ÜBER MEDIEN

Die Spiritisten verstanden unter einem Medium einen hypnotisierten willenlosen Menschen, der ihren Fantasien folgte und die Zuschauer schwer beeindruckte. Vielleicht waren diese Medien auch arbeitslose Schauspieler, dann würden sie unserer heutige Vorstellung von Medien besser entsprechen, nämlich dass sie Vermittler zwischen zwei Systemen sind: die Zeitung zwischen Welt und Leser, der aber auch zur Welt und als Leserbriefschreiber und Artikelinterpret ebenfalls zur Zeitung gehört, das Geld zwischen Angebot und Nachfrage eines Marktes, die Macht zwischen Ideal und Wirklichkeit einer Gesellschaft.

Mein kleiner Patenenkel Nathan tut sich mit dem Sprechenlernen schwer, denn er versucht es in vier Sprachen gleichzeitig: Tigrinya, die Sprache seiner Eltern, natürlich Deutsch, die Sprache seiner Heimat, und leider auch Englisch. Englisch kam einerseits durch seinen Vater, der nach sechs Jahren hier immer noch glaubt oder hört, dass Englisch im Prinzip das gleiche ist wie Deutsch. Nichts spricht übrigens gegen Englisch, selbst wenn es uns zeitweise irritiert. Aber: was Luhmann noch nicht wissen konnte, Nathan lernte auch Englisch mithilfe des Telefons seiner Mutter. Bevor er seinen ersten Vierwortsatz in Deutsch sprach, konnte er das englische Alphabet, die Zahlen bis zwanzig und mehrere Liedtexte. Bisher hat er sein sprachliches Defizit mit langen und sehr emotional vorgetragenen Geschichten in einer vierten, selbst konstruierten Sprache ausgeglichen. Wir nennen diese Sprache scherzhaft Swahili, denn die Mitmenschen im Supermarkt oder auf dem Spielplatz halten dies für eine wirkliche, ganz sicher afrikanische Sprache. Aber gestern hat er zum ersten Mal eine kleine Geschichte mit mehreren Vierwortsätzen in Deutsch erzählt. Sie schien aus einem Lehrbuch ‚Deutsch als Fremdsprache‘ zu sein, nur seinen Namen hatte er als untrügliches Kennzeichen eingebaut: ‚Hallo Nathan, wie geht es dir. Bei mir ist alles gut. Und bei dir?‘

Es sieht alles danach aus, dass aus dem Defizit leicht ein Profit werden könnte, man muss nur das josephische* Dilemma anwenden: noch nackt als Ware für die Sklavenhändler oder als Objekt für den Tod in der Grube liegen – und schon das Leben als Prime Minister, Womanizer, Macher und Marktmonopolist planen und beginnen. Obwohl es offensichtlich tödlich endende Katastrophen gibt, gibt es genau so offensichtlich auch wachsendes Glück einer überwiegend pluralistischen Menschheit und die Abnahme von Krieg, Pest und Hunger. Daran können auch Corona und Putin nichts ändern.   

Eines seiner neuen Lieblingsspiele bei mir ist es – obwohl er mich noch nie beim Lesen gesehen hat, und daran können wir ersehen, dass lernen immer auch Antizipation und Imagination ist – sich ein Buch herauszusuchen und zu lesen, aber auch, wie wahrscheinlich seine Erzieherin im Kindergarten, im Buch zu blättern, es dann umzudrehen und mir die aufgeschlagenen Seiten zu zeigen und in seinem Swahili wortreich zu erklären. Aber gestern war es ein Büchlein** von Niklas Luhmann ‚Das Kind als Medium der Erziehung‘ aus dem Jahre 1991. Das Buch stammt nicht aus meinem Bestand, sondern eines meiner Kinder oder Schwiegerkinder hat es offensichtlich für das Studium gebraucht, benutzt und dann hier abgelegt. Allerdings zeigen die Anstreichungen, dass Leser derselben Kategorie ganz ähnliche Erwartungen und Interpretationen haben.

