DAS IST ES. MIGRANTEN SIND WIR SELBER.

 

Nr. 370

Die ältesten überlieferten Geschichten erzählen von Zwist, Neid, Hader und Brudermord. Aber diese Geschichten sind keine Zustandsberichte, keine Soziologie des Altertums, sondern sie sind Warnungen. Dem Verfasser einer dieser alten Warngeschichten fiel auf, dass wir, wenn man seine Geschichte wörtlich nähme, alle von Kain, dem Brudermörder und Stammvater des Neids, abstammten. Also bekamen Eva und Adam noch einen Sohn, Seth. Wenn wir alle von Neid und Bruderzwist zerfressen wären, wären wir schon längst ausgestorben. Sollten wir aussterben, dann nicht am Bruderstreit, sondern an unserer schamlosen Ausbeutung der Natur. Es wird ihr, seit wir nicht mehr hungern,  mehr entnommen als zurückgegeben. Das ist kein guter Deal.

Die menschlichen Beziehungen dagegen scheinen nur subjektiv enttäuschend zu sein, was tatsächlich eine Quelle der Kunst ist, der subjektivsten Art der Weltbetrachtung. Objektiv betrachtet – soweit das überhaupt geht -, jedenfalls in der Bilanz aller Bilanzen, soweit sie erkennbar ist, muss die Solidarität den Hass überwogen haben.

Wenn aber nun alle Feldzüge, die nach Meinung der Konservativen notwendig und allgegenwärtig, sogar der Vater aller Dinge wären und in der Natur des Menschen lägen, die dem Landerwerb oder der Landverteidigung dienten, nichts als verkürzte, komprimierte und militarisierte Migrationen wären? Dann würde die Migration aus dieser Sicht vom Makel befreit sein. Denn immer noch steht in fast jedem Dorf und in fast jeder Stadt ein Obelisk mit der Aufschrift, dass diese militarisierte Wanderung mit Gottes ausdrücklichem Segen stattfand. Im ersten Europakrieg wurden von hunderttausenden Soldaten tausende von Kilometern hin- und zurückgelegt und dabei zwei Dutzend Millionen Menschen umgebracht.  Das war nicht nur kein gutes Beispiel für Sesshaftigkeit und Lebensraum, es hatte auch nichts mit Treue, Nation und Religion zu tun. Es ging nur um Geld und Abschlachten. Zum Schluss dieses verheerenden und totalen Krieges trafen sich die Fürsten Europas in Münster und Osnabrück und schlossen das erste europäische Vertragswerk. Nicht der Krieg war also notwendig, sondern eine neue Ordnung, und die ist nicht durch den Krieg erreicht worden, sondern durch den Westfälischen Frieden.

Was aber sind die unbewaffneten Völkerwanderungen? Können sie nicht die Folge zu stringenter Ordnungen sein, die dann zum Krieg oder zum Ausweichen ganzer Bevölkerungsgruppen führen? Die Hamelner Rattenfängerlegende und vorher der Kinderkreuzzug können Hinweise auf gezielte Migration überzähliger Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall von Kindern und Jugendlichen sein. Aber auch sonst weisen Migranten eine Reihe gemeinsamer Merkmale, wie Flexibilität, Resilienz und eine große eidetische Bewahrkraft,  auf. Nicht unbedingt eine überdurchschnittliche Intelligenz oder eine hohe Berufsqualifikation, sondern eine – auch sprachlich-mental – besondere Anpassungsfähigkeit und -willigkeit. Eine schleichende Invasion völlig feindlicher Kräfte zur Unterwanderung einer alten Kultur, wie sie AfD und andere rechte Gruppierungen besonders seit Sarrazins unseligem Buch von 2010 und seit 2015 immer wieder beschworen haben, ist schon von daher Unsinn. Sarrazin geht einerseits von einer Übernahme durch Fertilität, andererseits aber von der genetischen Unfähigkeit muslimischer Einwanderer durch Inzucht aus. Eine ähnliche Ungereimtheit trat dann gleich zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise aus, indem einerseits den Flüchtlingen unterstellt wurde, dass sie weder arbeiten könnten noch wollten (‚make the lazy nigger working‘), sie aber andererseits und enigmatischerweise eine direkte Bedrohung für die Arbeitsplätze der autochthonen Bevölkerung wären.Inzwischen hat die Rechte ohnehin die Gefahr aus dem Islam zugunsten der afrikanischen Invasion fallengelassen.

Auch das Ausweichen vor Hungersnöten, wie zum Beispiel die irische und deutsche Auswanderung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, fällt in diese Kategorie, denn spätestens seit Friedrich II. wissen wir, dass der Staat sehr wohl, auch vorausschauend, für seine Untertanen sorgen kann und muss, nicht nur für die bewaffneten.

