CUI BONO?

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Im Sommer 1967, zwischen dem Sechs-Tage-Krieg und meiner Armeezeit, arbeitete ich in der Berliner Stadtbibliothek als Magazinarbeiter. Der Sechs-Tage-Krieg fiel mit unserem Abitur zusammen. Ich wollte unbedingt noch etwas Geld verdienen. Der eigentliche Gewinn dieser schönen, drei Monate währenden Arbeit, lag aber darin, dass ich jeden Tag ein Buch las, denn zu den Pausen kam, als unverhoffte Lesezeit, die durch den Mauerbau höchst umständliche S-Bahn-Fahrt mit dem Berliner Außenring. Eines Tage lautete ein außerplanmäßiger Auftrag, Bücher aus dem benachbarten Staatsratsgebäude und dem wenige Meter weiter befindlichen ZK der SED zu holen. Unter Bewachung schwerbewaffneter MfS*-Soldaten fuhren wir mit unserm Wägelchen auf dem breiten Bürgersteig und über die Breite Straße in Ostberlins Mitte. Das Staatsratsgebäude gab es erst seit drei Jahren, während das ZK-Gebäude eine ebenfalls kurze, aber doch schon sehr bewegte Geschichte hinter sich hatte. Es wurde als Erweiterungsbau der Reichsbank geplant und gebaut. Um den Architekturwettbewerb rankt sich die Legende, dass ihn Hitler selbst zuungunsten der weltberühmten Architekten um Gropius, Mies van der Rohe und Hans Poelzig entschieden hatte. Auf der konservativen Seite bewarb sich Heinrich Tessenow aus Neubrandenburg. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Kompromisskandidat, der Hausarchitekt der Reichsbank, Heinrich Wolff, sich mit seinem Kompromissvorschlag der gemäßigten Moderne durchsetzte. Zur Grundsteinlegung mit Hitler kamen 6000 geladene Gäste. Legendär waren (oder sind?) die flutbaren Tunnelsysteme unter und neben dem Gebäude, die der Sicherung der Gold- und Geldreserven dienen sollten. Erst 1959 zog in das Haus am Werderschen Markt, den es gar nicht mehr gibt, das Zentralkomitee der SED ein. Um den Sitzungssaal seines Politbüros, der eigentlichen Machtzentrale der DDR, ist nun ein absurder Streit entstanden. Vielleicht hat der erste in diesem Haus residierende gesamtdeutsche Außenminister, Klaus Kinkel, FDP, vorgeschlagen, diesen weiter als Sitzungssaal genutzten Raum nach dem Gründer des Auswärtigen Amtes, Bismarck, zu benennen.  Die jetzige Ministerin, Annalena Baerbock von den Grünen, hat ihn in Saal der deutschen Einheit umbenannt, vielleicht in Erinnerung, dass er einst Saal der deutschen Zweiheit war. Die rechte Grünenschelte macht nun daraus eine Abkehr vom Gesamterbe. Weder der Saal noch das Gebäude hat irgendetwas mit Bismarck zu tun. Es gibt in Deutschland rund 500 Bismarckdenkmäler und 150 Bismarcktürme. Der Bismarckturm in Frankfurt an der Oder wurde 1945 von der Wehrmacht gesprengt, während der Bismarckturm auf der Porta Westfalica hoch über der Autobahn A2 thront, wie jeder weiß. Um das Erbe Bismarcks muss sich also niemand Sorgen machen, zumal die von ihm begründeten Sozialversicherungen ein absolutes Markenzeichen Deutschlands sind. Jeder Sozialkundelehrer betont und erklärt das unzählige Male.  Diese Würdigung als Schöpfer eines Sozialsicherungssystems ist aus heutiger Sicht mehr wert als weitere Denkmäler, Türme und Säle. Allerdings hat Bismarck noch eine zweite bemerkenswerte, jedoch dunkle Seite: das Sozialistengesetz, beide sind eng verflochten. Dabei geht es nicht um die Sozialdemokratie, die sogar gestärkt aus der Unterdrückung hervorging, sondern um die Unterdrückung als Instrument autoritärer Herrschaft. Obwohl Bismarck die Katholiken im von ihm entfachten Kulturkampf als seine Feinde betrachtete, übernahm er den autokratischen Grundsatz von Papst Pius IX.: Wenn sich jemand — was Gott verhüte — herausnehmen sollte, dieser unserer endgültigen Entscheidung zu widersprechen, so sei er ausgeschlossen. Die Exkommunikation ist seither – auch in ihrer passiven Form als Migration – ein beliebtes Mittel aller Autokraten. Wir erinnern uns noch an den berüchtigten Satz Erich Honeckers, wahrscheinlich in diesem Gebäude, vielleicht sogar in diesem Saal formuliert, aus dem Jahr 1989: Wir weinen ihnen keine Träne nach. Ähnlich äußerte sich auch der eritreische Diktator Isaias Afwerki angesichts des Massenexodus von mehr als einer Million junger Menschen aus seinem winzigen und bettelarmen Land.

Kein Mensch und kein Geschehen hat nur eine Seite. Früher nahm man die beiden Seiten von Münzen als Metapher dafür, heute wissen wir, dass auch Münzen eher tausend als nur zwei Seiten haben.  So ist es auch mit dem von vielen Menschen zurecht verehrten Preußenkönig Friedrich II. Er brachte die Aufklärung und die Kartoffel, aber auch Kriege und Hegemonialstreben. Aus seiner gegen absolutistische Autokraten gerichteten Schrift Anti-Machiavell zitieren wir gerne den Satz, dass der König der erste Diener seines Staates sein soll. Darin steht aber auch, dass Politiker gerne glauben machen wollen, dass Politik und Moral unvereinbar und demzufolge List, Verrat und Eidbruch erlaubt seien.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, Spross eines Professorenehepaars, studierte ordentlich Jura, um dann aber Schauspieler, Komödiant, Komiker, comedian zu werden. Den größten Erfolg hatte er mit der Hauptrolle in der Seifenoper Слуга народу, zu Deutsch: Diener des Volkes. Darin spielt er einen Geschichtslehrer, der sich über die Verlogenheit und Korruption in seinem Land aufregt und dabei unversehens zum Präsidenten wird, der gegen die Verlogenheit und die Korruption ankämpft und sich damit in die Herzen seines Volkes dient. Kurze Zeit darauf hat sich Selenskyj tatsächlich als Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen und hat mit über siebzig Prozent gegen den staunend-verzweifelnden Amtsinhaber Poroschenko gewonnen. Seither kämpft er gegen Verlogenheit und Korruption und wird immer beliebter, weil kompetenter. Allerdings muss man auch sehen, dass vor knapp einem Jahr der Ukrainekrieg Russlands in seine heiße Phase einstieg und sich hier Selenskyjs Führungsqualitäten erst richtig entfalten konnten. Legendär ist seine Antwort auf US-Präsident Bidens Angebot, ihn aus Kyjiv** ausfliegen zu lassen: I need ammunition, not a ride.  Über die Umkehrung des Verhältnisses von Politiker und Imitator haben wir schon zweimal in Bezug auf Chaplin und Hitler geschrieben. Allgemein wird angenommen, dass der Film Der große Diktator, in dem Chaplin sowohl den jüdischen Friseur im Ghetto als auch den Diktator Hynkel spielt, eine Hitlerparodie sei. Das ist der Film auch sicher und grandios. Aber es gilt auch das umgekehrte: der kinobegeisterte arbeits- und obdachlose Hitler sah den Tramp oft im Kino und nahm ihn sich zum Vorbild. Er wollte der einfache, unbedarfte Mann aus dem Volk sein, der erst vom Pech verfolgt, dann aber ein Diener des Volkes wird. Statt dessen hat er aber die Komikerstaffage als Tarnung seines durch List, Verrat und Wortbruch gekennzeichneten Politikstils übernommen.

Das ist auch Putins Politikstil. Und auch er stammt aus einer Fernsehserie: sein Vorbild ist der fiktive KGB-Agent Max Otto von Stierlitz alias Wsewolod Wladimirowitsch Wladimirow. Der Zusammenhang zwischen Putin und dieser sowjetischen Kultfernsehfigur der siebziger Jahre wird am besten durch einen Witz aus dieser Serie charakterisiert: In Hitlers Bunker kommt ein Mann und schenkt Tee ein, Hitler fragt Gestapochef Schellenberg, wer das war, Schellenberg antwortet, das war Stierlitz aus meiner Abteilung, in Wirklichkeit ist er aber ein russischer Agent: Oberst Issajew, Hitler fragt: und warum verhaften Sie ihn dann nicht? Schellenberg antwortet: das bringt nichts, er wird sich herauswinden und sagen, er hätte nur Tee gebracht.  

Putin hat das anhand des von ihm erfundenen Bedrohungsszenarios durch die NATO vorgeführt. Der einstige US-Außenminister James Baker (unter Präsident Bush senior) hat tatsächlich während der Deutschland-Verhandlungen 1990 gesagt, dass sich die NATO keinen inch nach Osten bewegen wird. Aber: da existierte der Warschauer Pakt noch fast zwei Jahre und niemand hat auf diese Bemerkung geachtet und sie ist nirgendwo verhandelt oder in Verträge aufgenommen worden. Nachdem sich der Warschauer Pakt  Ende 1991 aufgelöst hatte, erinnerten sich die nun selbstständigen Staaten des ehemaligen Einflussbereichs der Sowjetunion – die es nun auch nicht mehr gab – an die fortwährende Bedrohung durch Russland, das es nun plötzlich wieder gab. Sie drängten also nach Westen unter das Dach der NATO und der EU. Das fand Putin 2004 in einer Pressekonferenz mit dem damaligen Bundeskanzler Schröder nicht problematisch, im Gegenteil, er lobte die neue Stufe der Zusammenarbeit zwischen der NATO und Russland im neugeschaffenen NATO-Russland-Rat. Des Rätsels Lösung ist also, dass der Jelzin-Nachfolger Putin weder den Zusammenbruch der Sowjetunion noch den des Warschauer Paktes hat verarbeiten können. Im Gegenteil: er spielt mit der Großmachtsehnsucht seines nicht im Wohlstand lebenden Volkes. Wohlstand braucht keinen Nationalismus. Deshalb sucht er jetzt immer wieder nach neuen Begründungen für seinen wahnsinnigen und auch erfolglosen Krieg. Er behauptet, die NATO rücke bedrohlich näher, tut aber alles, damit die NATO tatsächlich näher rückt (Schweden, Finnland).

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Keine Person, so wissen wir alle, und kein Geschehen kann aus einem einzigen Grund erklärt werden. Die berühmte Frage wem nützt es? hat auch eine berühmte Antwort der ist es gewesen!, denn sie stammen beide aus einem Strafprozess. Wem irgendetwas nützt ist ein Aspekt einer Sache, aber oft nicht der oder noch nicht einmal ein Grund. Wer also glaubt, dass, da die Gaslieferungen nun auch aus den USA kommen, die USA der Nutznießer des Krieges und demzufolge auch sein Verursacher sei, ist mindestens einer Verkürzung aufgesessen, wenn nicht einer Verschwörungstheorie, man denke an den 11. September 2001 (nine eleven). Die Frage wem nützt es? sucht nicht eine Erklärung, sondern einen Schuldigen. Trotzdem wollen wir sie einmal für die Argumentation zulassen. Dann stellt sich heraus: die Abhängigkeit Europas vom russischen Gas (zu 50%) und Erdöl (zu 30%) nützte unserer Gier nach billigen und fossilen Rohstoffen für die Energie. Der niedrige Preis ergibt sich aus unserem tief verwurzelten Glauben an das Geld. Gleichzeitig hat die billige Energie unsere gravierenden Wettbewerbsnachteile gegenüber den USA und China, zum Beispiel mangelnde Innovation, kompensieren können. Wir hingen an den fossilen Rohstoffen, weil wir nicht glauben, dass wir gerade dabei sind, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. Der Wohlstand für immer mehr Menschen hat ein enormes Wachstum der Weltbevölkerung gebracht, allein in unserer Zeit drei Verdopplungen: von zwei auf vier, von drei auf sechs und schließlich von vier auf acht Milliarden Menschen. Dieses Wachstum wird erst in der Mitte des Jahrhunderts enden, wenn – und auch nur falls – der Wohlstand so hoch ist, dass zu seinem Erhalt nicht mehr Kinder als Erwachsene notwendig sind. Die vielen Menschen können aber mit Nahrung und Energie versorgt werden, allerdings nicht durch Verbrennung und ungehinderten Ressourcenverbrauch.

Der Krieg hätte tatsächlich verhindert werden können: wenn wir das alles bei Putins Machtantritt beachtet hätten, statt dessen haben wir ihn gewähren lassen, nicht einmal aus Appeasement-Gründen, denn Georgien, Ossetien, Abchasien, Transnistrien, Tschetschenien, Donbass, Luhansk und Krim waren uns gleichgültig, sondern aus Gier und Eigennutz. Wem nützte das alles: UNS, bis das System aus Eigennutz, Gier und Unverstand zusammenbrach. Damit keine Missverständnisse aufkommen, wiederhole ich, dass der Kapitalismus zwei Seiten hat: Maximalprofit und Maximalkonsum.

