KUTUSOW. EIN NACHRUF

2017 sprach ein russischer Generalmajor namens Roman Kutusow zu Kadetten einer Militärschule, von denen es in Russland sehr viele gibt. Es komme, sagte der General den Kindern und Jugendlichen, letztlich darauf an, den Gegner zu vernichten. Das ist die auch einstmals im Warschauer Pakt übliche Formulierung gewesen, den möglichen Kriegsverlauf zu projizieren: der Gegner, die NATO, überfällt den Warschauer Pakt, der weicht kurz zurück, um dann aber in einer gewaltigen gemeinsamen Welle ‚den Gegner auf dessen Territorium zu vernichten‘. So war der Plan, aber bekanntlich hat die NATO weder den Warschauer Pakt noch eines seiner Mitgliedsländer überfallen. Die Sowjetunion brach zusammen, was einige wenige als größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts ansahen, andere dagegen als Befreiung, Erlösung und Herausforderung zu einem demokratischen  Neubeginn empfanden. Der legendäre Generalfeldmarschall Kutusow, dessen Heer in der Schlacht von Borodinio von knapp 600.000 Mann auf 81.000 Soldaten schrumpfte, wurde von seinen Zeitgenossen kritisiert und verspottet, von der Sowjetgeschichtsschreibung dagegen glorifiziert. Dies erinnert an den Ukrainekrieg, den Putin am 24. Februar, wie man früher sagte, vom Zaun brach, und der aus einer unendlichen Reihe von Schandtaten, aber auch eben aus unzähligen Lügen besteht. Jener schneidige Generalmajor Roman Kutusow fiel als zehnter General der russischen Seite. Das ist insofern merkwürdig, als die meisten dieser zehn Führer durch einfache Funkortung der Ukrainer ausfindig gemacht wurden und dann starben. Aber warum sind so viele Generäle so weit vorn, dass es für die ukrainische Armee doch wohl eher leicht zu sein scheint, sie zu  Fall zu bringen? Der Verlust der Generäle mag nicht so schlimm sein, weil es in einer derart militarisierten  Gesellschaft wie der russischen kein Problem ist, neue Generäle zu benennen. Wenn Generäle so weit nach vorne beordert werden, ist das ein Zeichen von taktischer und Motivationsschwäche. In Moskau stößt Putin wilde Drohungen aus, aber in der Ukraine, die man offensichtlich in wenigen Tagen besiegt haben wollte, wird alle vier Wochen die Strategie geändert, ohne dass man auch nur irgendein Ziel erreicht. Erst ging es gegen Kiew, wir erinnern uns alle an den 60 km langen Konvoi, der die Einnahme von Kiew flankieren sollte. Er ist spurlos im Schrott verschwunden, ebenso wie bislang weit über 1800 Panzer. Dann ging es gegen den Süden. Mariupol, eine mittelgroße Stadt nahe der russischen Grenze, wurde in zwölf (!) Wochen dadurch eingenommen, dass es vollständig zerstört wurde. Nun geht es gegen den Osten der Ukraine, der ohnehin schon von den Separatisten beherrscht wurde. Diese Gebiete (Luhansk und Donezk) wurden schon seit 2014 als russisches Territorium angesehen, so dass man heute in echt Trumpscher Weise Opfer und Täter umkehrt und behauptet, der Krieg hätte damit begonnen, dass das ‚Kiewer Regime‘ Russland  –  also die Separatistengebiete – angegriffen habe. Wenn es ganz schlimm aussieht, droht Putin wieder einmal mit dem Einsatz von Atomwaffen und seine Apologeten innerhalb und außerhalb Russlands fangen schon einmal an zu zittern. Wir aber ahnen: die Atomwaffen sind etwa in dem Zustand wie die Luftwaffe, die Panzer und die demotivierten Soldaten, von den toten Generälen ganz zu schweigen.