Der Text befremdet zunächst durch seinen fast krampfhaft wirkenden Versuch, das Kind in eine Definition zu pressen. Definitionen streben zur Tautologie, weil sie einen Prozess mithilfe des Zeitgeists anzuhalten versuchen***, andererseits sind sie selbstverständlich willkommene Hilfsmittel. Er beschreibt drei Typen der Erziehung, nämlich die antike bis mittelalterliche Vorstellung der tabula rasa. Merkwürdigerweise korrespondiert dieses Bild mit denen der Frau als bloßem Gefäß und des Sklaven als sprechendem Tier. Sodann beschrieb Rousseau den Zögling als perfektibel, also als einen durchaus schon eigenständigen Menschen, der perfektioniert werden kann und soll. Diese Perfektibilität kann man besonders gut an Spezialbegabungen, etwa der Musik oder der Mathematik, erklären. Heute und systemtheoretisch betrachtet, erscheint das Kind als eine black box, deren innere Entwicklung von außen weder beobachtet noch wirklich beeinflusst werden kann. Trotzdem korreliert fast jeder Mensch, sei er nun (erfolgreich) erzogen oder nicht, mit den Kommunikationssystemen seiner Umwelt. Aber das Kind ist keine Trivialmaschine. Das Kind ist in der Erziehung das, was auf dem Markt das Geld und in der Wissenschaft die Wahrheit ist, mit der Einschränkung, dass es nicht binär codifizierbar, sein Ausgang also nicht absehbar ist. Deshalb ist das ‚was der Erzieher sich vornimmt, unmöglich‘. Dieser Satz Luhmanns ist gleichzeitig radikal und trivial. Trivial ist er, weil hinlänglich bekannt ist, dass weder der Mensch selbst noch seine Mitmenschen zu keinem Zeitpunkt das Ende, den Zweck, das Ergebnis oder den Sinn des konkreten Lebens benennen können. Aber er ist radikal, weil er das Kind endlich vom Erzieher emanzipiert.  

Das Kind als Medium vermittelt zwischen den sozialen (Kommunikations-) und den psychischen (Bewusstseins-) Systemen. Das erscheint hochevident, aber es bleibt ein Unbehagen, dass das geliebte Kind systemtheoretisch und in Bezug auf die Erziehung als ein Medium eingeordnet werden kann. Trotzdem sollte uns auch dieses kleine Büchlein, das Nathan in einem unordentlichen Bücherregal auf dem Spitzboden fand,  nicht unseren Optimismus nehmen. Genauso wie Rousseaus Emile, der nicht wirklich innovativ oder auch nur befriedigend ist, aber dennoch die Tür zu einem neuen Zeitalter aufstieß, kann auch ‚Das Kind als Medium der Erziehung‘ unseren Blick weiten, ohne selbst schon der neue Raum zu sein.

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*Joseph, der Enkel Abrahams

**Niklas Luhmann, Das Kind als Medium der Erziehung, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006

***daraus folgt, dass der Zeitgeist nichts anderes ist, als die Menge aller Definitionen zu einem Zeitpunkt t. Dieser Zeitgeist wird aber für jede Definition gebraucht, so dass sie beide und immer einen tautologischen Kausalnexus bilden.

MEMO

 

Nr. 390

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR MENSCHEN GEBEN WIRD?

BEETHOVEN an Struve 1795

 

Da erst, nachdem Beethoven seinen berühmten Satz an seinen Jugendfreund schrieb, die schlimmsten Tiefpunkte der Menschensortierung* stattfanden:  nach der Conquista (und übrigens auch Reconquista) und dem Sklavenhandel, vor dem Brief, danach noch hundert Jahre Sklaverei, Holocaust, GULAG, chinesische Kulturrevolution, Rote Khmer, Völkermord an den Armeniern und den Herrero, Rassistenregime in den Südstaaten der USA mindestens bis 1963, in Zimbabwe (damals: Südrhodesien), Südafrika und Namibia, gewinnt der Satz über den Tag hinaus an Bedeutung. Wäre Beethoven der weltfremde Sonderling gewesen, als den ihn das neunzehnte Jahrhundert sehen wollte, so müssten wir dem Satz, der erst vor zwanzig Jahren aufgefunden wurde, keine Beachtung schenken. Beethoven war aber ein hochgebildeter, belesener und interessierter Intellektueller, so wie Bach hundert Jahre vor ihm in Leipzig. Musikgenies werden oft unterschätzt.