Das linke Abonnement, im gesamten Ostblock war die Frage Standard,  auf die Wem nützt es?-Frage kam wohl durch den kommunistischen Medien-Guru Willi Münzenberg (‚der rote Millionär‘), der sie in seinem Braunbuch vom Reichstagsbrand nicht nur benutzte, sondern ihr die allerhöchste Priorität einräumte. Er rückte in diesem hoch verdienstvollen Braunbuch auch von der Klassenkampftheorie ab und ersetzte sie mit einem Kriminalroman über die Nazi-Führung, der wahrscheinlich ziemlich realistisch war. Im Reichstagsbrand, dem Braunbuch und dem Prozess  kann man das Ringen zweier Verschwörungstheorien nach der Wem nützt es?-Frage beobachten. Der Reichstagsbrand nützte den Nazis und er nützte den Kommunisten, und wir wissen immer noch nicht, wer den Reichstag angezündet hat. Die Beantwortung dieser Frage, wir wiederholen es, bringt selten eine Erklärung, oft aber einen Schuldigen, noch öfter einen vermeintlich Schuldigen zum Vorschein.

In der Logik kann der einseitigen Betrachtung durch die cui-bono-Frage auch mit dem Trugschluss des cum hoc ergo propter hoc widersprochen werden:  zwei Ereignisse, die gleichzeitig auftreten, müssen deshalb nicht verbunden sein, schon gar nicht kausal. Der amerikanische Soziologe David A. Baldwin hat das mit den Taxifahrern erklärt, die vom Regen profitieren, ohne für ihn verantwortlich zu sein. Mir scheint dieser immer wieder beliebte Trugschluss verwandt zu sein mit dem Scholllatourismus nach dem einst omnipräsenten Fernsehjournalisten Peter Scholl-Latour, der aus seiner Anwesenheit an einem bestimmten, meist kritischen Ort seine Kompetenz, die dortigen Ereignisse erklären zu können, herleitete. Von ihm stammen berüchtigte und auch leider langlebige Vorurteile, wie zum Beispiel das Kalkutta-Paradox oder die Ansicht, dass der Islam an sich menschenfeindlich sei. Vorurteile sind leichter zu erlangen als Urteile und halten sich länger als diese. Und obwohl Verurteilungen schon in der Bibel verurteilt werden, halten so viele Menschen an ihrer Berechtigung und scheinbaren Kompetenz dafür fest.

Warum aber kann der Krieg nicht mit UNO-Soldaten gestoppt werden? Russland hat als Siegermacht des zweiten Weltkrieges, als Signatarmacht der UNO  und als Nuklearmacht im UNO-Sicherheitsrat ein Vetorecht, das es genauso oft ge- und missbraucht hat wie die anderen vier Vetomächte. Die Gegner der Waffenlieferungen übersehen, dass diese ein traditionelles Mittel für den jeweils unterlegenen und überfallenen Kriegsteilnehmer sind. Durch Waffen- und Logistiklieferungen wurde der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg geholfen, Südkorea im Koreakrieg, Nordvietnam im Vietnamkrieg (auf dessen Gegenseite immerhin erst Frankreich und dann die USA standen), Bosnien im Jugoslawienkrieg, Kosovo im Kosovokrieg und nun der Ukraine im Ukrainekrieg.  Was ist daran nicht zu verstehen?  Russland will seine wirtschaftliche Schwäche, die es nicht eine wirkliche Großmacht sein lässt, hinter nationalistischen und kolonialistischen Großmachtfantasien verbergen. Russland ist bevölkerungsmäßig doppelt so groß wie Deutschland, hat aber ein Bruttoinlandprodukt, das nur halb so groß ist. Jeder weiß, dass es sich zu wahrscheinlich achtzig Prozent aus Rohstoff- und Lebensmittellieferungen speist. Russland ist technologisch ein Entwicklungsland. Das viele Geld, das es durch Erdöl und Gas verdient, verschwindet bei den Oligarchen oder in anderen korrupten Kanälen. Wahrscheinlich weiß das niemand. Ich erinnere an die 100 Millionen US-Dollar, die Putin zur Verfügung gestellt hatte, um in der Ukraine, vor dem Angriff, Agenten und Claqueure anzuwerben, die die russischen Truppen, unter anderen die Fliegerstaffel der Luftlandeoperation auf dem Flugplatz Kiew-Hostomel und den 60-km-Konvoi in Richtung Kiew, begrüßen sollten. Bekanntlich stand da kein einziger agent provocateur, der Flugplatz wurde nicht eingenommen, der Konvoi kam nicht an. Bis zum 23. Februar des vorigen Jahres haben wir wohl alle angenommen, dass die russische Armee, wenn schon nicht die zweitstärkste der Welt (wie in dem ukrainischen Witz, dass sie jetzt dafür die zweitstärkste in der Ukraine ist), doch eine sehr starke, große und schlagkräftige Armee sei. Nun zeigt sich, dass ihre ganze Stärke lediglich in der schieren Menge schlecht ausgebildeter Soldaten besteht. Putin droht mit Waffen, die als Prototyp bestehen mögen, von denen es aber keine in der kämpfenden Armee gibt. Dutzende Generäle sind gefallen, jeden Tag sterben geschätzt 800 Soldaten, der dritte Oberkommandierende soll jetzt das Kompetenzchaos richten, das bisher Putin genützt hat (!), nun aber dem Krieg und dem Sieg schadet. Russland wird diesen Krieg nicht gewinnen. Im schlimmsten Fall wird es auseinanderbrechen, im besten Fall kommt es zu einem Kompromiss wie nach dem Winterkrieg gegen Finnland. Wir erinnern uns, dass wir schon einmal den sowjetischen General zitiert haben, der das Ende des Winterkriegs mit folgenden Worten kommentierte: Wir haben gerade soviel Land gewonnen, dass wir unsere gefallenen Soldaten darauf beerdigen können. Schon jetzt sind der Donbass und Luhansk so weit zerbombt und geschunden, dass noch nicht einmal die Post funktioniert. Der Donbass war einst das Ruhrgebiet oder die Wallonie der Sowjetunion. Mariupol am Schwarzen Meer wurde erobert, aber es existiert nicht mehr, so wie Karthago nach dem dritten Punischen Krieg nicht mehr existierte. Wem nützt das?

Niemand weiß, wie dieser Krieg ausgehen wird, jede Seite spekuliert zu ihren Gunsten. Aber das darf niemanden hindern, kein Land und keinen Menschen, denjenigen zu helfen, die in Bedrängnis sind. Ich finde es merkwürdig, wenn ganze Theorien ausgedacht werden, warum damals Bosnien und heute die Ukraine keiner Hilfe würdig sind. Wer kann und will über Tod und Leben entscheiden?

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Wer nicht will, dass mit seinem Geld etwas getan wird, was er oder sie nicht will, muss die Partei wählen, die sein oder ihr Geld in seinem oder ihrem Sinne verwendet. Das ist sowohl ironisch gemeint als auch realistisch: die linke Partei hat in der letzten Bundestagswahl 4,9% der Wählerstimmen erhalten, die andere Alternative 10,3%. Damit kann keine der beiden Parteien regieren, wenn sie sich noch dazu so verhalten, dass die anderen Parteien mit der einen nicht koalieren können, wegen der Nähe zum Rechtsextremismus, mit der andern nicht wollen, wegen des ständigen Taktierens, Spaltens und Hetzens.

Ihren Wählern oder auch den Nichtwählern bleibt wohl nur zu schimpfen. Mit der Politikerschelte, die selbstverständlich unter die Meinungsfreiheit fällt, aber nicht produktiv ist, begann übrigens der Auflösungsprozess des Konsenses nach dem Ende des Kalten Krieges. Dem einen Politiker wird vorgeworfen, dass er nichts tut, dem anderen, dass er übereifrig ist, die eine ist inkompetent, die andere hat den falschen Beruf, der nächste verdient zu viel oder kauft zu teure Häuser, der wieder nächste verschwendet Steuergelder. Letztendlich steckt dahinter das Unbehagen an der Demokratie. Statt sich wenigstens in die Kommunalpolitik einzubringen und dort an Entscheidungen teilzunehmen, verbleibt man im Empörungsmodus. Empörung gibt einem das gute Gefühl, etwas erkannt zu haben, etwas getan zu haben, auf der richtigen Seite zu sein. Man scheint auch wissender als man ist. Der größte Teil der Empörung speist sich aus puren Behauptungen. In der sechzehn Jahre währenden Kanzlerschaft von Angela Merkel konzentrierte sich ein Großteil der sich sogar schon formierenden Empörung (Pegida, dann AfD) im Osten Deutschlands. Dafür gab es verschiedene Erklärungsansätze: die Ostdeutschen hätten sich noch nicht aus der Diktatur hinauswinden können, sie seien staatsgläubiger als die Westdeutschen, sie hätten ein besonderes Verhältnis zu Russland. Tatsächlich ging die besondere Russlandpolitik bereits von den Kanzlern Kohl und Schröder aus und wurde von Merkel nur fortgeführt. Die Pegida hatte ihren Ursprung tatsächlich in Dresden, die AfD dagegen hatte immer Führer aus dem Westen. Chrupalla ist der erste autochthone Ostbürger. Wahrscheinlich aber spielt die Herkunft, wie auch in anderen Bereichen, gar keine herausragende, vielleicht sogar gar keine Rolle. Empörung ist einfach von allen Aktivitäten die passivste, die trotzdem ein gutes Gefühl erzeugt: man muss nichts tun und ist trotzdem richtig.  

Demokratie, Säkularisierung, Globalisierung rütteln tatsächlich an den Grundfesten der alten Welt. Aber sie stammen nicht von Aliens vom Mars. Die Globalisierung begann, wenn man solche Großereignisse überhaupt an einem Datum festmachen kann, 1444, als das erste Schiff mit Sklaven aus Afrika nach Europa unterwegs war. Die Religionen, die jetzt beklagen, dass ihnen die Menschen abhandenkommen, erklärten die Afrikaner für Nichtmenschen, damit sie entwürdigt und verwertet werden konnten. Allerdings muss man zur Ehre der Christen sagen, dass der Abolitionismus auch von Klerikalen in Portugal (Marques de Pombal), Großbritannien und den USA ausging. Jedoch spielte dabei auch die Aufklärung und die Ökonomie eine große Rolle. Die Aufklärung begann, wieder so ein Datum, am 2. November 1755, als Lissabon in einem Erdbeben, einem Tsunami und einem Großbrand zerstört wurde und der Kanzler Marques de Pombal sagte: Begraben wir die Toten und bauen wir die Stadt wieder auf. Die Religionen verharrten, statt darauf zu reagieren, in der Hoffnung, dass sie immer Staatskirche bleiben und der Glaube sozusagen polizeilich garantiert würde, so wie in Deutschland heute noch die Kirchensteuer ein Teil der Lohnsteuer ist. Die Säkularisierung führt also zur Demokratie, nicht zur Diktatur, allerdings auf langen, verschlungenen und widersprüchlichen Wegen. Immer noch ist die Sinuskurve die beste Abbildung dafür. Demokratie ist auf schicksalhafte Weise mit Wohlstand verbunden, und beide sind nie erreicht, sind asymptotisch. Die Coronakrise hat gezeigt, wie schnell viele Menschen in den Krisenmodus zurückfallen können. Beim ersten Lockdown wurde gehamstert, in der Folge gab es kein Klopapier (dummes Horten) und keine Hefe (schlaues Horten). Unter schlauem Horten verstehen wir die Parallele zum schlauen Bettler: er kauft sich Brot und ein Buch Wie werde ich Millionär?

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So wie die von Darwin beschriebene Evolution die Geduld der Natur vorschreibt, die aber kein Ziel und kein Ende hat, so ist die Demokratie die fast unmögliche Geduld ausgerechnet derjenigen Menschen, die Individualisten in einer bis vor kurzem unvorstellbar großen Menge, die durch Globalisierung aber eng verbunden und in einem ständigen Austausch befindlich, durch Säkularisierung aber ihrer bisherigen Wegweiser verlustig gegangen sind. Der berühmte Kierkegaard-Satz, dass wir vorwärts leben müssen, das Leben aber nur rückwärts verstehen können, ist beinahe noch zu optimistisch, denn wir können vieles historisch auch nicht richtig verstehen, weil wir immer zu viel Vernunft und Logik in unendliche Mengen von zufälligen Ereignissen hineininterpretieren. Vernunft und Logik sind nicht Triebkräfte der Geschichte, sondern Elemente ihrer Beschreibung. Außerdem interpretieren wir die Wirklichkeit mehr in ihren ikonografischen Dimensionen als nach tatsächlichen Ereignissen, die uns nach wie vor nicht zugänglich sind, die nicht verborgen werden, sondern verborgen sind. Je mehr Bilder es gibt, desto mehr werden sie für die Wirklichkeit gehalten. Das Goldene Kalb, das einen sichtbaren Gott einem unsichtbaren vorzog, ist wieder einmal Wirklichkeit geworden.