Aber vielleicht ist alles ganz anders. Dafür spricht das merkwürdige Verhalten zweier Vasallen des zaristischen Despoten, Lukaschenko, Belarus, und Toqajew, Kasachstan. Obwohl sich beide Hilfe aus Moskau erbaten und auch erhielten, um ihre wankenden Throne ein letztes Mal zu stabilisieren, haben sie sich erstaunlicherweise verbal von Putin verabschiedet. Lukaschenko meinte zu Beginn des Krieges, dass dann jetzt ja wohl jeder seine Grenzen bis hin zu Cingiz Khan revidieren kann, und Toqajew sagte auf dem Petersburger Gipfel, dass sein Land keine Separatistenregimes anerkennt. Dies deutet darauf hin, dass Putins Krieg von seinen Vasallen realistischer – als nicht gewinnbar – gesehen wird. Dies deutet – ich gebe zu, dass das reine Spekulation ist – weiter darauf hin, dass es auch in Russland nicht nur eine Opposition gibt, die von Nawalnij über protestierende und sprayende Jugendliche und das Land scharenweise verlassenden Eliten bis hin zu Generälen reicht. Die Generäle hatten jahrelang die Berichte über den Zustand der Armee  gefälscht. Sie haben Dutzende von Millionen Rubel – gut, das ist nicht viel – verschwinden lassen.  Während wir unsere Armee aus pazifistischen und Gründen der Leichtgläubigkeit vernachlässigt haben, haben die russischen Generäle, Manager und Propagandisten mit ihrem demonstrativen Militarismus – Junarmija, Kadettenschulen, kultische Veranstaltungen – ihre Armee verkommen lassen. Es ist weder gelungen, die schändliche und tödliche Tradition der Dedowschtschina zu beseitigen, noch ein stabiles Unteroffizierskorps aufzubauen. Es gibt weder einen effizienten militärisch-industriellen Komplex, noch ist die Entwicklung von Waffen ohne Importe aus dem westlichen Ausland möglich. Putin, der nach über 130 Tagen erfolglosem Krieg dies bemerkt zu haben scheint, verkündet nun, dass er eine effiziente, innovative Wirtschaft als Antwort auf den Schlamassel aufbauen will. Autokraten leben aber immer in verlotterten Systemen, so eigenartig das ist, ihre Wirtschaftsminister heißen Schlendrian und Korruption. Die Wirtschaft endlich zu reformieren, ist eine sehr gute Idee, nur braucht man dafür mindestens zehn Jahre ohne Putin.

Putins Tage sind aber ohnehin gezählt. In einem ukrainischen blog hieß es vor ein paar Tagen: DIE HÖLLE HAT SCHON GEÖFFNET, Schiller schrieb in seinem antityrannischen Drama: MACH DEINE RECHNUNG MIT DEM HIMMEL, VOGT. Es ist möglich, dass er diesen unmöglichen Krieg aus innenpolitischen Gründen begann. So wie Erdoĝan den Putsch der Generäle inszenierte, um von seinem wirtschaftspolitischen Desaster abzulenken, so wollte Putin mit dem Sieg über die Ukraine seine Hybris demonstrieren, die ihn unangreifbar macht. Aber Hybris ist ein Krebsgeschwür. Dieses und seine Krankheit, vielleicht ein weiteres Krebsgeschwür, rasen aufeinander zu und werden noch vor Ende dieses Jahres Putin dorthin katapultieren, wo er hingehört.  Mit ihm enden ein weiteres und hoffentlich letztes Mal Zarismus und Nationalbolschewismus. In hundert Jahren werden die Schulkinder nicht wissen, wer das alte Russland zu Grunde richtete: Rasputin oder Putin.

Tolstoi lässt Kutusow während der Schlacht bei Borodino sinnieren:  ‚Sein in langjähriger Kriegserfahrung geschulter Greisenverstand wusste, dass kein einzelner Mensch Hunderttausende, die um ihr Leben kämpfen, zu lenken vermag und dass der Ausgang einer Schlacht weder durch die Anordnungen der Oberkommandierenden noch durch das Gelände, auf dem die Truppen stehen, noch durch die Anzahl der Kanonen oder der Gefallenen, sondern durch jene unberechenbare Kraft, die man den Geist der Truppe nennt, entschieden wird, und darum beobachtete er diese Kraft und suchte sie zu lenken, soweit das im Bereich seiner Macht stand.‘*

