VERSCHWUNDEN

Wir müssten wohl lange suchen, um einen geeigneteren Ort für ein Drama über Flucht und Vertreibung zu finden, als das ‚intime theater‘ im Hugenottenpark in Schwedt. Schon die Lage direkt an der Oder, dem kleinsten unserer großen Flüsse, der, anders als der gegenüberliegende Rhein, erst spät zum Grenzfluss wurde. Aber hier kreuzten sich die Wege von Slawen und deutschen Kolonisten, Juden siedelten sich, so der Plan, auf Dauer an, dann kamen die Hugenotten und brachten Tabak und Spargel mit, und mit dem Ende des, wie wir dachten, letzten Krieges fanden, obwohl alle Brücken zernichtet waren, die Deutschen von zuhause nach zuhause. Jetzt erfreuen wir uns an einer fleißigen und gewinnbringenden polnischen Einwanderung, die nicht die erste ist. Und es kommen Ukrainerinnen, die auf das Ende des nun wirklich letzten Krieges oder auf die zweite Chance warten.

In diesem ‚intimen theater‘ gab es im März 2023 als deutsche Erstaufführung Elise Wilks Spektakel ‚Verschwinden‘ über das Verschwinden der Rumäniendeutschen in den achtziger Jahren und vor allem um 1990, nach dem Sturz der Ceauşescu-Diktatur. 

Uns ‚aus dem Reich‘, wie die alten Siebenbürger Sächsinnen und Sachsen uns benannten, waren Sprache, Religiosität und Bräuche in Siebenbürgen und im Banat altertümlich und idyllisch, vertraut und fremd zugleich, heimelig allzumal. Mir erschien diese wunderschöne Kultur, von der Sprache  einmal abgesehen, eher wie Folklore, wie die Sorben in der Lausitz, deren Leben damals auch noch etwas kohärenter um Sprache, Tracht und Religion kreiste. Heute gibt es nur noch winzige Inseln, wie zum Beispiel den Pfarrer und Dichter Eginald Schlattner in Roşia (ehemals Rothberg), den ich vor einigen Jahren, sozusagen als Abschied vom deutschen Siebenbürgen besucht habe. Unser Auto, ein unspektakulärer Ford Escort Kombi, war von etwa 50 Romajungs umringt, die jede Funktion des Wägelchens erklärt und vorgeführt haben wollten. Ihre Familien haben mit Schlattners Unterstützung das ehemals vollständig deutsche Dorf besiedelt, er organisierte ihnen eine Waldorfschule. Unser langes Gespräch mit ihm über seine drei höchst lesenswerten Romane aus einer zeitlich und räumlich fernen, aber dennoch deutschen Inselwelt wurde durch das Erscheinen von vielleicht hundert Pfadfindern beendet, mit denen wir dann in seiner 800 Jahre alten Kirche DONA NOBIS PACEM sangen.

Zeitgleich verschwanden Elisa Wilks Verwandten und Freunde und verdichteten sich später und sukzessive zu dem lesens- und hörenswerten Theatertext ‚VERSCHWINDEN‘. Er zeigt das Leben und die Remigration einer rumäniendeutschen Familie. Dieses Prisma – die Familie – überdeckt aber die politischen oder historischen Zusammenhänge. Eine große Menge von Rumäniendeutschen musste in der Sowjetunion, nämlich in Kriwoi Rog, im Donbas oder in Sibirien, den Preis des Tickets für deutschen Größenwahn und deutsche Grausamkeit bezahlen. Eine ehemals Banater Punklady hat später einen Roman* darüber geschrieben und prompt den Nobelpreis für Literatur dafür bekommen.  In den Familien wurde darüber nur geflüstert. Auch über die Bestechungssummen für die Securitateverbrecher, die den Weg zum Verkauf der Häuser an sie und der Hausbewohner an Deutschland organisierten, wurde nur geflüstert. Der arme Junge (Lennart Olafsson), der, weil er schwul war und erpresst wurde, sich in einer höchst anrührenden Szene als Denunziant outen muss, muss ebenso flüstern. Aber das Mädchen (Adele Schlichter), das ihn bis dahin liebte, liebt ihn trotz des nun verdoppelten  Hindernisses weiter und weiter. Alle Schauspieler, auch Ines Venus Heinrich als Kathi, müssen ihre Rollen tauschen. Dadurch entstehen ganz nebenbei fast Brechtische Etüden für Schauspieler, die alle als Meisterin und Meister bestehen. Zur Hilfe für uns Zuschauer sind die Koffer wie universelle Migrantenmetaphern und wirkmächtige Requisiten mit Namen beschriftet. Migration ist Rollentausch. Die Wanderung von Mensch zu Mensch hat ein neues Modewort hervorgebracht: Empathie, das Einfühlen in die Mitmenschen. Die auf Individuation gerichtete Wohlstandsgesellschaft tut sich schwer damit, doch die Migration aus Osteuropa, aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan und mehreren afrikanischen Ländern erinnert uns an diese grundmenschliche und grundanständige Fähigkeit, die uns allen innewohnt, auch ihren Leugnern. Leugnen hilft weder vor dem irdischen noch beim Jüngsten Gericht. Wenn das Haus brennt, können wir nicht nach der Herkunft seiner Bewohner fragen, so kann man es schon in einem berühmten zweihundert Jahre alten Großrührstück** lesen, das für mich in den Olymp des Theaters und der Weltnarrative gehört.