Wir werden nicht mehr von charismatischen Führern geführt, sondern von enigmatischen Bürokraten, die einerseits allwissend sind, andererseits uns immer wieder befragen, ob wir noch da sind, wieviel wir verdienen und ob wir noch zu Transparenz und Kooperation bereit sind. Die Bürokratie selbst verbirgt sich hinter Öffnungszeiten und Inkompetenzen. Das beste Beispiel dafür ist die Verwaltung der Bundeshauptstadt und des Landes Berlin, allein schon diese Doppelfunktion ist ein bürokratisches Monster. Man muss aber auch sehen, dass wir einerseits den Mangel an Vereinfachungen und Digitalisierungen beklagen, andererseits aber am Bargeld kleben. Kein Wunder also, dass hinter all den unverständlichen und unlogischen Erscheinungen ein böser oder guter Geist vermutet wird, der sowohl Gott abgelöst hat als auch den Despoten, dem man dankbar sein oder den man verfluchen konnte (‚Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen‘). Die meisten Menschen in den gegenwärtigen großen Demokratien haben lange und mit großem Unverständnis auf die Sehnsucht nach charismatischen und allwissenden Führern herabgeblickt, ohne zu bemerken, dass sie selbst überall den Weltgeist, das Unglück, das Böse, die Vernunft, die Unvernunft, die Ungerechtigkeit, die Ungleichbehandlung, den unermesslichen Reichtum, die unverschuldete Sklaverei, die Zunahme des Verbrechens und so weiter vermuten.

Jede neue Sicht wird beargwöhnt. Die alten Feinde der Menschheit Rassismus, Klassismus und Sexismus glaubt man fern. Gendern erscheint so gesehen als unverständlicher, despotischer Eingriff in die angeblich eigene Sprache, in die vermutete Intimsphäre. Die Diskriminierung des anderen wird billigend in Kauf genommen. Das ändert sich, wenn man sich in den Schönhauser  Allee Arkaden mit einer Frau trifft, die man früher als junger Mann kannte. Dann beginnt man zu überlegen, wer, wie, was ist. Ebenfalls in Berlin, im Alten Museum, gegenüber vom Haus am Werderschen Markt, steht der so genannte Berliner Hermaphrodit. Er ist knapp zweitausend Jahre alt und zeigt, wie alt das Problem und wie schön man schon früher damit umgegangen ist: sexuelle Identität ist fragil. Wir haben das große Glück, in einer Zeit zu leben, in der winzigen Minderheiten die umfassende, längst überfällige Würde zurückgegeben wird, denn wir können vermuten, dass Diskriminierung oder Segregation Zutaten von Herrschaftsmechanismen der staatlichen und religiösen Ordnungen und Ideologien waren und sind.

Hinter jeder Umbenennung wird demzufolge auch eine banal-böse Macht vermutet und nicht etwa einfach neue Erkenntnisse. Wer zum Beispiel beobachtete, dass die Greifswalder Universität ihren Namen abgelegte, kann das als Abschütteln der Nazivergangenheit deuten oder als Distanzierung von wichtigen Traditionen. Aber alle Traditionen sind historisch, sie kommen und vergehen und sie werden, solange sie da sind, maßlos überschätzt, wenn sie aber verschwanden, schnell vergessen. Deshalb erklären autokratische Staatsysteme jedes zweite Ereignis zur tausendjährigen Tradition. Das Alter einer Universität hat nichts mit dem Namen zu tun, zumal wenn er erst vor kurzem von fragwürdigen Gestalten verliehen wurde. Die Greifswalder Universität verdankt ihren nun abgelegten Namen den Nazis und die Ablegung einem Beschluss des Senats und einer Befragung der desinteressierten Studenten, was sich in der äußerst geringen Wahlbeteiligung zeigte. Was sagen die Pommern dazu? Die Pommern sagen dazu nichts, weil sie schon lange nicht mehr wissen und wissen wollen, wer Ernst Moritz Arndt war. In Greifswald leben auch nicht nur Pommern und schon gar nicht nur geschichtsinteressierte Pommern. In Greifswald lebte vor vielleicht fünfzehn Jahren eine afrodeutsche Bratschistin, die im Stadttheater arbeitete und von einer rassistischen Kellnerin nicht bedient wurde. Aber das ist lange her und zeigt jedoch, wie übel lange Traditionen wirken. Natürlich ist niemandem (von wem auch?) verboten, Pommern zu sagen oder zu lieben. Selbst in der DDR war es nicht verboten, aber unerwünscht. Statt dessen sollte man sagen, man lebe im Bezirk Rostock oder im Bezirk Neubrandenburg. Dieser – aber auch nicht gewaltsame – Eingriff wirkt bis heute nach, so dass Menschen in Pommern glauben, dass sie nicht in Pommern leben oder nicht Pommern sind. Aber vielleicht neunzig Prozent aller Menschen interessieren sich nicht dafür. Pommern als Identität war wichtig, solange die meisten Menschen lebenslang in ihren Dorf sozusagen gefesselt waren, gefesselt durch Familie, Arbeit, Tradition, Unwissenheit, vor allem mangelnde Navigation. Statt dessen ist in einer Demokratie alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist, wie zum Beispiel das Hakenkreuz, weil es in Deutschland eben nicht ein altindisches Sonnensymbol ist, sondern weil bei uns bis auf den heutigen Tag die einseitige Interpretation als Kennzeichen einer rassistischen und militaristischen Diktatur vorherrscht. Es ist auch nicht verboten (von wem auch?), Menschen aus Afrika als Neger zu benennen. Nur zeigt man damit, dass man in letzter Zeit nicht viel verstanden hat. Nicht erlaubt ist dagegen, die Würde eines Menschen ‚anzutasten‘, wie es im Grundgesetz heißt.

Andererseits kann durch ein Gesetz, so falsch oder unpopulär es auch immer dem einzelnen erscheinen mag, keine jahrtausendealte Identität zerstört werden, weil es die nicht gibt. Nationen etwa begannen sich erst im 18. Jahrhundert herauszubilden, und sie sind immer ein zweifelhaftes Konstrukt [Ernest Renan].  Identitäten und Definitionen sind ebenso historisch wie fragil, fragwürdig und zweifelhaft. Definitionen sind meist tautologische Plattitüden, Identitäten dagegen gleichen eher idealisierten Wunschbildern. Da alles in Bewegung ist, sind Definitionen so falsch wie Tatortfotografien. Nichts ist mit etwas anderem identisch, noch nicht einmal mit sich selbst.

Ob jemand sein Dorf, zunehmend auch seine Stadt, eine Region, ein Land, vielleicht sogar eine Nation oder einen ganzen Kontinent, wie viele Afrikaner tun, als seine Heimat festlegt, kann der- oder diejenige nur selbst wissen. Bei vielen Menschen ändert sich das auch. Seit eh und je, und auch heute noch, gibt es Nomaden und Sesshafte und tausend Zwischenformen.  Migration kann ein Ziel haben (Amerika), kann aber auch nur Flucht sein.  Sesshaftigkeit kann ein Ausdruck von Treue und Loyalität sein oder aber einfach Dummheit (‚stupid economy‘).  

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Obwohl ich selbst immer die Multikausalität beschrieben habe (jedes Ereignis hat tausend Gründe, jedem Grund folgen tausend Ereignisse, alles überschneidet, widerspricht und schließt sich aus und ein), müssen doch auch Generalisierungen möglich bleiben.

Viele Menschen glauben zu sehr an den Staat. Sie verstehen nicht oder wollen nicht verstehen, dass der Staat kaum mehr sein kann als sie selbst. Wer den von ihm geschätzten oder gewählten Staat als alternativlos sieht, missachtet seine Mitmenschen. Wer den Staat, in dem er lebt, ablehnt, lehnt sich selber ab. Er müsste den Staat umstürzen oder gehen. Die DDR und Eritrea sind dafür schöne Beispiele. Die Divergenz des Staates mit seinen Bürgern kann man dank eines der besten Geschichtsbücher der letzten fünfzig Jahre*** bis ins letzte Detail und bis ins letzte Dorf studieren. Selbst gutgemeinte Wissenschaft führte zu Rassismus, wenn sie die Prämissen (Traditionen) von gestern als Maßstab anlegt, und selbst der bestmeinende Despot (Baudouin)  wird in seiner Imitation (Mobutu) nicht nur zur Farce, sondern zum Monster. Mobutu hatte übrigens Ceausescu als Vorbild, der wiederum den Personenkult von Kim Il Sung imitierte.

Der Staat, als Staatsapparat, als Exekutive, ist ein Ordnungsinstrument, letztlich ein Attribut der Gemeinschaft. Durch seine Macht (Fiskus, Polizei) sehen wir ihn aber als Akteur. Der eigentliche Akteur ist das Parlament im Auftrag seiner Wähler. Da wir aber den gesamten Parlamentarismus nur medial konsumieren, oft sogar ignorieren, erscheint er uns als irrelevant.

Menschen in Ländern mit vielen oder gravierenden Problemen sehen die Lösungen deshalb im starken Staat, im charismatischen Führer. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass Charisma nur im engen Raum-Zeit-Rahmen wirkt. Hitler erscheint uns heute als Parodie Chaplins ohne happy end. Trump und Berlusconi zeigten sich als Politclowns. Clowns, im schlechten Sinne, gibt es auch bei uns: Gysi, Wagenknecht, Höcke, sie brillieren mit einer Rhetorik, die einen kleinen Kreis von Menschen magisch anzieht, die sogar danach süchtig werden.  Dadurch sind sie in den omnipräsenten Medien omnipräsent und erscheinen diesem engen Kreis von Menschen als die eigentlichen Macher oder Führer. Immer steht unter YouTube-Videos mit Wagenknecht: Wagenknecht muss Kanzlerin werden. Aber auf demokratischem Weg kann Wagenknecht zum Glück für uns alle nie Kanzlerin werden. Das ist ein Problem der Demokratie, das nur durch Bildung zu lösen ist. Wenn wir die 100 Milliarden Euro für die Rüstung akzeptieren, müssen wir zugleich 100 Milliarden für Bildung fordern. Nur damit können wir erreichen, dass ein Argument erkannt oder gefordert wird.

Die Allgegenwart von Medien und medialen Nachrichten vertieft die Verwechslung vom Ereignis und seinem Bild. Wir nehmen die Welt als Kommentar wahr. Der Unterschied zu früher ist, dass wir die Welt überhaupt wahrnehmen können, was früher in einem pommerschen oder anderswoigen Dorf schier unmöglich war. Es ist also ein Fortschritt, der natürlicherweise ein neues Problem hervorgebracht hat. Wie dem Alkoholiker muss man dem modernen Menschen die Flasche entziehen. Es ist nicht nur so, dass es viele, zu viele Nachrichten gibt. Die Nachrichtenmacher stehen vielmehr in einem ständigen Zwang, etwas melden oder kommentieren zu müssen. Selten gibt es gute Nachrichten. Nie sagt ein Nachrichtensprecher: heute ist nichts relevantes passiert. Und das würde auch nicht stimmen. Aber nicht alles, was passiert, wissen wir oder ist für alle relevant oder auch nur interessant.

Das ist alles schon tausendmal beschrieben worden, und trotzdem schaffen wir es nicht, unseren Fernseher oder das Handy auszuschalten. Wir müssen lernen, damit zu leben. Es ist nicht schlecht, informiert zu sein, aber zu viel Informationen führen zu einer neuen Formiertheit, wenn nicht sogar Uniformiertheit, die dann ganz schnell in Uninformiertheit zurückschlagen kann. Die rechte Kritik an den von ihren Protagonisten mainstream genannten Medien hat die eigenartige Lösung in noch kritikwürdigeren, nun auch noch unprofessionellen, absolut tendenziösen Medien, ganz ohne Korrespondenten und Kompetenzen. Auch Linksaußen folgt man lieber der vorgegebenen Ideologie, gestern zum Beispiel wurde ein sozial verträglicher Klimawandel gefordert. Dabei geht es nicht um die Lösung des Problems, sondern um die Erhaltung der Wählerschaft. Das ist natürlich bei jeder Partei so, aber die anderen sehen sich nicht als Alternativen zueinander, sondern als Komplementäre in zukünftigen Koalitionen.

Fernsehen und Internet verleiten uns auch dazu zu glauben, dass wir nicht nur alles wissen, sondern alles besser wissen.