25. 07. 2022

*Lew Graf Tolstoi, Krieg und Frieden, Leipzig 1977, Band 3, S, 308

JEDE KETCHUPFLASCHE HAT EINEN NAMEN…

Nr. 329

Über ‚CAPERNAUM‘ von Nadine Labaki

…und ein Herstellungs- und ein Verfallsdatum, nur illegale Flüchtlinge nicht, sagt der Menschenhändler auf einem Beiruter Markt, der zum Schein und zur Geldwäsche einen Marktstand betreibt und den Menschenfreund spielt. Der Film wiederum spielt mit der Realität. Die Slums von Beirut kommen dem Zuschauer wie in einem Dokumentarfilm ganz nahe. Und deshalb wirkt der unglaublichste fiktive Fakt ebenfalls realistisch: dass der kleine Zain seine Eltern verklagt, so wie alle Kinder in den Slums und auf den Flüchtlingsbooten uns, die Erwachsenen dieser Zeit, verklagen müssten, weil wir der Verantwortung, die wir uns entweder durch sie, die Kinder, oder durch unser luxuriöses Leben aufgeladen haben, nicht gerecht werden. Aber auch die Eltern des ungeheuer starken Zain sind Opfer ihrer Unbildung, ihrer Abhängigkeit, ihrer Mutlosigkeit und ihres Fatalismus. Dieses ganze Leben handelt nur von Müll und Leid. Alle Gegenstände, die man sieht, stammen aus und kommen wieder in den Müll. Nichts ist etwas wert. Es gibt keine Werte. Und da das Leben ebenso wenig wert ist, ist die zweite Komponente, das Leid, noch stärker als der Müll. Und trotzdem geht es um Fürsorge und Zuversicht.

Kapernaum – in verschiedenen Schreibweisen – ist sowohl eine biblische als auch eine historische Stadt. Yesus hat mehrfach in ihr gelebt und gelehrt, allerdings nicht in der vor hundertfünfzig Jahren ausgegrabenen Synagoge, sondern in ihrem Vorgängerbau. Mehrere seiner Jünger stammten von hier. Einst wurde Yesus von einem römischen Hauptmann gebeten, dessen Knecht zu heilen. Und da er nicht glaubte, dass Yesus dafür in sein Haus kommen musste, das der Hauptmann als zu klein und niedrig empfand, wurde er von Yesus vor dem versammelten Volk für seinen Glauben gelobt. Kapernaum versank 746 in einem Erdbeben in der Wüste. Vielleicht hat es dann so ausgesehen, wie die Slums von Beirut heute. Der Glaube des Hauptmanns an Heilung und seine Fürsorge ließen ihn zum allgegenwärtigen und noch heute verständlichen Symbol werden.

Der erste Mensch, um den sich der schon mit der Arbeit im Laden des Vermieters überforderte Zain kümmert, ist seine Schwester Sahar. Sie mag die Lakritze des Vermieters und Arbeitgebers Assad, aber Zain ahnt, dass sie an ihn verkauft werden soll. Was er nicht ahnt, ist, dass er sie nie wiedersehen wird. Erst als er den Kampf um seine Lieblingsschwester verliert, verlässt er die Bretterbude ohne Betten und ohne Liebe. Die schöne Äthiopierin Rahil, die so gerne Tigest hieße und für gefälschte Papiere spart, vertraut ihm ihren kleinen, nirgendwo registrierten Sohn Yonas an, um den er sich bis zur Verzweiflung sorgt. Zain ist ein ungeheuer durchsetzungsfähiger Junge. Er besorgt ein Skateboard, auf das er einen Topf montiert, in dem er den ungeheuer folgsamen hochempathischen kleinen Yonas durch die Slums und Märkte navigiert. Ein syrisches Flüchtlingsmädchen gibt ihm marktwirtschaftliche Tipps und vor allem eine Zukunftsperspektive: in Schweden, sagt sie, haben die Kinder eigene Zimmer, wo die Erwachsenen anklopfen müssen. Zain verkauft zunächst den Hausrat, der im Gegensatz zu dem seiner Eltern wenigstens verwertbarer Müll ist. Leider verkauft er auch wieder das aus Schmerztabletten gewonnene Rauschwasser, was ihn der Gewalt der Halbstarken unterliegen lässt. Man vergisst, wie der Richter in der Rahmenhandlung, ständig das Alter des kleinen Zain.