Das Prisma der Familie schluckt die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wir sehen und hören eine Familie, die einen Weg zum Glück (?) sucht. Das ewige Dilemma zwischen Hierbleiben oder Weggehen hat zwei gleichschlechte Lösungen: hierbleiben oder weggehen. Das ist überall so, nur in Migrationsgruppen ist es verstärkt wie in einem Brennglas. In einem ehemals pommerschen Dorf dagegen sprach alles für Hierbleiben, und trotzdem gingen immer einzelne weg und rannten in ihr Glück oder Unglück. Wie in einem Mikroskop deckt die Familie und ihr er Einzelne seine einzige wirkliche Identität auf: das Menschsein. Als die Siebenbürger Sachsen aus Deutschland verschwanden, fehlten sie nicht. Als sie achthundert Jahre später aus Rumänien verschwanden, fehlten sie ebenso wenig. Wir sind im wesentlichen doch eben nur Menschen, nicht Deutsche oder Russen, nicht Frauen oder Männer, nicht Alte oder Junge, nicht Muslime oder Christen, nicht Rechte oder Linke. In jeder Familie der Welt gibt es die gleichen Probleme, und, was noch verwunderlicher ist, die gleichen Lösungen. Mein Vorfahr kam aus demselben Grund aus der Wallonie nach Deutschland, aus dem mein Freund aus Eritrea hierher kam. Aus wieder dem gleichen Grund gingen Verwandte von mir nach Amerika, andere Eritreer nach Israel, Israelis nach Berlin, obwohl das einst die Hauptstadt des Rassismus und der Mörder war. Auch die Siebenbürger Sachsen gingen und kamen. Beinahe möchte man sagen: und so weiter und so fort. Natürlich gibt es Unterschiede, aber sie sind marginal. Natürlich gibt es Fortschritt, aber er ist nicht so gigantisch wie die Anhänger von Hegel glaubten oder jedenfalls an die Häuserwände schrieben. Leider wird auch jeder noch so kleine Fortschritt immer wieder durch Krieg und Autoritarismus zunichte gemacht. Und das findet sich dann in der vom Unglück verfolgten Familie wieder, auch in dieser Theaterfamilie. Das Bühnenbild zeigt sowohl die Vereinzelung in den sechs Kabinen. Sie sind zwar mit Mikrofonen ausgerüstet, aber die helfen nicht gegen Schwerhörig- und Hartherzigkeit. Demgegenüber bleiben die Koffer zwar benannt, aber beweglich.

Wenn wir nach einem Sinn für unser Leben suchen, so werden wir ihn nicht in unserer Herkunft finden, so edel sie uns auch beschrieben worden sein mag und wie heroisch unsere Ahnen auch auf den Fotos winken mögen. Der Sinn findet sich, wenn überhaupt, in der über uns selbst hinauswachsenden Tat. Und der Markt für Taten ist groß und überall.      