Der Jäger und seine Sammlerin brauchten keine Nachrichten. Sie hatten nur 45 Jahre zu leben und mussten sich täglich um das Essen und die Kinder kümmern. Das bisschen Freizeit ging dafür drauf, die Götter günstig zu stimmen.  Die Dorfbewohner im alten Pommern hatten einen streng reglementierten Tag, eine durchgestylte Woche und ein sich immer wiederholendes Jahr. Nur Schicksalsschläge und Kriege störten die Monotonie. Die Kartoffel, die Dampfmaschine, der Brühwürfel, die Eisenbahn, das Fahrrad, das Automobil, das Telefon, die Schallplatte, schließlich Radio, Fernsehen und Computer brachen die festen Rollen und rigiden Regeln auf. Jetzt haben wir Wohlstand, Bildung, Freiheit, Demokratie, Säkularisierung, Globalisierung und langes Leben und bejammern den Verlust von Heimat, irgendein Dorf mit Latrine.  

*Ministerium für Staatssicherheit, DDR 

**Kiew = russische Transkription 

***David van Reybrouck, Kongo, 2010

SICH WENIGER SCHADEN

…if we understood ourselves better, we would damage ourselves less… james baldwin

Kurz vor Weihnachten 1989 wurde das Diktatoren- und Verbrecherpaar Ceauşescu erschossen. Elena Ceauşescu sagte zu dem Soldaten, der sie vorher – fast biblisch – mit einem Strick fesselte: Ja, weißt du denn nicht, dass ich die Mutter der Nation bin? Das wirft die Frage auf, ob die Diktatoren und Autokraten ihren eigenen Erzählungen glauben.

Fast kein Mensch der östlichen Bundesländer hat 1961 die Mauer gewollt oder gebaut. Entweder sind die Planer und Erbauer tot oder sie verstecken sich. Aber auch kaum ein Bewohner der ehemaligen DDR hat gegen das Narrativ der Mauer als antifaschistischer Schutzwall protestiert. Wir haben dieses monströse Diktum zwar selbst nicht benutzt, sind aber auch während keiner Rede aufgestanden, in der es benutzt wurde. Vielleicht haben wir schon damals überlegt, ob der Redner glaubt, was er sagt. Mancher Redner und heutige Apologet hat das Wortmonster auch abgeschwächt, indem gesagt wurde, dass die Mauer – plötzlich war es doch eine Mauer – den Frieden gerettet oder das Ausbluten der DDR verhindert habe. Die gesamte Militarisierung der Ostrepublik geschah ja unter der vermeintlichen Aggressivität der NATO, die sozusagen auf den Sprung bereitstünde, womöglich den gesamten Ostblock zu schlucken. Es verging kaum eine Honeckerrede, in der er nicht sein Lieblingsbild von der Bundeswehr malte, die mit klingendem Spiel durch das Brandenburger Tor hereinmarschiert käme. Im Gegensatz zur NVA war die Bundeswehr bekanntlich nicht in Berlin anwesend. Diese ständige Drohung diente vor allem auch der Aufwertung der DDR: seht, wir sind wenigstens eine begehrte Beute. Denn viele Menschen waren unzufrieden, manche mit der Versorgungslage, andere mit der Unfreiheit, wieder andere mit der verordneten Provinzialität unseres kleinen Landes. Aber wir alle, die Unzufriedenen und die Zufriedenen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, duldeten, dass die Mauer, die uns hinderte zu verreisen, offiziell einen absurden Namen hatte, der sie rechtfertigen sollte. Es gab im Westen Nazis, aber es gab auch im Osten Nazis. Wie sollte denn, hätten wir uns fragen müssen, die Mauer verhindern, dass Nazis oder deren Propaganda zu uns in den Osten kommen können? Einige besonders schlaue Nazis waren im Osten geblieben, die krassesten Beispiele sind der Auschwitzarzt Fischer, der Rottenführer in Treblinka und Warschau Josef Blösche, der sogar auf einem weltbekannten Foto zu sehen ist, auf dem er martialisch seine Waffe auf einen kleinen Jungen mit kurzen Hosen und Mäntelchen richtet. Selbst in dem kleinen beschaulichen Brüssow konnte ein Mann* LPG-Vorsitzender werden, der im Baltikum zunächst für die SS übersetzte, dann mordete. Er hatte alles gefälscht: seine Vergangenheit, seine Gegenwart und seine Zukunft, aber er war in diesem winzigen Städtchen erkannt worden. Die Vergangenheit des Chefs der Planungskommission Erich Apel, der sich erschoss oder erschossen wurde, wird für immer im Dunkel des unterirdischen Raketenbaus bleiben, von dem er sich während seiner Zwangsverpflichtung in der Sowjetunion reinwaschen zu können glaubte. Den traurigen Gipfel der kleinen Nazis, die auch in der DDR großwurden, stellt aber Willi Stoph dar, dem es gelang, aus einem die Nazis verherrlichenden kleinen Bautechniker zum Armeegeneral, zum Minister, Ministerpräsidenten, Staatsratsvorsitzenden, zum ewigen zweiten Mann aufzusteigen, der neben den altkommunistischen Kadern Honecker, Axen, Sindermann, Mielke und Neumann, der sogar auch aus Neukölln stammte, bis zum letzten Tag der DDR fortexistierte. Das ist Vergangenheit. Globke, Gehlen und Kammhuber, der es auch bis zum Viersternegeneral brachte, konnten ihre Bedeutung im Nazireich herunter- und ihre Kompetenz heraufspielen, aber sie waren immer bekannt und umstritten.

Dass aber nun Putin nach so langer Zeit das ‚antifaschistische‘ Bild geradezu aufwärmt, hat sowohl mit seiner Zeit als Geheimdienstoffizier in der DDR zu tun, aber auch mit den überdimensionierten alljährlichen Siegesfeiern auf dem Roten Platz. Siegesparaden gibt es auch in Frankreich, allerdings dienen sie dort wohl mehr der Demonstration einer nach wie vor den Amerikanern und Briten  ebenbürtigen Militär- und Atommacht. Welthistorisch gibt es dagegen nur zwei Punkte, in denen Russland, auch in der Form der Sowjetunion, wirkliche Bedeutung hatte: den mit den Westalliierten zu teilenden Sieg über Hitlerdeutschland und den Sputnik. Inwieweit sich die sowjetische Raketentechnik von der untergegangenen deutschen ableitete, können nur Militärhistoriker entscheiden. Tatsache ist, dass Koroljow, der Konstrukteur, 1945 in Deutschland auf Braindrainsuche und dass er fast zehn Jahre lang in einem Gulag war. Dass er das Schicksal der Verfolgung mit so vielen Generälen und Konstrukteuren teilen musste, zeigt die Zerrissenheit Russlands. Vielleicht ist es zu weit hergeholt, aber der Streit zwischen den ‚echten Russen‘ und den als ‚Westlern‘ denunzierten Reformern tobt in Russland seit dem  Dekabristenaufstand gegen Zar Nikolaus I. Er war nicht der legitime Thronfolger seines am Krimfieber gestorbenen Bruders Alexander I., sondern er kam durch den Verzicht seines älteren Bruders Konstantin überraschend an die Macht. Das wurde als Aufstandssignal der Reformer, die durchweg aus der militärischen Führungsschicht kamen, verstanden: sie verweigerten den Treueeid. Nikolaus reagierte wie später Putin: er ließ die Rädelsführer hängen und 600 von ihnen nach Sibirien deportieren.  Aber das Ergebnis war in jeder Hinsicht fatal: Russland verharrte im ultrareaktionären Modus, einige Ehefrauen der Verbannten – wie die Fürstin Wolkonskaja – wurden weltberühmt, weil sie ihren Männern freiwillig folgten, und die Dekabristen selbst brachten als erste Kultur und Bildung nach Sibirien. Tolstoi hat das Motiv später umgedreht: er lässt den schuldigen Mann, auch er ein Fürst, freiwillig mit nach Sibirien gehen. Die mangelnde Loyalität der Eliten gegenüber ihrem Volk, das sie verachten, die grundsätzlich kolonialistische Haltung der Politik seit Iwan dem Schrecklichen**, die außerdem zeigt, dass eine Terrorherrschaft immer im Chaos endet,  die Rücksichtslosigkeit der Gewaltherrscher, all das steht einem opferbereiten Volk gegenüber, das aber auch immer lange stillhält. Die ‚militärische Spezialoperation‘, die ein Blitzkrieg werden wollte, und die ‚Entnazifizierung der Ukraine‘, die die Übernahme der Regierung in Kiew hätte sein sollen, stammen aus dem demselben Wörterverzeichnis wie der ‚antifaschistische Schutzwall‘, dessen Zaun in die falsche Richtung blickte.

Es geht hier nicht um Glauben. Weder ist es wichtig, was die Diktatoren glaubten und glauben, noch was die getäuschten Völker tatsächlich glauben. Wichtig ist nur, dass die Menschen in einer Art Ruhestellung gehalten werden und sich halten lassen, die noch nicht einmal Loyalität sein muss. Den Russen geht es heute besser als in der als Chaos empfundenen Jelzin-Ära und weit besser als in der Sowjetzeit. Den DDR-Bürgern ging es vergleichsweise im Ostblock besser als allen anderen Völkern, eingeschlossen die Sowjetunion, die angeblich auf einem weit höheren gesellschaftlichen Niveau sich befunden haben soll.  Der 9. Mai, der Tag des Sieges, und der Erdumlauf des ersten Sputniks am 4. Oktober 1957 und die bis 1969 andauernde Führungsrolle der sowjetischen Weltraumforschung haben die Großmachtwünsche der Russen bis heute getäuscht. Denn trotz dieser unbestreitbaren Leistungen ist Russland sowohl von der Größe seiner Wirtschaft als auch vor allem vom technologischen Stand her nur eine Regionalmacht. Russland hat doppelt so viele Einwohner wie Deutschland, aber ein Bruttoinlandsprodukt, das nur halb so groß ist und sich im wesentlichen aus der Ausfuhr von unbearbeiteten Rohstoffen speist. Bisher hatten wir angenommen, dass es über eine riesige Militärmacht verfügt. Nun zeigt sich aber, und das ist ein vielkolportierter ukrainischer Witz, dass aus der zweitstärksten Armee der Welt die zweitstärkste in der Ukraine geworden ist. Und wieder, diese Woche, ist die russische Antwort Extensivierung. Nun will der größenwahnsinnige Präsident die kämpfende Truppe auf anderthalb Millionen Mann vergrößern.

Hinter der verlogenen Erzählung von der ‚antinazistischen Spezialoperation‘ lugt die nächste geopolitische Katastrophe für Russland hervor. Es bleibt zu hoffen, dass sich diesmal Führer finden lassen, die die Herausforderung und die Chance, die sich in solchen Zusammenbrüchen auch zeigen können, begreifen und ergreifen. Die geopolitische Katastrophe wird aber, auf der anderen Seite, vielleicht ein Dutzend instabiler Zwergstaaten mit solchen Gestalten wie Kadyrow hervorbringen, die sich dann die nächsten zwanzig Jahre um die Grenzen und die Pipelines streiten werden.

Wir können nur hoffen, dass der Westen, wir, inzwischen lernen wird, ohne fossile Brennstoffe und ohne Verbrechersysteme auszukommen.

Lasst uns also 100 Milliarden in die Bildung investieren, damit es neue Liebigs, neue Röntgens***, neue Siemens und neue Şahins  geben wird.

*Kurt Goercke, hingerichtet 1961

**1530-1584

***Conrad Röntgen haben wir nicht nur wegen seiner überragenden technologischen Leistung, sondern auch wegen seiner bemerkenswerten Moral aufgenommen

TELLKAMP UND PUTIN

Tellkamp* ist ständig beleidigt und macht sich zum Sprecher dieser albernen Montagsmärsche mit ihren Kindertrommeln und geklauten Sprüchen. Ich habe bei ihm kein einziges Argument erkennen können, stattdessen nur Etikettierungen, die er gerade dem Mainstream vorwirft. Wer glaubt, dass der Mainstream ‚falsch‘ sei, leidet doch darunter, nicht selbst in der Mehrheit zu sein. Das ist schwer zu ertragen, aber es ist eben so. Die gegenwärtige Regierung wird von einer breiten Mehrheit getragen, die Montagsmarschierer unter Führung von Wagenknecht, Weidel, Tellkamp und Precht ignorieren diese Mehrheit. Selbst wenn die Regierung tatsächlich halb so inkompetent wäre, wie montags gerne behauptet, so lange sie durch Wahlen gedeckt ist, bleibt es müßig gegen den Mainstream zu wettern, schwimmen dagegen ist natürlich weiterhin erlaubt. Noch zwei Gegenargumente: wenn Sie so sehr unter der gegenwärtigen Politik der etablierten Parteien leiden, warum machen Sie dann nicht selber Politik? Warum sind Sie nicht im Bundestag oder wenn Sie drin sind, warum hört niemand auf Sie? Und das zweite: alle Voraussagen, die bisher von der Montagsfraktion gemacht wurden, waren falsch: weder ist der Euro durch die Griechenlandkrise in die Katastrophe gerutscht, noch haben die Flüchtlinge von 2015 Deutschland ruiniert, weder hat die Coronapolitik die Wirtschaft zum Erliegen gebracht, noch hat Russland in seinem wahnsinnigen Krieg gewonnen. Und da wundern sie sich, dass die Mehrheit sie nicht will?