Der Kulturaustausch in Kriegszeiten wird fast immer im wesentlichen auf der Vergewaltigung und Zerstörung menschlicher, wirtschaftlicher und baulicher Existenzen beruhen. Trotzdem lässt sich nicht bestreiten – auch wenn das den Vorwurf des Zynismus einbringt -, dass alle Konzepte oder auch nur Vorstellungen von nationaler oder ethnischer Reinheit eben durch die Angreifer und immer ad absurdum geführt werden. Es gibt sie nicht. Wo Menschen aufeinandertreffen, ob im Guten oder Bösen, tauschen sie Gene und Geist, Erfahrungen und sogar auch Traditionen aus. Deshalb flüchten alle segregationistischen Modelle, alle erzkonservativen Ordnungen, alle Mauerbauer und Intelligenzverwalter zum Schluss immer in biologistische Wahnvorstellungen: es ist eben so. Durch Segregationsschübe kommt es immer wieder auch zu Liberalisierungen. Da aber die Bildung weltweit zunimmt, haben autokratische Systeme und segregationistische Modelle immer weniger Chancen sich durchzusetzen, wenn sie es auch auch wieder und wieder, wie eben jetzt, versuchen.

Auf die Frage, ist aber zum kulturellen Austausch Migration zwingend erforderlich, kann man leicht antworten: nein, wahrscheinlich nicht, es reichen auch Kriege. Gemessen an den wirklich großen Kriegen, gibt es immer weniger und immer kleinere Kriege. Da wir heute viel mehr über Gerechtigkeit wissen und nachdenken, da wir viel mehr von der Opferperspektive ausgehen, finden wir solche asymmetrischen Kriegen wie den saudisch unterstützen Bürgerkrieg im Jemen oder den syrischen Stellvertreterkrieg unerträglich. Das war früher, als es immer wieder auch große Kriege gab, ganz anders. Goethe hat das in der Osterszene im Faust I mit sprichwörtlich gewordener Präzision beschrieben. Empathie ist ein Ergebnis der Demokratie, der Bildung und des Wohlstands.

Zwar ist die Berliner Mauer wahrscheinlich die einzige Sicherung eines rigiden Staatssystems nach innen, aber sie ist – vom Jubiläum ihres Falls ganz abgesehen – hervorrragend geeignet zu zeigen, dass alle natürlichen und anscheinend auch alle sozialen Systeme Osmose als Grundprinzip haben. Andersherum gesagt: es gibt keine Undurchlässigkeit. Die Berliner Mauer hatte ihren Höhepunkt vielleicht 1976, also fast genau in der Mitte ihrer Existenz, als Gartenschläger durch Abbau von Selbstschussanlagen nachwies, dass die Mauer selbst, ohne Hunde und diese Schießautomaten, hochdurchlässig war. Er musste es mit dem Leben bezahlen, aber die DDR-Regierung musste die Anlagen, die übrigens ein SS-Ingenieur für die KZ erfunden hatte, abbauen. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon das Mauermuseum am Checkpoint Charlie, das bis heute die verlogene Großspurigkeit der DDR-Führung und die Großporigkeit der Mauer zeigt. Nach Berlin kommen jährlich mehr als dreißig Millionen Menschen, wahrscheinlich sehen sie sich alle die Reste der porösen Mauer an und wissen, dass so etwas nicht funktioniert. ‚Je kompakter die Ordnung, desto aggressiver die Entropie,‘ sagt der polyglott-philosophische Reiseführer afrikanisch-jamaicanischer Herkunft, ‚die Definition ist der Grund der Spaltung.‘ Aber da wendeten sich schon viele Touristen der Currywurst zu.

 

‚Das ist es. Deutschland, das sind wir selber. Und darum wurde ich plötzlich so matt und krank beim Anblick jener Auswanderer, jener großen Blutströme, die aus den Wunden des Vaterlandes rinnen und sich in den afrikanischen Sand verlieren.‘ 

Heinrich Heine, Vorrede zum ersten Band des ‚Salon‘, Werke, Band 12, S. 21, Leipzig 1884       

ISLAMISIERUNG ODER ANTIISLAMISIERUNG

 

Usurpiert der Islam Europa oder der Wohlstand den Islam?