*ATEMSCHAUKEL von Herta Müller aus Niţchidorf (ehemals Nitzkydorf) im Banat

**NATHAN DER WEISE von Gotthold Ephraim Lessing aus Kamenz in Sorbien

SCHWEDTER PERSPEKTIVE

Es ist bitter kalt an diesem vorweihnachtlichen Tag in der Kleinstadt Schwedt. Nebelschwaden und ein aufkommender Schneesturm verbreiten eine Stimmung wie auf der Bühne von Macbeth. Im Dunst der kriegszerstörten Katharinenkirche – sei sie nun koptisch, orthodox, katholisch, anglikanisch, lutherisch, protestantisch, evangelisch, calvinistisch-hugenottisch, reformiert, altlutherisch, pietistisch, neuapostolisch, adventistisch, baptistisch, bibelforscherisch, scientologisch oder evangelikal – erwartet man eher die Hexen, die Macbeth eine üble Zukunft voraussagen. Das Damoklesschwert möglicherweise bitterer Entscheidungen hängt auch über der kleinen Stadt mit ihrer kaleidoskopischen Vergangenheit: Germanen, Slawen – daher der Name: swet heißt Licht -, deutsche Besiedlung und Christianisierung, dreißigjähriger Krieg, Gustav II. Adolf, der Kriegsgott, der nirgendwo fehlen darf, die brandenburgisch-preußische Nebenlinie als Markgrafen von Brandenburg-Schwedt, für die Bach seine Brandenburgischen Konzerte schrieb, die Garnison, die Juden, die Hugenotten und schließlich die Pipeline, die über 5327 Kilometer Öl aus Sibirien nach Deutschland bringt. Die Pipeline brauchte ein Stadt, die von Selman Selmanagić im Widerstreit mit Walter Ulbricht geplant und erbaut wurde. Alle Diktatoren halten sich kraft ihres Scheinerfolgs und kraft ihrer Pseudoideologie für allwissend und allvermögend, wie auch Ulbricht. So kam es, dass in Schwedt eine Stadt ohne Schulen, ohne Einkaufszentren, ohne Läden und Arztpraxen entstand. Die angeworbenen Menschen waren trotzdem zufrieden, weil sich ihr Leben, sie kamen aus zerfallenden Altstädten mit Kriegsruinen, deutlich verbessert hat. Später wurde die Infrastruktur nachgebessert, die Stadt verlor aber nie ihre steppenartige Weite. Fast nebenbei entwickelte sich eine neue Bourgeoisie, die stolz ihr Kulturhaus (1978), das heutige Theater, und ihr Klinikum (1973) verwaltete.

Im Schwedter Blickwinkel erschießt Woyzeck seine Peiniger. Es ist die ultralinke Schielweise, die sich nicht mehr von der ultrarechten Blindheit unterscheiden lässt. Woyzeck war Soldat, ist traumatisiert, arbeitet für einen Hauptmann, den der Krieg entstellte, und für einen Arzt, der angesichts all des Elends dieser Welt sein Heil in der Wissenschaft sucht. Er testet an Woyzeck neue Ernährungen, die alle mehr als satt machen sollen. Sie erzeugen aber nicht nur schizophrene Schübe, sondern auch Muskelatrophie. Weder dem Arzt noch dem Hauptmann ist das Dilemma der Eliten bewusst: sie verachten, die sie führen sollten. Aber auch Woyzeck versteht nicht, dass er ohne die Eliten, so zynisch sie auch sein mögen, nicht leben kann. Und er will besser leben: er spart für die geplante und dann so gründlich gescheiterte Idylle, sein Leben mit Marie und dem Kind. Marie aber sieht in einer Gesellschaft ohne soziale Durchlässigkeit nur einen Weg nach oben: sich mit dem Tambourmajor einzulassen, der ein Mann wie eine fleischgewordene Idealskulptur und aus einer weit höheren Hemisphäre zu sein scheint.

Das Beseitigen der Peiniger erscheint gerecht, wenn man im genialen Büchner nur den Verfasser von ‚FRIEDE DEN HÜTTEN! KRIEG DEN PALÄSTEN!‘, des Hessischen Landboten also, sieht. Aber Büchner kannte auch die Alternativen. In Gießen hatte er Justus Liebig kennenglernt, vielleicht mit ihm über dessen Ansatz des ESSEN FÜR ALLE HEISST FRIEDEN FÜR ALLE geredet. Der gutartig revolutionäre Brühwürfel löst die Probleme der bösen Welt.  Das tödliche Erbsenexperiment des bornierten Arztes, der nicht Liebig ist, spricht dafür. Büchner wusste aber auch: ‚Jeder Mensch ist ein Abgrund‘ [Woyzeck] und er fragte ‚was ist es, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet‘ [Dantons Tod]. Kurzum, Büchner erkannte: aus allein einem Grund ist die Welt nicht zu verstehen und zu verändern. Wenn man das berücksichtigt, erscheint das Beseitigen der Peiniger als bloße Rache, als erneutes Recht des Stärkeren, des nun erstarkten Schwächeren, als bloße Umkehr. Die Welt wird sich nicht bessern, wenn wir uns verschlechtern. 