Daraus folgt: der Zeitgeist ist keine qualitative Bestimmung (‚richtig‘, ‚falsch‘, ‚gut‘, ‚böse‘), sondern eine quantitative. Er ist die Summe aller vorherrschenden Meinungen, Definitionen, Identitäten, Tendenzen zu einem Zeitpunkt t. Andersherum gesagt: wer gegen den Zeitgeist ist, hat nicht deswegen recht, ist nicht die Sophie Scholl der Gegenwart. Recht haben – besser gesagt: praktikabel sein – können nur Argumente und Fakten.

Heute zum Beispiel hat die ukrainische Armee mit Cherson den dritten großen Sieg – nach Kiew und Charkiw – errungen und die einzige von den Russen eroberte Gebietshauptstadt zurückgewonnen. Präsident Putin hatte im September verkündet, dass Cherson jetzt für die Ewigkeit zu Russland gehört. Wie lange wird ihm der russische Zeitgeist noch folgen? Die Mehrheit der Bewohner der Russischen Föderation folgt ihm, weil sie jetzt besser leben als im Jelzin-Jahrzehnt und als in der Sowjetunion. Mit dieser verbinden aber viele – auch Ukrainerinnen und Ukrainer – ein mentales Wohlbefinden der Sicherheit, der Bedeutung, der Großmacht. Wie im gesamten Ostblock haben auch die alten Russinnen und Russen den Zusammenbruch eines vermeintlich ewigen Systems traumatisch empfunden.

Das Dilemma, das dem allen zugrunde liegt, ist das Herrschaftsparadoxon: die meisten Menschen streben nicht ein Regierungssystem an, sondern Wohlleben, die meisten Regierenden glauben dagegen recht zu haben. Die meisten Menschen akzeptieren daher für eine gewisse Zeit selbst die absurdesten Herrschaftsformen, viele Herrscher dagegen versuchen ihre Meinung so oft wie möglich durchzusetzen. In der Demokratie sind dazwischen die Wahlen geschaltet, mit denen man die Demokratie sogar zeitweilig abwählen kann. Allerdings hat das auf Dauer noch nie funktioniert. Hitler war nach zwölf Jahren aus eigener Schuld am Ende. Hätte er 1938 einen anderen Weg gewählt, so wäre das Ende seiner Herrschaft vielleicht nicht schon 1945 gekommen. Stalinismus und Maoismus verloren sich in einer selbst geschaffenen Sackgasse, in der allerdings heftige und noch anhaltende Diadochenkämpfe stattfinden.

Autoritarismus kann sich immer nur halten, wenn und wie lange er geduldet wird. Durch die lange Periode der Nationalismen ist allerdings ein Substitut für Wohlleben entstanden, das wieder eine Zeitlang Duldung bietet. Auch gemeinsame Nationalismen, wie der Panslawismus, der Panarabismus oder der Panislamismus können zum Machterhalt und zur Sinngebung benutzt werden. Beim Panafrikanismus scheint inzwischen eine Regionalisierung einzutreten, die gute Chancen hat, weil es – mit Ausnahme von Äthiopien und Liberia – kaum Nationalbewusstsein und natürliche, durch Sprachen oder Flüsse entstandene Grenzen gibt.

Putin begründet seinen Machtanspruch weniger mit dem tatsächlich besseren Leben der Einwohnerinnen und Einwohner, sondern mit der speziellen russischen, antiwestlichen Kultur. In seiner Rede vor der Waldai-Konferenz am 27. Oktober 2022, und auch schon mehrmals zuvor, fand sich folgende absurde Formel: wir kämpfen in der Ukraine dagegen, dass im Westen Tschaikowski und Tolstoi verboten sind.    

Auch Tellkamp hält an einem seltsamen nationalistischen Konstrukt fest: an der Deutschen angeblich demokratischen Republik. Er betont nicht nur seine Herkunft von dort, er stammt aus Dresden, wo auch Putin politisiert wurde, wir betonen diese Ironie ausdrücklich. Er zeigt, dass er in einem irrationalen Staatsglauben verfangen ist. So macht er die gegenwärtige Bundesregierung für die Energiekrise verantwortlich. Er scheut sich nicht, auch hierin gleicht er Putin, absurde Details einzublenden, zum Beispiel, dass er keinen Ofen hat und demzufolge der falschen Politik der falschen Regierung ausgeliefert ist. Schon 2015 glaubte er, dass Migration ausschließlich ökonomischer Egoismus sei. Ebenso absurd ist sein scholllatouristisches** Scheinargument, dass (nur) er wahre Meinungsfreiheit beurteilen könne, da (nur) er wahre Meinungsunfreiheit kennengelernt habe. Tatsächlich aber hatte er sich, wie die meisten von uns, dem Meinungsdiktat der DDR-Oberen einfach gebeugt, bis zum Spätherbst 1989.

Es geht es nicht um Tellkamp. Der hat sich entliterarisiert und wird sich damit gänzlich absentieren. Es geht noch nicht einmal um Putin, denn auch der wird von der Bühne nach backstage unter seinem Epitaph verschwinden und die späteren Kinder werden in ihrem Geschichtsbuch mit Fingern auf ihn zeigen. Es geht darum, dass wir jeden Anlass nutzen sollten, auf die Schädlichkeit einer Herkunfts- oder Identitätsbetonung hinzuweisen und darauf hinzuarbeiten, auch hier größere Zusammenhänge sehen zu lernen. Herkunft oder Zugehörigkeit ist vielmehr wie eine Nabelschnur: notwendig, aber zeitweilig. Seine Mutter zu schätzen und zu lieben heißt doch nicht, mit ihr identisch zu sein oder sein zu wollen. Du bist Ostdeutsche, ja, aber zu weniger als einem Prozent, denn du bist auch noch Potsdamerin, Helmholtz-Alumna, Frau, Mutter, Tochter, Enkelin, Ärztin, Notärztin, Fachärztin, Schweizerin, Bernerin, Gattin eines Hugenotten mit russischem Vornamen, Fahrradfahrerin, Extremschwimmerin, Freundin eines weltweit operierenden Freundinnenkreises, Leserin, Langschläferin, herzliche Lacherin, Grünenwählerin. Warum nur lassen wir uns von irgendeinem selbstsüchtigen Verein auf ein einziges Attribut eindampfen? Warum nur? Ich bin ich mit tausend Attributen. Only your face is your past, but the background now.    

*in einem Forum mit Sarrazin über dessen Buch Die Vernunft und ihre Feinde 2022

**Scholl-Latour, wie heute auch wieder Krone-Schmalz, begründete seine Kompetenz nicht mit Argumenten, sondern mit seiner Anwesenheit in den jeweils in Rede stehenden Krisengebieten. Von ihm stammt beispielsweise der absurde, heute noch von AfD-nahen Rednern und Wagenknecht gebrauchte Vergleich, dass wer Menschen hilft, in Wirklichkeit sich selber schade (‚Wer halb Kalkutta herholt, hilft nicht Kalkutta, sondern sorgt dafür, dass bald Kalkutta bei uns ist.‘).

EIN ETIKETT IST KEIN ARGUMENT

Die Landrätin der Uckermark meint nun auch, dass ihre Stunde gekommen sei, um in der großen Weltpolitik mitzureden. Das wäre auch schön und wünschenswert, wenn sie etwas mitzuteilen hätte. Stattdessen glaubt sie, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen kann und wir deshalb die Sanktionen gegen Russland lockern sollten. Der wahre Grund dafür ist natürlich, dass die PCK-Raffinerie möglicherweise am 1. Januar des nächsten Jahres schließen muss oder jedenfalls in eine tiefe Krise gerät. Aber sind wir nicht alle in großen Krisen?

Man kann die Vergangenheit leider nicht korrigieren. Alle vorhergehenden Regierungen haben von Klimawandel geredet, aber weiter billiges Gas und Öl, also fossile Brennstoffe, aus Russland gekauft. Die Ironie der Geschichte will es, dass nun ausgerechnet ein grüner Wirtschaftsminister, dessen Namen die Landrätin nicht oder falsch kennt,  die festgefahrene Karre aus dem Dreck  ziehen muss. In der letzten rot-grünen Koalition waren es Kriegseinsätze der NATO zugunsten des unterlegenen Bosniens und des unterlegenen Kosovos, beides kleine Länder ohne wirkliche Armee, die von einem übermächtig scheinenden Gegner geschluckt werden sollten. Schon damals zeigten die Grünen, dass sie eher Realisten als Ideologen sind. Trotzdem wird dieser Einsatz heute von Linken und Rechten, die ich zusammen gerne Nationalbolschewisten nenne, als völkerrechtswidrig bezeichnet und von Putin gar als Rechtfertigung für seinen Krieg gegen die Ukraine missbraucht.

Niemand weiß, wie der Krieg des russischen Goliath gegen den ukrainischen David ausgeht, auch wenn wir die schöne biblische Geschichte vom schlauen kleinen Hirtenjungen David zitieren, der gegen das übermächtige Monster locker – sozusagen pfeifend – siegt. Er war siebzehn Jahre alt. Russland verschießt jeden Tag 3000 Tonnen Munition und kommt zentimeterweise vorwärts, wenn überhaupt. In Kiew normalisiert sich das Leben, mit der Ukraine verbündete oder befreundete Politiker geben sich die Klinke in die Hand. Im Süden ist zwar Mariuopol zerstört, aber sieht so ein Sieg aus? Cherson und Odessa dagegen bleiben fest in ukrainischer Hand. Beinahe noch düsterer für das goliathische Monster sieht es im Osten aus, in den von den Separatisten bisher schon gehaltenen Bezirken Luhansk und Donezk. Donezk war einst das Ruhrgebiet der Sowjetunion, der Stolz einer Industrienation. Jetzt wird da noch nicht einmal mehr die Post zugestellt. Das Zarenreich und die Sowjetunion haben eine höchst perfide Russifizierung aller Gebiete betrieben, und ihr Erbe Putin behauptet nun, überall würden die Russen verfolgt. Er behauptet auch, im westlichen Europa seien Tolstoi und Tschaikowski verboten. Er weiß nicht, wieviel Russen allein in Berlin und übrigens auch in Prenzlau leben. Wir sagen Russen, aber in Wirklichkeit sind es Russen, Ukrainer, Belorussen, Russlanddeutsche, russische Juden und neuerdings auch russische IT-Fachleute. Wir haben schon immer zu allen Völkern der Sowjetunion und des Zarenreiches ‚Russen’ gesagt und sind so auch Opfer der besonderen russischen Kolonialpolitik geworden.

China beobachtet diesen Krieg wohl etwas genauer als die uckermärkische Landrätin und ihre Berater und Beraterinnen. Denn auch China hat ein kleines Nachbarland, das es gerne besitzen möchte. Auch hier geht es weniger um die Einwohner und um den Nationalismus, sondern mehr um den demokratischen Output und die Wirtschaft. Denn witzigerweise ist das winzige Taiwan der weltmarktführende Hersteller von semiconductors und das riesige und scheinbar mächtige China, die angebliche Volksrepublik, ist der Hauptabnehmer dieser Chips. Eine Großmacht ist nur, wer mehr herstellt, als er verbrauchen kann. Das sollten sich China und Russland, die – jeder auf seine Weise – von der Weltherrschaft träumen, in Großbuchstaben an die Wände nageln: GROSSMACHT IST NUR WER MEHR HERSTELLT ALS ER VERBRAUCHEN KANN. Aber da stehen schon ganz andere Sprüche. Sollte China also Taiwan angreifen, so wird es einen vielleicht sogar ähnlichen asymmetrischen Krieg geben, den der kleinere durch die bessere Taktik und Strategie gewinnen kann. Der größere aber kann nicht weiterexistieren, weil ihm das KNOWHOW fehlt, das heute in den Microteilen steckt. Und der riesengroße taiwanesische Chiphersteller kann nicht einfach weiterherstellen, wie weiland SINGER seine Nähmaschinen. Taiwan ist selbst durchdigitalisiert und bricht in einem Krieg zusammen wie sein Gegner. Das ist ein schönes Dilemma. Genau betrachtet steckt dieses Dilemma in jedem Krieg, und das hat einst der sagenhafte König Pyrrhus entdeckt: NOCH SO EIN SIEG UND WIR SIND VERLOREN. Wenigstens wir hier in unserem schönen Deutschland sollten das wissen: Stellen wir uns einmal vor, unsere dummen und spielsüchtigen Großeltern hätten die beiden Weltkriege gewonnen! Sie haben sie zum Glück verzockt. Das Böse kann nicht siegen oder – wenigstens – hat es noch nie gewonnen. Auf lange Sicht siegt immer das Gute (und wir sind tot, wie Lord Keynes bemerkte).  