 

Nr. 290

 

Nicht vom schlichten Kopftuch geht eine Gefahr aus, sondern von der der Burka des Rassismus, die sich eine winzige, aber lautstarke Minderheit freiwillig über die Ohren zieht, um nichts mehr aus der der Geschichte und der Gegenwart zu hören und zu lernen. Die Geschichte solcher Wörter ist absurd: einst wurde vor der ‚Verkafferung‘ gewarnt und der angeblich drohenden ‚Verjudung‘ wurde mit der Ermordung von 6 Millionen Menschen begegnet. Nur lässt sich die Globalisierung nicht aufhalten. Sie begann 1444 mit dem ersten Zwangsimport von Menschen aus Afrika als Ware und sie hat ihren vorläufigen Höhepunkt in der Erfindung und flächendeckenden Verbreitung des Smartphone gefunden. Und dagegen läuft eine Handvoll verwirrter Menschen Sturm und fordert das Ende der vermeintlichen Merkelherrschaft, um der befürchteten Islamisierung zu entgehen.

Die letzte stabile Herrschaft einer islamischen Macht war das Osmanische Reich. Nachdem es zweimal versucht hatte, Europa zu erobern, gab es sich mit einer bis auf den Balkan vorgeschobenen Grenze zwangsläufig zufrieden. Hierzulande wird aber weniger realisiert, dass das Osmanische Reich weite Teile Nordafrikas, das gesamte Arabien, den Nahen Osten einschließlich Palästinas umfasste. Seit Selim I., 1517, waren die osmanischen Sultane auch die Kalifen, also die obersten Würdenträger des Islam. Mit Selims Sohn Süleyman, der in Europa ‚der Prächtige, in der Türkei aber ‚der Gesetzgeber‘ genannt wird, weil er, wie später Mustafa Kemal Atatürk, ein durchaus chaotisches Staatswesen nach europäischem Vorbild juristisch kodifizierte, mit diesem Süleyman war der Höhepunkt osmanischer und damit islamischer Herrschaft erreicht und überschritten. Ein jahrhundertelanger Niedergang begann, der mit der Niederlage im ersten Weltkrieg und der Flucht des letzten Sultans Mehmet VI. Vahdet endete. Lange Zeit konnte man glauben, dass Saudi Arabien, welches auch die religiöse Rolle von den Osmanen übernommen hat, stabil und großmächtig sei, aber es zeigt sich nun, dass die allein auf endlichem Öl und religiöser Repression beruhende Herrschaft einer einzigen Familie nicht segensreich war und ist. Ob die Reformversuche von Kronprinz Mohamed bin Salman zu einem guten Ende führen, darf schon allein wegen des zuende gehenden Geldes bezweifelt werden. Es gibt kein Beispiel in der Geschichte, dass ein repressives System erfolgreich war, es sei denn kurze Zeit. Der Islam besitzt also gegenwärtig nirgendwo ein auch nur annähernd wirtschaftlich oder politische stabiles System, von dem eine Gewalt oder auch nur Kraft ausgehen könnte, die stabile Staaten oder gar Staatenbünde gefährden könnte.

Immer wieder wird vorgebracht, dass der Islam eine aggressive Seite hätte, auf die sich Terroristen bequem berufen und sogar stützen könnten. Allerdings sind auch das Christentum, der Marxismus, der Konservatismus, eigentlich alle denkbaren Ideologien für die Begründung von Terrorismus gebraucht oder besser missbraucht worden. Der Anarchismus des neunzehnten Jahrhunderts trachtete allen Monarchen nach dem Leben. Berlin verdankt diesem Terrorismus einige sehr schöne Kirchen, weil der sowohl selbst gewalttätige (‚Kartätschenprinz‘) und merkwürdigerweise gleichzeitig fromme Kaiser Wilhelm I. jedesmal, wenn er einem Attentat entkam, eine Kirche stiftete. Die verbrecherische RAF mordete und glaubte gleichzeitig, damit die Menschheit von der Ausbeutung zu befreien und das Volk zum großen Aufstand zu bewegen. Nichts dergleichen trat ein, nur Ströme von Blut flossen. Rechter Ideologie folgende Verbrecher ermordeten zunächst Einzelpersonen (Erzberger, Rathenau, Feme gegenüber den eigenen Leuten). Schließlich, auch hier ringen viele Menschen um die erfolgreiche Verdrängung, tobte es rechtes Mordtrio durch Deutschland und das Vorurteil sah darin Ausländerkriminalität, die sie Dönermorde nannte. Christen waren es, die den Ku-Klux-Klan dreimal gründeten, seit dem zweiten Mal mit ausdrücklich christlichen Symbolen, demselben Kreuz, das Bayerns Ministerpräsident Söder nun  in alle Ämter hängen will, das, wenn es könnte, aber lieber von der Wand fiele, wie sein Kontrahent, der Studentenpfarrer Hose meint. Religiöse Symbole und Zitate wurden und werden missbraucht.