Die ganze Zeit überlegt man als Beiwohner dieser Tragödie, die aber immer wieder durch das Lächeln des Schützlings Yonas aufgehellt wird, den Zain wider allen Anschein stets als seinen Bruder ausgibt, welches Leid das größte ist: der Verlust der Schwester, das Aufbegehren gegen die verantwortungslosen Eltern, die Überforderung mit Yonas, die Verhaftung von Rahil, der Mutter des Yonas, der Verlust des Geldes, der endliche Verkauf des Yonas an den Menschenhändler, der Mordversuch an Assad, der für den Tod der Schwester verantwortlich ist, das Gefängnis in Beirut, die Zeugenaussage der Eltern vor Gericht. Es ist eine Kette von Leid und Müll und Tod.

Im Gefängnis, dessen Zustände für uns nicht erzählbar sind, tritt eine christliche Gruppe auf, die hilflos, geradezu albern wirkt, aber als sie eine christliche Schnulze singt, wirkt plötzlich die Kraft der Musik. Nach der Liebe ist die Kunst die zweite große Kraft. Die Musik des Films – von Khaled Mouzanar, das ist der Ehemann von Nadine Labaki – ist eine bezaubernde Mischung aus orientalischem und elektronischem Mirakel. Man vergisst sie streckenweise, genauso wie man vergisst, dass man nicht in einem Dokumentarfilm sitzt.

‚Capernaum‘ erzählt eine große Geschichte mit großen Mitteln. Die Unmittelbarkeit erinnert an Iñarritus ‚BABEL‘, aber es geht um etwas anders. Es geht darum, dass wir übersehen, dass in dem Müll und Leid und Tod der Slums der großen Städte, die nach dem Vorbild der europäischen und nordamerikanischen großen Städte gewachsen sind, nur dass in ihnen statt Industrie nichts als falsche Hoffnung blüht, dass in diesen Slums die Grundwerte der Menschheit weiter gültig blieben, entgegen dem Anschein, der einerseits durch Menschenhändler und andere Kriminelle, andererseits durch den repressiven Staat entsteht. Der Staat ist aber gleichzeitig auch der Bewahrer ebendieser Werte. Ein pensionierter Richter, der in der Spencer-Tracy-gleichen Rolle (‚Das Urteil von Nürnberg‘) die Hilflosigkeit des Staates, der Gesellschaft und ihrer Institutionen, aber auch ihre Funktion als Korrektiv und Katalysator zeigt. Nadine Labaki, die Filmemacherin, spielt sich selbst, sie ist die Anwältin, die zu einer Nebenrolle verdammt ist.

Tolstoi schon stellte die Frage, was aus dem Intelligenz- und Moralpotential all der Menschen wird, die nicht in die von ihm gegründete Schule gehen konnten. Wir müssen uns fragen, warum wir die Kraft dieser Kinder aus dem Müll vergeuden, statt sie zu schützen und zu nützen. Die Zukunft der Menschheit wird nicht Industrie mit Menschenhand sein. Damit die großen Städte, die anscheinend nicht verhinderbar sind, zu Städten der Hoffnung werden, brauchen wir verschenkbare Bildung, nicht verschenkte. Die trostlosen Eltern der Kinderschar in diesem Film überlegen kurz, ob sie dem Wunsch Zains nicht nachgeben sollten und ihn zur Schule schicken. Ihr einziges Motiv ist aber, dass er dort kostenlose Schulkleidung und Lebensmittel bekommt. Den Wert bedruckten Papiers können sie nicht erkennen, weil sie es weder haben, noch lesen könnten, wenn sie es hätten.

Libanon ist ein religiös und politisch zerrissenes Land. Aber schon in der Antike hatte es eine Scharnierfunktion zwischen Orient und Okzident. Es hat großartige Dichter hervorgebracht, die hierzulande niemand kennt. Labaki lässt einige ihrer Protagonisten so sprechen, wie unser Klischee von Dichtung im Orient geht. Aber vielleicht ist das gerade der Realismus?