Bei bisher noch allen Krisen wurden die Verarmung Deutschlands und der Bürgerkrieg vorausgesagt. So auch in diesem Interview* der uckermärkischen Landrätin. Auch wenn es schwer fällt, versagen wir uns jede Etikettierung, sowohl der Landrätin als auch der winzigen Zeitung. Wir bleiben lieber im Reich der Argumente. In Deutschland hat es bisher weder einen Bürgerkrieg noch aggressive oder illegale Streiks gegeben. Der einzige gelungene Generalstreik fand am Tag der Beerdigung des von Rechtsextremisten ermordeten deutschen Außenministers und Milliardärs – er besaß den damals weltgrößten Elektrokonzern – statt. Wir sind in Deutschland eher staats- als gott- oder gewaltgläubig. Selbst Verbrechen begehen wir gern und gutgelaunt, wenn der Staat sie uns befiehlt. Aber jetzt haben wir eine Demokratie, einen Rechtsstaat, eine nie dagewesene Transparenz und vor allem einen unvorstellbar großen Reichtum. Das Bruttoinlandprodukt beträgt bei uns knapp vier Billionen $, pro Kopf sind das knapp 46.000 $ (Vergleich China 10.500 USD, Russland 11.500 USD**). Bis zum Bürgerkrieg und bis zur Verarmung ist es also noch ein Weilchen hin. Das will alles erst einmal aufgegessen sein.

In Prenzlau gab es einst einen Landrat, Joachim von Winterfeld, der anschließend noch eine mittelgroße Karriere machte, so dass in Berlin eine Straße und ein Platz nach ihm benannt wurden,  und der nebenbei sein Gut und seine Dörfer pflegte und verwaltete. Eines Tages stellte er fest, dass die Stimmung im Kreis schlecht sei (die heutige Landrätin: wie dünnhäutig, deprimiert oder aggressiv unsere Bürger zunehmend werden‘). Da ordnete er an, dass vor jedem Haus ein Vorgarten angelegt werden sollte. Und da die Menschen nicht genug Geld für solche zusätzlichen Ausgaben hatten, stellte er in seinen Dörfern die Pflanzen und Setzlinge zur Verfügung.

So gesehen ist die gegenwärtige Landrätin weit von einer Straßenbenennung entfernt. Vielleicht merkt sie sich bis zu ihrer Rente den Namen des jetzigen Wirtschaftsministers, denn der bekommt ganz sicher eine Straße.

*Nordkurier, Ausgabe Uckermark, 15.08.2022

**beim HDI sieht es noch schlechter für die selbst ernannten Riesen aus: während das kleine Deutschland, das bald verarmt, Platz 6 hält, liegt Russland weit abgeschlagen auf Platz 53, China außer Sichtweite auf Platz 85

KUTUSOW. EIN NACHRUF

2017 sprach ein russischer Generalmajor namens Roman Kutusow zu Kadetten einer Militärschule, von denen es in Russland sehr viele gibt. Es komme, sagte der General den Kindern und Jugendlichen, letztlich darauf an, den Gegner zu vernichten. Das ist die auch einstmals im Warschauer Pakt übliche Formulierung gewesen, den möglichen Kriegsverlauf zu projizieren: der Gegner, die NATO, überfällt den Warschauer Pakt, der weicht kurz zurück, um dann aber in einer gewaltigen gemeinsamen Welle ‚den Gegner auf dessen Territorium zu vernichten‘. So war der Plan, aber bekanntlich hat die NATO weder den Warschauer Pakt noch eines seiner Mitgliedsländer überfallen. Die Sowjetunion brach zusammen, was einige wenige als größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts ansahen, andere dagegen als Befreiung, Erlösung und Herausforderung zu einem demokratischen  Neubeginn empfanden. Der legendäre Generalfeldmarschall Kutusow, dessen Heer in der Schlacht von Borodinio von knapp 600.000 Mann auf 81.000 Soldaten schrumpfte, wurde von seinen Zeitgenossen kritisiert und verspottet, von der Sowjetgeschichtsschreibung dagegen glorifiziert. Dies erinnert an den Ukrainekrieg, den Putin am 24. Februar, wie man früher sagte, vom Zaun brach, und der aus einer unendlichen Reihe von Schandtaten, aber auch eben aus unzähligen Lügen besteht. Jener schneidige Generalmajor Roman Kutusow fiel als zehnter General der russischen Seite. Das ist insofern merkwürdig, als die meisten dieser zehn Führer durch einfache Funkortung der Ukrainer ausfindig gemacht wurden und dann starben. Aber warum sind so viele Generäle so weit vorn, dass es für die ukrainische Armee doch wohl eher leicht zu sein scheint, sie zu  Fall zu bringen? Der Verlust der Generäle mag nicht so schlimm sein, weil es in einer derart militarisierten  Gesellschaft wie der russischen kein Problem ist, neue Generäle zu benennen. Wenn Generäle so weit nach vorne beordert werden, ist das ein Zeichen von taktischer und Motivationsschwäche. In Moskau stößt Putin wilde Drohungen aus, aber in der Ukraine, die man offensichtlich in wenigen Tagen besiegt haben wollte, wird alle vier Wochen die Strategie geändert, ohne dass man auch nur irgendein Ziel erreicht. Erst ging es gegen Kiew, wir erinnern uns alle an den 60 km langen Konvoi, der die Einnahme von Kiew flankieren sollte. Er ist spurlos im Schrott verschwunden, ebenso wie bislang weit über 1800 Panzer. Dann ging es gegen den Süden. Mariupol, eine mittelgroße Stadt nahe der russischen Grenze, wurde in zwölf (!) Wochen dadurch eingenommen, dass es vollständig zerstört wurde. Nun geht es gegen den Osten der Ukraine, der ohnehin schon von den Separatisten beherrscht wurde. Diese Gebiete (Luhansk und Donezk) wurden schon seit 2014 als russisches Territorium angesehen, so dass man heute in echt Trumpscher Weise Opfer und Täter umkehrt und behauptet, der Krieg hätte damit begonnen, dass das ‚Kiewer Regime‘ Russland  –  also die Separatistengebiete – angegriffen habe. Wenn es ganz schlimm aussieht, droht Putin wieder einmal mit dem Einsatz von Atomwaffen und seine Apologeten innerhalb und außerhalb Russlands fangen schon einmal an zu zittern. Wir aber ahnen: die Atomwaffen sind etwa in dem Zustand wie die Luftwaffe, die Panzer und die demotivierten Soldaten, von den toten Generälen ganz zu schweigen.

Aber vielleicht ist alles ganz anders. Dafür spricht das merkwürdige Verhalten zweier Vasallen des zaristischen Despoten, Lukaschenko, Belarus, und Toqajew, Kasachstan. Obwohl sich beide Hilfe aus Moskau erbaten und auch erhielten, um ihre wankenden Throne ein letztes Mal zu stabilisieren, haben sie sich erstaunlicherweise verbal von Putin verabschiedet. Lukaschenko meinte zu Beginn des Krieges, dass dann jetzt ja wohl jeder seine Grenzen bis hin zu Cingiz Khan revidieren kann, und Toqajew sagte auf dem Petersburger Gipfel, dass sein Land keine Separatistenregimes anerkennt. Dies deutet darauf hin, dass Putins Krieg von seinen Vasallen realistischer – als nicht gewinnbar – gesehen wird. Dies deutet – ich gebe zu, dass das reine Spekulation ist – weiter darauf hin, dass es auch in Russland nicht nur eine Opposition gibt, die von Nawalnij über protestierende und sprayende Jugendliche und das Land scharenweise verlassenden Eliten bis hin zu Generälen reicht. Die Generäle hatten jahrelang die Berichte über den Zustand der Armee  gefälscht. Sie haben Dutzende von Millionen Rubel – gut, das ist nicht viel – verschwinden lassen.  Während wir unsere Armee aus pazifistischen und Gründen der Leichtgläubigkeit vernachlässigt haben, haben die russischen Generäle, Manager und Propagandisten mit ihrem demonstrativen Militarismus – Junarmija, Kadettenschulen, kultische Veranstaltungen – ihre Armee verkommen lassen. Es ist weder gelungen, die schändliche und tödliche Tradition der Dedowschtschina zu beseitigen, noch ein stabiles Unteroffizierskorps aufzubauen. Es gibt weder einen effizienten militärisch-industriellen Komplex, noch ist die Entwicklung von Waffen ohne Importe aus dem westlichen Ausland möglich. Putin, der nach über 130 Tagen erfolglosem Krieg dies bemerkt zu haben scheint, verkündet nun, dass er eine effiziente, innovative Wirtschaft als Antwort auf den Schlamassel aufbauen will. Autokraten leben aber immer in verlotterten Systemen, so eigenartig das ist, ihre Wirtschaftsminister heißen Schlendrian und Korruption. Die Wirtschaft endlich zu reformieren, ist eine sehr gute Idee, nur braucht man dafür mindestens zehn Jahre ohne Putin.

Putins Tage sind aber ohnehin gezählt. In einem ukrainischen blog hieß es vor ein paar Tagen: DIE HÖLLE HAT SCHON GEÖFFNET, Schiller schrieb in seinem antityrannischen Drama: MACH DEINE RECHNUNG MIT DEM HIMMEL, VOGT. Es ist möglich, dass er diesen unmöglichen Krieg aus innenpolitischen Gründen begann. So wie Erdoĝan den Putsch der Generäle inszenierte, um von seinem wirtschaftspolitischen Desaster abzulenken, so wollte Putin mit dem Sieg über die Ukraine seine Hybris demonstrieren, die ihn unangreifbar macht. Aber Hybris ist ein Krebsgeschwür. Dieses und seine Krankheit, vielleicht ein weiteres Krebsgeschwür, rasen aufeinander zu und werden noch vor Ende dieses Jahres Putin dorthin katapultieren, wo er hingehört.  Mit ihm enden ein weiteres und hoffentlich letztes Mal Zarismus und Nationalbolschewismus. In hundert Jahren werden die Schulkinder nicht wissen, wer das alte Russland zu Grunde richtete: Rasputin oder Putin.

Tolstoi lässt Kutusow während der Schlacht bei Borodino sinnieren:  ‚Sein in langjähriger Kriegserfahrung geschulter Greisenverstand wusste, dass kein einzelner Mensch Hunderttausende, die um ihr Leben kämpfen, zu lenken vermag und dass der Ausgang einer Schlacht weder durch die Anordnungen der Oberkommandierenden noch durch das Gelände, auf dem die Truppen stehen, noch durch die Anzahl der Kanonen oder der Gefallenen, sondern durch jene unberechenbare Kraft, die man den Geist der Truppe nennt, entschieden wird, und darum beobachtete er diese Kraft und suchte sie zu lenken, soweit das im Bereich seiner Macht stand.‘*

25. 07. 2022

*Lew Graf Tolstoi, Krieg und Frieden, Leipzig 1977, Band 3, S, 308

PUTIN ODER KEIN UNDING

Ein Depressiver klopft jeden Fakt seines Lebens, seines Tages, seiner Umgebung auf negative Anzeichen ab. In jedem Detail entdeckt er Unheil und Untergang. Zwar gibt es auch Aufhellungen, weshalb diese Krankheit auch bipolare heißt und Goethe ihr einst jenen schönen Spruch widmete: himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt, aber (schon bei Lessing kosten die Aber Überlegung) das Schwarze überwiegt, obsiegt zuletzt. Viele Depressive überleben leider diesen täglichen Kampf um den Sieg des Dunklen nicht.

Ein ähnliches Scannen jeder einzelnen Aussage, jedes noch so schönen Textes auf einen einzigen Punkt hin erleiden neuerdings jene etwa zehn Prozent der Bevölkerung, die von einem Untergang der alten Welt ausgehen. Damit ist nicht etwa eine fest definierte Idylle gemeint, das könnte man gut verstehen. In meiner Kindheit wurde zu Weihnachten aus dem damals noch beliebten Buch Als ich noch ein Waldbauernbub war von Peter Rosegger vorgelesen. Darin geht es um die fußläufige Vergangenheit eines abgeschiedenen Dorfes, die von der Eisenbahn und der Stadt überholt und verdrängt wird. Der Verfasser, ein damaliger Bestsellerautor, blendet aus, dass seine Armut auf dem Dorf erst dann zur Idylle wurde, als er mit ihrer Vermarktung viel Geld verdienen konnte. Andere, die im Dorf verblieben waren, sahen dies nach einer Weile als hinterwäldlerisch und rückständig an und träumten von Städten und Automobilen. Trotzdem gelang es Rosegger, eine fiktive Idylle zu schaffen, die vielen ein Trost in der Hektik der neuen Zeit wurde. Erinnerungen können trösten. Erinnerungen können aber auch hindern.