Indessen taucht im Nebel der Katharinenkirche eine Glühweinbude auf, vor der ein einziger Mensch steht, und in der eine einzige Menschin Glühwein und Tee anbietet. Der Platz und die Straße sind ansonsten menschenleer. Wie vom Erdboden verschluckt ist das Volk, das doch Weihnachten feiern und die Regierung hinwegfegen will. Wir nähern uns beinahe ängstlich, so einsam und gespenstisch ist die Szene. Wir hätten uns nicht gewundert, wenn eine der drei Macbeth-Hexen uns zugerufen hätte: fair is foul and foul is fair, auch durchaus passend zur Fußballweltmeisterschaft im Land der himmelschreienden Gerechtigkeit. 

Indessen ruft der alte Mann in brutalem Sächsisch, das er sich über sechzig Jahre Schwedt erhalten konnte,  dass die Grünlinge gerade dabei wären, die Erdölraffinerie zu zerstören und zu verramschen. Ich will zu einem heftigen Schlagabtausch ausholen, als um die Ecke, aus der Vierradener Straße ein kleines Häuflein kommt, angeführt von einem Trommler, so wie früher. Sie halten Schilder und Fahnen hoch, darunter die russische und die des deutschen Kaiserreichs. Und sie skandieren, von ihrer Trommel und ihrem Gleichschritt geführt: WIR SIND DAS VOLK UND WIR WOLLEN, DASS KEIN GESETZ SEI!* Ein Fenster öffnet sich und eine dicke Frau ruft wutentbrannt:  Puppen seid ihr, von ungewollten Gewalten am Draht gezogen.* Das Volk, sagt die Frau in der Glühweinbude, das Volk amüsiert sich im Konsumtempel, in der Kaufrauschkathedrale, im Odercenter und genießt dort die Sonderangebote und Rabattverseuchungen. Das Gespenst, das hier umgeht, ist die Dummheit in ihrer Giervariante. Man folgt dem einfachsten Argument: wem nützt es. Aber man kommt nur weiter, wenn man die Antwort manipuliert und fantasiert und beliebig die Amerikaner, die Russen oder gar die Juden einsetzt, hier, wo es sogar eine Jüdenstraße und eine Veit-Harlan-Straße, benannt nach einem Kaufmannsgeschlecht, gibt. Die Schließung der Raffinerie und Beseitigung der Peiniger nützt wahrscheinlich niemandem, vielleicht der Natur noch am meisten. Vielmehr schadet sich der Verursacher wahrscheinlich selbst am meisten. Wir sollten das besser wissen, waren doch unsere Vorfahren auch solche Verursacher von Leid und Pein: ‚Was ist es, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?‘ Ich frage die Frau in der Glühweinbude, wie sie in die Glühweinbude geraten ist. Sie lacht und sagt, dass sie in einer Bürgerkulturinitiative wirkt, eigentlich Ärztin sei und nun in einer Mischung aus Langeweile und Gutestunwollen hier stehe und nicht anders könne. Wir reden, sagt sie, mehr über die Zukunft als über die Vergangenheit. Wir glauben: MACH, WAS DICH KAPUTT MACHT, GANZ. Das ist die einfache Umkehrung einer allzu einfachen ultralinksrechten Losung von Woyzeck und Rio Reiser, die sich beim Rasieren trafen und dabei zur Trommel sangen: Mach kaputt, was dich kaputt macht. Sie merkten nicht, dass das nur die Kehrseite von bis alles in Scherben fällt** ist  

Im Theater hingegen ist die letzte Szene, das Finale, herangereift. Marie ist wieder auferstanden. Sie meuchelt nun ihrerseits Woyzeck, um es eine Sekunde später zu bereuen. Zu sehr ist der moderne Mensch, sind wir, daran gewöhnt, canceln zu können, zurückzuspulen, zu resetten. Alle träumen vom großen Reset. Wer hat nicht alles den neuen Menschen erfunden oder erfinden wollen, statt die Welt wenigstens ein My zu verbessern. Der ‚neue Mensch‘ war immer nur Rechtfertigung für die Beseitigung des alten Menschen. Man kann sich Menschen und Welten nicht aussuchen. Aber die Stolpersteine zeigen, dass man Menschen, unsere Schwestern und Brüder, auch nicht beseitigen kann. Die Namen haben sich eingebrannt. Ihr Erbe steht zwischen ihnen und uns: die gestohlenen Möbel, das Zahngold und die Asche.   

 *Dantons Tod von Georg Büchner

**Nazi-Lied von Hans Baumann ‚Es zittern die  morschen Knochen

17. Dezember 2022