SCHNITTMUSTER

 

Nr. 193

Es ist wohl absurd anzunehmen, dass das, was man sieht, das ist, was ist oder was man denkt, dass es wäre oder wovon man glaubt, dass es war. Und diese Feststellung mag so trivial sein, wie das Wort ‚Feststellung‘ selbst, denn man kann nichts feststellen, auch die Mechanik, aus der das Wort stammt, nicht. Alles, was man feststellt, lockert und überlagert sich und vergeht wie das nicht Festgestellte. Alle Kulturen schieben sich übereinander und koexistieren mehr, als dass sie sich bekämpfen oder vergessen.

Der Bischof von Ulm verurteilte das Fliegen als unmöglich und unnötig. Der Bischof von Köln verfluchte den Bahnhof neben seinem Dom, der seinen Standort einer demokratisch-ökonomischen Entscheidung verdankte und zur Säkularisierung mehr beitrug als das Kommunistische Manifest. Der Bischof von Florenz benannte seinen Bahnhof nach der neben ihm liegenden Kirche Santa Maria Novella. Wer war wem eine Neuheit, wer novellierte was? Die Kirche erscheint mit ihrem gotischen Innenraum so schlicht, wie der Bahnhof chaotisch. Der Bahnhof bildet die sich kreuzenden Wege der Reisenden nicht ab. Das hundert mal fünfzig Meter große Fundamentalkreuz der Kirche sollte sicher eine der vielen Grundlegungen eines, wenn nicht ewigen, so doch dauerhaften Fundamentalismus werden. Zu unserem Glück durchkreuzten sich alle diese Pläne wie von selbst. Es handelt sich einfach um Gebäude von Menschen für Menschen, Gebäude voller Wirklichkeiten und Metaphern. Der sehr junge Maler Masaccio (‚der Koloss‘) malte in dieser Kirche, die damals noch nicht neben dem Bahnhof stand, das erste Bild mit Zentralperspektive, das so dreidimensional wirkt, dass man von weitem annehmen könnte, dahinter läge eine weitere reale Kapelle. Ist es das erste dreidimensionale Bild, ist es das erste erhaltene dreidimensionale Bild oder ist es das erste dreidimensionale Bild, das wir kennen? Wir wissen es nicht. Wir wissen nichts. Alles, was wir wissen, müssen wir vorher glauben und können wir hinterher vergessen.

Gebäude, Gemälde, Gedanken und Gefühle gehen ineinander über. Wir wissen nie, ob wir gerade verzaubert oder entzaubert sind. Wir brauchen beides wie den Hunger und die Sätte, den Schlaf und die Wachheit. Alle Kritik an neuen Medien oder neuen Verhaltensweisen ist demzufolge nichts weiter als die Fortschreibung eines immer wirkenden Generationswiderspruchs. Die Verzückung, die die Pilger im Mittelalter angesichts riesiger romanischer oder gotischer Gebäude und der in ihnen vollbrachten Heilungen und anderen Wandlungen empfanden,  steht in nichts den Verzückungen nach, die durch die durch die permanente Selbstkopierung durch Selfies oder andere Fotos in so großer Zahl sich sozusagen selbst reproduzieren, dass man aus ihrer Summe das lange gesuchte Gesamtkunstwerk herstellen könnte. Dazu passt, dass Milliardäre sich jetzt selbst klonen lassen, weil sie ernsthaft glauben, dass sie mit dem Geld identisch wären und außer Waren auch Sinn kaufen könnten. Aber das eben ist nicht neu, denn der Mensch der Gotik glaubte genauso widersinnig, die Wundmale des gekreuzigten und gepfählten und gehängten Vorfahren an und in sich zu spüren. Er kopierte das Leid und das Glück anderer Menschen, kumuliert in der einen, dann aber millionenfach reproduzierten Metapher.

Kulturen folgen ebensowenig wie Generationen aufeinander. Sie schieben sich in- und übereinander wie die uns heute völlig unverständlichen Schnittmusterbögen, die noch vor wenigen Jahren Zeitungen beigelegt waren, damit man nach ihnen billig nähen konnte. Heute ist alle Billigkeit nicht zu unterbieten. Der alte Mann oder der junge Junge, die am Straßenrand die solitäre Kuh hüteten, die einer Familie eine ausgewogene calcium- und fettreiche Ernährung ermöglichte, sind zur Karikatur einer Gesellschaft geworden, die zum zweiten Mal im Butterberg ertrinkt. In jedem Menschenleben treten solche höchst gegensätzlichen Bilder auf. Die Paradigmen menschlichen Wirtschaftens und Verhaltens wechseln vielleicht immer noch alle fünfzig Jahre. Die Beschleunigung, nicht die Geschwindigkeit, mag eine Verzauberung sein. Die Entzauberung tritt ein, wenn man am Ende des Lebens das Gleiche erblickt, wie die Alten zu sehen glaubten, als man selbst jung war. Die Pest von 1348 ist nicht nur eine Krankheit gewesen, sondern ein tiefsitzender Schrecken und insofern ist sie mit dem Atombombenabwurf über Hiroshima von 1945 vergleichbar. Die Pest reproduziert und potenziert sich durch den Floh der Ratte, die Zerstörungskraft der Atombombe gebiert sich aus der Spaltung des einst für das kleinste Teilchen gehaltene Atom, dessen Name die Metapher für das nicht mehr Teilbare war. Die Vorstellung und der Wunsch nach solcher Zerstörungskraft mag aus dem Gedanken des Tsunami entstanden sein, der am Allerseelentag 1755 Lissabon und die gesamte christliche Welt so sehr erschütterte, dass sie die Aufklärung hervorbrachte. Die Asche des Vulkans Tambora gebar das Fahrrad, indem im Jahr ohne Sommer 1816 die Pferde aufgegessen wurden oder verhungerten, jedenfalls fehlten. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Schlechte das Gute gebiert, sondern dass sie nicht auseinanderzuhalten sind. In die eine Kultur steckt die andere ihre Zunge hinein. Was man sieht, ist nicht das, was ist. Was ist, sieht man nicht.

Als Brunelleschi die berühmte Kuppel des Doms Santa Maria del Fiore in Florenz errichtete, wollte er eine Kuppel bauen, aber wir erfreuen uns an dem Gefühl der Treppe in der doppeltschaligen Wand, an dem Gedanken der zauberhaften Technologie. Es gibt höhere Gebäude, es gibt schönere Gedanken, aber es gibt dieses Gefühl: in sich selbst nach oben zu gelangen, selbst der Aufstieg zu sein, von dem man träumte, mit den Augen zu hören, wie es bei Shakespeare heißt, nur in der Kuppel des Florentiner Doms. Wenige Meter davon entfernt hat ein ganz junger Maler sozusagen aufgeschrieben, was seine großen Meister Brunelleschi und Donatello ihm flüsterten: der wahre Zauber ist die Perspektive, die große Entzauberung.

Die Freilegung und Restaurierung der Fresken Masaccios in der Florentiner Kirche Santa Maria del Carmine wurden übrigens von der Computerfirma Olivetti finanziert, die wie ihre Produkte aus der Schreibmaschine hervorging und während der Mussolini-Diktatur nur überleben konnte, indem ihr Besitzer sich taufen ließ. Das ist es, was ich meine.

 

SONY DSC

OLIVETTI

 

 

Trinität der florentinischen Frührenaissance:

BRUNELLESCHI 1377-1446  DONATELLO 1386-1466 MASACCIO 1401-1428

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s