Angst vor der Auflösung der Gegenwart und einer unbestimmten Dunkelheit der Zukunft dagegen führen dazu, jeden Tag und jeden Text nur noch unter diesem einen einzigen Aspekt zu erleben und erlesen.

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Die Angst vor der als Bevölkerungstausch erlebten langsamen Veränderung durch Einwanderung hat ganz klar hysterische Züge, ist aber historisch nicht zu rechtfertigen. Früher hat man angenommen, dass man die Männer töten und die Frauen schwängern muss. Das war Unsinn, da es einmal keine Vollständigkeit geben kann und zum anderen solche schändlichen Aktionen – wahrscheinlich sogar wegen ihrer Schändlichkeit – episodenhaft bleiben, und ist gescheitert. Die Seitenverkehrtheit zeigt der Knabenmord des Herodes, wenn er auch einen anderen Grund hatte. Herodes hätte Maria töten müssen, wenn er Yesus verhindern wollte. Die Genozide an den Armeniern und an den Juden haben ihren Akteuren nur Schande und weitaus größere Probleme eingebracht, als sie vorher hatten. Kriege sind lange Zeit für demografisch wirksam gehalten worden. Und sie sind es auch: nur eben umgekehrt. Jedes durch Krieg bedrohte Volk erhöht auf wundersame Weise seine Geburtenzahl. Wundersam heißt, dass es keine Absprachen oder Befehle dazu gibt. Beispiele aus der jüngeren Geschichte sind das exponentielle Anwachsen der palästinensischen und der kosovoalbanischen Bevölkerung.

Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich die merkwürdigsten und verrenkungsartigsten Rechtfertigungen für die Autokraten und unverständliche Angriffe auf Demokraten auf: Diktator Putin sei umsichtig, die deutsche Außenministerin Baerbock dagegen eine Kriegstreiberin. Verfolgt man die Quellen, so sieht man, dass reihenweise von den entsprechenden Seiten einfach kopiert wird.

Durch diese Möglichkeiten des Kopierens von Argumenten, ob sie nun passgenau sind oder nicht, entsteht der Eindruck von Allkompetenz. An diese Allkompetenz glauben aber nur die Kopierer selbst, denn jeder Mensch, der selber denkt und schreibt, weiß, wie wenig kompetent er ist und wie viel Mühe es macht, jeden einzelnen Fakt nachzuprüfen. Nicht das Internet ist schädlich, sondern der übertriebene Glaube an sich selbst.

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Die Welt und ein Land, eine Familie oder ein Mensch verändern sich ständig, obwohl sie versuchen, den status quo ante – den Zustand vor der Veränderung –  so lange wie möglich zu halten.

Ständig betonen wir, wie wir uns treu bleiben. Außen, sagen wir, sind wir verändert, innen aber gleich, der gleiche Mensch. Und je länger die hier einzusetzenden Jahre sind, desto absurder wird der Vergleich. Niemand ist mit fünfzig so wie mit fünfzehn. Wir haben vergessen und verdrängt, wie unsicher, wie kindlich, wie energiegeladen, wie sexualisiert, wie abhängig wir mit fünfzehn Jahren waren. Wir wollen nicht wissen oder hören, wie abgeklärt, wie uninteressiert, wie müde, wie gelangweilt, wie weltabgewandt wir mit fünfzig Jahren – gemessen an unserem Tempo nur fünfunddreißig Jahre vorher – wir dahinschleichen. Und nichts wird besser. Während  die meisten Menschen den Alterungsprozess als Schmach, jedenfalls als Abbau der Kraft erleben, entwickelt sich die Welt um uns rasant: einerseits auch in den Abgrund von Alterung und Verfall – und man staunt, wie desolat ein so reiches und ordentliches Land wie unseres an einigen Stellen aussieht -, andererseits in den Fortschritt und in das Wachstum, vor dessen vermeintlicher Unermesslichkeit Kritiker seit Jahrzehnten warnen. Würden wir auf Teile des Wachstums verzichten, könnten wir den Verfall aufhalten. Es gibt leider sehr viele Beispiele für ungebremstes Wachstum, das uns direkt schadet. Aber es gibt auch zwei jüngste Beispiele, wie die Ungebremstheit doch angehalten werden kann: schon zehn Millionen Menschen in Deutschland sind Vegetarier, weil Wachstum und Wohlstand hier nicht nur mit Tierleid kollidieren, sondern auch mit direkter Verseuchung der Umwelt mit Gülle und Kohlendioxyd, Methan und Stickoxiden. In den Städten unbemerkt tobt jedes Jahr auf deutschen Feldern der Kampf zwischen Bauern und Umweltbehörden um die Ausbringung von Abermillionen Litern Gülle trotz gefrorenen und überwässerten Bodens. Und: die Verwendung von Plastiktüten konnte in den letzten fünf Jahren um mehr als die Hälfte reduziert werden. Der Teppich aus Plastikteilen hat im Nordatlantik inzwischen die Größe von Mitteleuropa erreicht. Diese beiden Beispiele zeigen, wie sehr und wie schnell wir die Welt verändern können. Nicht das Kapital alleine macht unsere Welt kaputt. Das Kapital kann nur schaden, wenn wir kooperieren, indem wir konsumieren. Je größer der Wohlstand, desto größer der Schaden – diese Formel muss, als visionäres Ziel der Menschheit, umgedreht werden, indem jeder, der am Wohlstand teilhat, diesen auch weiter teilt. Das Bild des Teilens ist im Internet Allgemeingut der Menschheit geworden. Jetzt müssen wir nur noch lernen, statt die Fotos unseres Mittagessens unser Mittagessen zu teilen, am besten sogar, darauf zu verzichten.

Die ununterbrochene Veränderung kann man nicht mit Parolen oder politischen Parteien aufhalten, auch nicht mit Weltkriegen. Politische Bewegungen werden aber immer wieder versuchen, ihren Wählern zu suggerieren, dass es pro Problem eine Lösung ohne Nebenwirkungen gibt. Das toxisch-aggressive Ehepaar aus Merzig im unterhöhlten Saarland, übrigens ein wunderschöner und uralter Ort, versucht immer wieder mit dem Abspielen der gleichen Schallplatte, heute Vinyl genannt, uns zu erschrecken: er mit seinem Antiamerikalied, sie mit ihrem Song ‚Enteignet die Banken bumsfallera‘. Der Nutzen dieser beiden ist etwa so groß wie der einer Plastiktüte im Nordatlantik.

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Mit der am 18. Juli 1870 beschlossenen und verkündeten Unfehlbarkeit des Papstes war natürlich nur gemeint, dass der Papst in Streitfragen das letzte Wort habe. Aber Pius IX. versäumte nicht gleichzeitig mitzuteilen, dass, wer dem widersprechen würde – was Gott verhüten möge – ausgeschlossen würde. Man bemerkte nicht, dass man sich damit letztlich selbst ausgeschlossen hat: weltweit sind nur noch ein Viertel der Menschen Christen, in Deutschland sind in beiden Konfessionen weniger als die Hälfte, weniger als ein Zehntel geht regelmäßig zum Gottesdienst.

Es ist immer das gleiche: jemand findet etwas heraus, und dann maßt er oder seltener sie sich an, dass es nur noch diese eine Wahrheit gibt, alle anderen werden ausgeschlossen, und dass es nur diese eine berechtigte, beamtete und heilbringende Person gibt, die sie vertreten darf, weil alle anderen mit Irrtum und Sünde bestraft sind. Wahrscheinlich war Hitler wirklich der größte Sozialdarwinist. Immer wieder hat er in seinen bis zu vier Stunden dauernden Monologen dieselben Geschichten vom Recht des Stärkeren erzählt. Offensichtlich hatte er weder Rousseau noch Darwin gelesen. Putin hat Dogin gelesen und weiß daher, dass die Ukraine keine eigenständige Nation und die russische Armee die zweitstärkste der Welt ist. Deshalb kann, was da geschieht, dass die Russen nämlich haushoch verlieren, nicht richtig und schon gar nicht gut sein. Es ist der ewige Kartoffelkäfer, der vom Feind auf die eigenen Felder gesetzt wird. Aber das gilt natürlich auch umgekehrt: Wir waren doch immer Pazifisten und wissen, dass man mit Waffen keinen Frieden schaffen kann. Weil wir recht haben, muss sich die Ukraine ergeben.

In jedem Glauben und in jedem Wissen steckt der Virus der Unfehlbarkeit. Erst glauben wir uns richtig, dann wissen wir uns wichtig. Wir hätten längst vergessen, dass die einst mächtige Kanzlerin in der Griechenlandkrise gesagt hat, was sie tut, sei alternativlos, wenn sich nicht nach der Flüchtlingskrise eine Partei namens Alternative gegründet hätte, die die Regierung jagen wollte, nun aber – durch ihren eigenen Unfehlbarkeitsanspruch – sich selbst mangels Kompetenz und Durchhaltevermögen aus dem Rennen genommen hat.

Bei Putin sind trotz dieser Übereinstimmung mit einem Grundprinzip menschlichen Verhaltens zwei Dinge dennoch absonderlich.

Er hat sein Handwerk im KGB gelernt, aber die Verhaltensmuster der Geheimdienste sind nicht so gravierend unterschiedlich. Sie gleichen sich auch in ihrer Ineffektivität. So musste Putin in Dresden mitansehen, wie seine und die Ostberliner Vasallenregierung vom Hauch der Geschichte weggeblasen wurde. Vielleicht beschloss er da, wie Hitler in Pasewalk, alles anders zu machen. Nun wird er selbst, wie Hitler in Berlin, hinweggeblasen.

Das erste zu beobachtende Absurde ist, dass er auch als vermeintlich allmächtiger Diktator immer wieder dieselben Tricks anwendet, die dadurch natürlich schon lang keine Tricks mehr sind, weil sie von allen durchschaut werden können. Er merkt auch nicht, dass seine ihm jetzt untergebenen Geheimdienstchefs dieselben Methoden anwenden und denselben Korruptionsgrad aufweisen wie er selbst. So sollen die Geheimdienstchefs 100 Millionen Dollar, mit denen Agenten in der Ukraine angeheuert und bezahlt werden sollten, in die eigene Tasche gesteckt haben.    

Die zweite Absonderlichkeit ist, dass so viele Bewohner Russlands, wahrscheinlich weil sie das Grundnarrativ angenommen haben, dass nämlich der russische Nationalcharakter an sich unfehlbar sei, ihrem korrupten, eitlen und letztlich aber verlierenden Führer immer noch glauben. Man muss die Staatsmedien in Rechnung stellen, die Niederschlagung jeder widersprechenden Regung: das ‚wer widerspricht, wird ausgeschlossen‘ dieses seltsamen Papstes, der damit, wie Putin jetzt, seinen eigenen Untergang besiegelt hat.

Es ist schwer an sich selbst zu glauben und dabei vergangene, gegenwärtige und künftige Fehler nicht gegenzurechnen, sondern einzubeziehen: ich bin meine Fehler und Erfolge. Wer den Fehler bei sich sucht, hat den Täter schnell gefunden. Fangen wir noch heute damit an.  

HERR ÜBER DIE ASCHEN

[An evil enemy will burn his own nation to the ground to rule over the ashes.  African proverb]

Jede und jeder kennt die großen Geschichten und weiß, wie sie ausgehen. Aber je mehr Geschichten es gibt, desto geringer wird ihre Strahlkraft. David war ein Hütejunge, der seinen großen Brüdern, die als Soldaten dienten, den Brotbeutel bringen sollte. Er kam genau im richtigen Moment, als nämlich die Motivation des Heeres angesichts eines übermächtigen Feindes gegen Null ging. Als dann noch der berühmteste Philosoph des Landes zur Kapitulation aufrief, griff der König zum allerletzten Mittel: er versprach demjenigen, der das Monster besiegen würde, seine Tochter zur Frau und das halbe Königreich. Selbstverständlich ist aufzugeben eine Option, aber der Mensch – und auch das Tier – neigt dazu, sein ererbtes oder erworbenes Revier oder Reich erhalten zu wollen. Er greift also zu den gleichen Waffen wie der Angreifer, das Monster. Zwischen den beiden Lösungen, die beide zu einem Gleichgewicht führen, liegt aber noch eine dritte Möglichkeit: die Flucht, die weder ein Aufgeben, denn man nimmt das Erworbene als Tradition mit, noch eine Auseinandersetzung mit Blutvergießen und Tod ist. Oder aber der berühmteste Philosoph des Landes hatte Unrecht: seine Voraussetzung, dass der übermächtige Feind nicht zu schlagen sei, war falsch. Auch der König und Oberbefehlshaber kann Unrecht gehabt haben und die gewählten Waffen waren falsch. In der Geschichte greift David jedenfalls zum Katapult und schießt dem Monster sein einziges Auge aus. Vielleicht ist das sogar die Hauptaussage: das Böse sieht die Welt immer höchst verzerrt, weil es nur ein Auge hat. Es kann die Gegenseite gar nicht sehen. Es sieht nur seine Seite. Ceauşescu und Macbeth bemerkten nicht, warum der Wald auf sie zukommt und Massen in Bukarest sich entfernen. Sie waren auf diesem Auge blind. Putin sah nicht, dass die bestellten und bezahlten Menschen, die im Luschniki-Stadion als Claqueure bereit standen und saßen, mit ihren Handys spielten und lebhaft miteinander schwatzten, denn sie klatschten auf Kommando und mussten demzufolge nicht zuhören. Stattdessen freute er sich, der monströse Staatenlenker im 12.000-€-Mantel aus Italien, dass die Claqueure tatsächlich an den von ihm selbst vorbezeichneten Stellen klatschten und Urrraaa riefen. Inzwischen zeigt sich, dass in dem ungleichen Ringen das kleinere Land gewinnen kann, nicht weil es militärisch, sondern weil es moralisch überlegen ist.

