. Der Gram zählt seine Opfer nicht. Die Forderung also, ein aus der Vergangenheit überkommenes Phänomen historisch durch die Eliminierung der Menschen, die es tragen,  zu beseitigen, widerspricht, wie wir aus der Erfahrung wissen, jeglicher Menschlichkeit, weil das immer mit Gewalt verbunden ist. Die Gewaltlosigkeit, als Methode gegen Machtmissbrauch, bedarf auch einer Idee für die Zukunft. In Indien wurde nach der gewaltfreien Beendigung des Kolonialismus Demokratie und Marktwirtschaft, inzwischen mit wachsendem Erfolg, übernommen und nicht etwa der Marxismus. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit  ist aber, wenn eine vorgeblich linke Zeitschrift den Buchtitel eines Hitlerbuches für Marx reklamiert: Er ist wieder da. Allerdings hat diese Zeitschrift auch einen Populisten deswegen zum Herausgeber ernannt, weil sie hofft, von dessen 700.000 Facebook-Fans  für die eigene schwächliche Auflage zu profitieren.

Die wiederauferstandenen Er-ist-wieder-da-Rechten werden es bereuen, dass sie sich so spät aufgemacht haben, ihre Halbsätze – denn das Wort ‚Thesen‘ weigert sich, hier zu erscheinen – unter die Leute zu bringen. Wenn man bedenkt, dass diese neurechte Bewegung gerade in dem Moment aufkam, indem die Akzeptanz der muslimischen türkisch-kurdischen und unbemerkten polnischen Migranten am höchsten war. Niemand in Deutschland, mit Ausnahme einer winzigen NPD-Minderheit, hat  mit den widerlichen NSU-Morden sympathisiert. Millionen aber fanden die Forderungen der zum Glück schon halb vergessenen Pegida und der kurz darauf als eurokritische Partei gegründeten Alternative für Deutschland akzeptabel oder wenigstens überlegenswert. Es musste also erst eine neue Gruppe von Menschen hinzukommen, die keiner kannte und die man als neuen Feind deklarieren konnte. Wenn man alle Vorsicht fahren lässt, beruht der Vorschlag der Neurechten – genauso wie der Altlinken – darauf, eine Menschengruppe zu eliminieren. ‚AUF DER FLUCHT ERSCHOSSEN‘ war ja im Nazireich eine häufige Todesursache, und die Ironie der Geschichte macht vor Menschenleben nicht halt.

Was oder wen soll man also wählen? Die absurden Vorschläge erhalten im untern Bereich – um die sieben Prozent –  immer noch Zustimmung, obwohl sie beide durch die Geschichte endgültig widerlegt sein könnten. Warum sind die Menschen so dumm? Die Menschen sind nicht dumm. Die Hoffnung auf eine schnelle und einfache Antwort ist bequemer als das mühselige Sammeln von Fakten, Tendenzen und Meinungen. Es gibt heute auch zu jeder einzelnen  Frage eine wissenschaftliche Theorie mit eigener Fachsprache.  Die große Menge der Menschen wird weiter die empfohlene Mitte wählen, und es wäre ja auch schade um das mühevoll erworbene Ansehen. Keiner wird das fordern, was wir wirklich brauchen: Bildung, Sinn und Empathie.