Die Säkularisierung ist ein Prozess, der mehrere Quellen hat, nicht etwa nur die Aufklärung. Die Aufklärung hat sich ja nicht von heute auf morgen verbreitet, sondern in den letzten zweihundert Jahren. Und trotz der Aufklärung glauben heute noch sehr viele Menschen, dass es ein Recht des Stärkeren gibt. Rousseau ist schon 240 Jahre lang tot. Als er noch lebte, praktizierten seine Zeitgenossen gerade den Höhepunkt des Sklavenhandels, Hinrichtungen wurden als öffentliche Spektakel zelebriert, Kriege wurden geführt, Kreuze in Amtsstuben aufgehängt, die meisten Menschen blieben Analphabeten. Diese Aufklärung hat in zweihundert Jahren langsam zu einer Verbesserung der Verhältnisse geführt. Genauso wirkte aber die ebenfalls zweihundert Jahre währende Bekämpfung des Hungers. Zuletzt war es der zweite Weltkrieg, der in Europa zu einer Hungersnot führte, der aber mit care-Paketen, russischem Brot und dem Verzicht auf Rache entgegengewirkt wurde. Und ebenfalls erst nach dem letzten Krieg in Europa konnte sich als dritter Bestandteil die Demokratie festsetzen. Heute betonen sogar links- und rechtsextreme Splittergruppen ihre demokratische Basis. Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren, Aufklärung, Wohlstand und Demokratie, haben aus Europa und Nordamerika gigantische Wirtschaftsmächte gemacht, die, selbst wenn sie sich auflösen sollten, dazu länger brauchten als das römische und das osmanische Reich zusammen. Gleichzeitig können sie auf die zusätzliche Stützung durch die Religion verzichten. Immer weniger Menschen gehen regelmäßig in die Kirchen, umgekehrt gelingt es den Kirchen nicht, eine neue Rolle für sich zu erschließen.

Wer den Niedergang der DDR oder eines anderen Ostblocklandes von innen beobachtete, bei dem ist eine gewisse Ängstlichkeit verständlich, aber die DDR war von vornherein ein fragiles, dem Untergang geweihtes System, das erst durch die Sowjetunion, dann durch die Bundesrepublik gestützt wurde. Analogien können immer nur  gleichgeartete Systeme beschreiben.

Diese äußerst wirtschaftlich und politisch stabilisierte Macht soll nun von Menschen usurpiert werden, die die Basis ihrer Existenz, ihr Herkunftsland, ihre Muttersprache, ihre vertraute Umgebung verlassen haben. Selbst wenn sie dort fundamentalistisch gewesen wären, müssten sie sich hier um ihr neues Leben kümmern. Bei aller Kritik am HARTZ IV-System wird immer vergessen, dass es ein bürokratisch in beide Richtungen totales Gebilde ist: es umfasst das ganze Leben, man braucht aber auch das ganze Leben, um es zu nutzen und aufrecht zu erhalten. Die Leistungen werden nur gewährt, wenn immer wieder Anträge und Folgeanträge gestellt werden. Eine umfangreiche Präsenzpflicht gehört ebenso dazu wie die ständige Angst vor Umschulungen und Zwangseinsätzen. Trotzdem gibt es Kriminelle, deren Mütter die Anträge ausfüllen.

Kriminalität ist bei uns zum Glück nicht das Hauptproblem. Sie ist auch in den letzten beiden Jahren gesunken, wie schon die letzten beiden Jahrzehnte. Wer zudem glaubt, dass in hierzulande Mord und Totschlag herrschten, auch diese beiden Delikte gehen tatsächlich zurück, der sollte sich mit diesem schrecklichen Pfleger beschäftigen, der über 100 Menschen umbrachte, weil unser Pflegesystem offensichtlich überfordert ist. Wenn wir unsere Kraft lieber in die Lösung dieses furchtbaren Mangels und Problems stecken würden, als in die Abwehr einer unsinnigen Angst vor höchst unwahrscheinlichen Ereignissen, die fast jeder Grundlage entbehrt. Ganz sicher geht die Wirkung aller Religionen zurück. Starke Religionen gab und gibt es nur dort, wo sie gleichzeitig von staatlicher Macht gestützt werden und diese stützen. Es gibt keine Anzeichen für eine Rückkehr, schon gar keine, die von den völlig zerstrittenen, um ihre eigenen Grundlagen ringenden Religionsgemeinschaften selbst ausgehen könnte. Wenn jemand wirklich an Gott glaubt, dann braucht er dazu keine institutionelle Macht und keinen Staat, keine Kippa, kein Kreuz und kein Kopftuch, keine Metapher von Gott als Burg oder Berg, dann sieht er plötzlich alle Menschen als Brüder und Schwestern, und er merkt, das müssen Mose, Yesus, Buddha, Mohammed, Gandhi und Luther King gemeint haben:  do as you would be done by.