Einer von den Davids des zwanzigsten Jahrhunderts wird leicht vergessen: Polen. Nach einer unsäglich tragischen Geschichte der Teilungen und Vereinnahmungen begann das Jahrhundert nicht nur mit dem ersten Weltkrieg, sondern mit dem missglückten Versuch der Bolschewiki, sich Polen nebenbei zu holen und dem erfolgreichen Eingreifen deutscher Freischärler bei der heute vergessenen Teilung Oberschlesiens. Allerdings war Polen in der Zwischenkriegszeit selbst ein autokratisch geführtes, wenn nicht sogar protofaschistisches Land, das seinerseits auch Gebietsansprüche hatte und durchsetzte (polnisches Litauen, mährisches Oberschlesien). Der zweite Weltkrieg jedoch begann mit dem synchronisierten Überfall Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion auf Polen und seiner erneuten Teilung. Die Kombination von Massenmord und apologetischer Propaganda wurde in dieser Zeit nicht erfunden, erreichte aber mit dem ‚Bromberger Blutsonntag‘ und dem Massaker von Katyn vorputinsche Tiefpunkte. Auf deutscher Seite war einer der Hauptprotagonisten Edwin Erich Dwinger (‚Die volksdeutsche Passion‘), auf sowjetischer Seite der stellvertretende NKWD-Chef Wsewolod Merkulow.

Auf deutscher Seite hielt sich lange die propagandistische Version des ‚17-Tage-Feldzugs‘, in dem Polen untergegangen sei. Tatsächlich ist Polen nicht nur nicht besiegt worden, sondern gehörte zurecht zu den Siegermächten des zweiten Weltkriegs. Dass die polnische Kavallerie gegen die deutschen Panzer mit Lanzen vorging, wie auch Günter Grass in den tragikomischen ‚Polnische-Post‘-Kapiteln seines weltberühmten Romans ‚Die Blechtrommel‘ beschreibt, ist nicht dem Anachronismus – wie bei dem legendären, aber gescheiterten Reitergeneral Budjonny – geschuldet, sondern im Gegenteil einem verzweifelten Heroismus. Zwei Exilarmeen, zwei Exilregierungen, der Aufstand im Warschauer Ghetto (1943) und schließlich der Warschauer Aufstand (1944) belegen den ungebrochenen Willen: jeszcze Polska nie zginęła. Nach der letztlich erfolgreichen Westverschiebung Polens begann aber noch einmal eine Phase der nationalen Erniedrigungen: der äußerst erfolgreiche sowjetische Marschall Rokossowski wurde polnischer Verteidigungsminister. Das ist auch ein eklatanter Fall von Überschätzung der Herkunft, er stammte zwar aus Polen, sprach aber kein Polnisch mehr. Kurzerhand befahl er allen polnischen Offizieren, künftig Russisch zu sprechen.

1956, 1970 und 1980 stand Polen nach der DDR, aber vor Ungarn und der Tschechoslowakei an der Spitze der Ausbruchsversuche aus dem gescheiterten Staatssozialismus, auf dessen Tribünen von Moskau handverlesene und gesteuerte Marionetten agierten, jedoch meist nur winkten statt wirkten.  

Viele polnische Menschen waren Helden, viele aber auch Opfer, und etwa ebenso viele gingen ins Ausland: nach Deutschland, in die USA und nach Kanada, nach Schweden und neuerdings auch nach Großbritannien.

Polen ist und bleibt der unbekannte David, der nie aufgegeben hat. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Polen so viele Ukrainerinnen und Ukrainer aufnimmt und Deutschlands Opportunismus scharf attackiert. Und es wundert uns auch nicht, dass der selbst ernannte Hobbyhistoriker Putin aus all den Desastern seiner Autokratenkollegen nichts gelernt hat als lange Tische gegen Viren. Immer, seit Sulla (138-78 BC), behaupten sie alle, dass sie den Staat retten wollen, die Nation, die verlorenen Brüder – denn Schwestern zählen für sie nicht – heimholen (Irredentismus). Immer liegen ihre Ziele in einer nebulösen Vergangenheit. Immer sieht sich der Führer in einer pseudoreligiösen, ingeniösen Position, die claqueristische oder echte Verehrung hat kultische Züge. Immer wird auch das eigene Land in Schutt und Asche gelegt.

ENTITÄTEN UND ID ENTITÄTEN

 

Nr. 215

Nichts ist mit nichts identisch, auch nicht mit sich selbst. Diesen Satz würde die Hälfte der Bevölkerung unterschreiben, aber die andere Hälfte könnte aufschreien: außer mir, und mein Nachbar denkt das gleiche. Die Gruppenbildung wird heute durch die Echowirkung der neuen und für praktisch jeden verfügbaren Medien erleichtert und verstärkt. Wirft jemand seine Wahrheit in den Raum, so springt sofort jemand herzu, der sie bestätigt. Sie bestätigen sich beide und finden bald einen Dritten, der die Welt auch so sieht. Die Gruppen lesen über lange Zeiträume nur ihre eigenen Botschaften. Es wäre falsch zu sagen, dass ihre Begriffe postfaktisch wären. Sie haben mit Fakten nichts zu tun. Es sind zu Fakten stilisierte Ängste, Befürchtungen und Vorstellungen, die zu Gewissheiten werden, je mehr sie sich wiederholen.

Man begreift, wenn man die Gegenwart genau betrachtet, den Hexenwahn besser. Er war, so wie diese eigenartigen Echos heute, eine Mischung aus tatsächlicher Angst und Denunziation. Denunziation ist auch Ablenkung von der eigenen Verantwortung und von der eigenen Angst. Das ist verständlich. Aber Denunziation ist auch so ziemlich das Niedrigste, besonders wenn sie mit der scheinbaren Allmacht von Kirche oder Staat kombiniert auftritt und den Denunzierten zum hilflosen Opfer einer omnipotenten Ranküne macht. Die Denunziation im Verbund mit der Macht ist die Verschwörung, die als Projektion von den Denunzianten den Denunzierten vorgeworfen wird. Wer anders hat mit dem Teufel gebuhlt als der Nachbar oder die Nachbarin, die die Nachbarin dem Feuer oder der Vierteilung auslieferte? Hoffentlich erinnern sich die Reformationsfeierer im nächsten Jahr, dass im protestantischen Minden viermal soviel Hexen verbrannt wurden als im katholischen Köln. Es verbessert oder modernisiert sich nie alles gleichzeitig. Manches bleibt aus guter alter Gewohnheit beim alten. Fast alle der Dutzenden Abspaltungen von den Protestanten waren Fundamentalisten. Nur die zurück gehen, wissen den Weg.

Die Krise der Demokratie, nicht ihr Ende, scheint nicht auf einem Mangel an Lebensmitteln zu beruhen. Die deutsche Kanzlerin betont, dass es uns nie besser ging als gerade jetzt, aber sie trifft damit nicht das Defizit, unter dem ihre Nichtwähler leiden. Ich wohne in einer Kleinstadt im äußersten Nordosten Deutschlands. Wenn hier in einer Diskussion Kritik vorgebracht wird, dann reagiert die führende Gruppe reflexartig mit immer derselben Argumentation: aber wir haben doch das Schwimmbad, die Freilichtbühne, das Parkfest und die neue Straße. Die neue Straße ist vierzig Jahre alt, von daher kommt auch die führende Gruppe. Aber sie versucht, wenn auch mit überholten Mitteln, die Identität, oft auch Heimat genannt, zu bewahren. Dagegen werden die Kreisreformen, die es hier seit über hundert Jahren gibt, die Identitäten der Menschen immer weiter abbauen. Ein paar Jahre später jedoch besteht wieder die Chance, dass genügend Neubürger die alte Zugehörigkeit nicht mehr kennen.

Wenn sich große gesellschaftliche Systeme im Umbruch befinden, reagieren die Menschen panisch. Aber dann sollten Institutionen da sein, die die Menschen beruhigen, ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln. Aber diese Institutionen müssen sich gerade auch in diesem Moment zum Reformieren zurückziehen. Der Staat schließt gerade dann seine Luken, wenn er am meisten gebraucht wird. Wir stehen konsterniert vor dem Häuschen mit dem Schild: Geschlossen aus Betriebsablaufgründen. Aber da drinnen wird nicht nachgedacht, sondern es werden die alten Schilder neu sortiert: Politikverdrossenheit, Modernisierungsverlierer, postfaktisches Zeitalter als Ersatz für schnelllebige Zeiten. Ein Schild wurde entsorgt: Alternativlosigkeit. Am besten ist: in Zeiten wie diesen.

Aber es geht nicht darum Politiker dafür zu schelten, dass sie auch nur Menschen sind, dass sie auch nur zwei Hände und einen Kopf haben. Es ist eher erstaunlich, dass es immer wieder Menschen gibt, die es für ein bisschen Macht und bei uns in Deutschland nicht so viel Geld auf sich nehmen, ihr ganzes privates Leben zu destabilisieren, um nicht zu sagen zu zerstören. Und bei weitem nicht jeder von ihnen kommt in die Geschichtsbücher, was ein weiteres Motiv wäre. Viele verderben sich auch noch die Spanne zwischen dem Ende der Wirkmächtigkeit und dem Geschichtsbucheintrag.

Ein winziges Detail aus der jüngeren Geschichte mag veranschaulichen, dass der Zusammenhang zwischen ökonomischem und politischem Wohlbefinden schon lange nicht mehr entscheidend ist. Elena Ceaucescu rief ihrem Mann, dem stürzenden Diktator auf dessen letzter, scheiternder Kundgebung zu: Gib ihnen hundert mehr, denn der Lohn war in kommunistischen Diktaturen ebenfalls vom Staat diktiert. Bekanntlich haben die beiden den Tag nicht überlebt. Die letzte Rentenreform in Deutschland hat ebenfalls keine stabilisierende Wirkung auf CDU und SPD. Bedauerlich ist, dass es keine Aussicht auf eine andere Koalition gibt. In Großbritannien haben ebenfalls die älteren Wähler dafür gesorgt, dass die Taschenlampen ausgegraben wurden, um den Weg zurück zu finden: zurück aus Europa. Ein weiteres Ergebnis des Brexit könnte sein, dass die seit 1701 bestehende Personalunion des englischen Königshauses mit dem schottischen beendet wird.

Wir können uns tatsächlich unserer Identität nur rückwärtsgewandt versichern, da niemand die Zukunft voraussehen kann. Die Industrialisierung wurde nicht nur als Bedrohung gesehen, sondern fand sogar in einer ästhetischen Bewegung die wir heute noch schätzen, ihre Begleitung, nämlich in der Romantik. Und im allgemeinen Sinne ist Romantik heute immer noch: sich aus der allzu mobilen Welt zurückziehen, eine Kerze ins Fenster stellen und am besten zu zweit träumen. Es gab vehemente Widerstände gegen die Mobilitätsschübe durch die Eisenbahn und durch das Automobil, gegen die Entfremdung durch die Industrialisierung und die am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einsetzende Massenproduktion, der wir die Globalisierung verdanken. Es gab Proteste gegen die Amerikanisierung der Populärkultur in den zwanziger Jahren, die im Rassismus der Nazis ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Es gab in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg ein aus heutiger Sicht völlig unverständliches, fast pathologisches Festhalten  an alten, absolut untauglichen Werten, die keine waren: Prügelstrafe, Zuchthaus, Ächtung, Verbote gegen Amerikanisierung, Verweiblichung, Gleichmacherei, lange Haare, enge Hosen. Jugendliche wurden in beiden deutschen Ländern als halbstark bezeichnet von Männern, die ihre Arme und Beine und den Krieg verloren hatten. Wenn James Dean im Kino weinte, schrien diese Männer in ihrem Nazijargon etwas von Verweichlichung.

Obwohl es höchst unangenehm ist, mit Trump und Frauke Petry zu leben, letztlich beunruhigend ist es nicht. Sie werden vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen. Das familiär-politische Korruptheitsbündel der Trumps, Erdoğans und Putins dieser Welt ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil es so gestrig ist und eine Identität vorspiegelt, die es nie wirklich gegeben hat.