Fast alle Begriffe, die wir heute noch für oder gegen die Menschensortierung benutzen, kommen aus der amerikanischen Sklaverei und Antisklaverei sowie aus dem europäischen Rassismusdiskurs des neunzehnten Jahrhunderts. Der für Menschen falsche Begriff der Rasse kommt aus der Tierzucht, wo er auch Sinn macht, um zu zeigen, dass Pekinese und Wolf aus derselben Art stammen (Canidae), sich aber qualitativ deutlich unterscheiden. Menschen dagegen haben zu 99% die gleichen Gene und, das berühmteste Beispiel, die unterschiedliche Hautfarbe sagt nichts weiter als die Differenz der Hautfarbe. Beethoven war durch Pockennarben geradezu entstellt, worunter er als Frauenfreund litt, aber mit seiner Musik hat das nichts zu tun.

Wie weit Beethoven mit seinem später ebenfalls berühmten Freund Struve gedacht hat, muss Spekulation bleiben.

Für uns kann es nur Grenzen des Denkens geben, die im Mangel unseres Verstandes liegen, denn wir leben in einem freien Land mit hohen Bildungsstandards und einer sehr guten Zugänglichkeit zu Wissenschaft und ihren Ergebnissen.

Wenn die Menschensortierung so willkürlich ist, dass sie vor mehr als zweihundert Jahren von Beethoven (und tausend anderen) beklagt wurde, dann ist es nicht abwegig, dass sie einen Zweck erfüllt. Es gibt immer eine Gruppe, die ihre Meinung nicht nur zum Fakt und zum herrschenden Fakt, sondern auch zum alleinigen Fakt erklärt. Vielleicht eine Million Bewohner Mittel- und Südamerikas wurden grausam ermordet, weil sie sich nicht taufen ließen. Die Taufe war also damals und dort der Ausweis der Norm, was erst Benedikt XVI. im Jahre 1993 korrigierte. Die katholische Kirche, die damals weitgehend von Verbrechern geführt wurde, konnte den Rest der ungetauften Welt einfach ausschließen, weil ihn niemand kannte und kennen konnte. Der Verdacht liegt nahe, und er ist schon oft geäußert worden, dass es gar nicht um Taufe oder Gott ging, sondern um Gold. Aber das wissen wir nur von den Menschen, die es aufgeschrieben haben, zum Beispiel von Admiral und Vizekönig Kolumbus. Es gab auch Gegner der Conquista und der Gewalt gegen Menschen. Und es gab auch immer Menschen, die die Menschensortierung, auch unter Berufung auf die Bibel, ablehnten.

Die jeweilige Ordnung wurde, um die Abstraktion weiterzuverfolgen, als alleinig mögliche, auf der vorhandenen Einteilung der Menschen beruhende proklamiert. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass es sich um ein vorher ausgedachtes Paradigma, das es nun zu verwirklichen galt, handeln könnte. Soziale Systeme entstehen mit großer Wahrscheinlichkeit evolutionär: was muss man gedanklich alles auslassen, um die Französische Revolution von 1789 als den Zeitpunkt zu erkennen, ‚wo es nur noch Menschen gibt‘?

Rousseau, der von Beethoven fleißig gelesen worden war, meinte, dass das Übel, welches uns von den ‚edlen Wilden‘ scheidet und zu den unedlen Zivilisierten macht, mit der Absteckung des ersten Besitzes begann. Das ist gleichzeitig der Anfang einer Gesellschaft, die auf Vereinbarung beruht.

Und da liegt der Schlüssel: Vereinbarungen können nur gleichgeartete, gleichberechtigte, nicht durch Hierarchie oder noch künstlichere Merkmale geschiedene Menschen getroffen werden. Natürlich hat der eine Pockennarben, der andere ist ein Musikgenie, aber die Mutter aller Probleme ist die Hierarchie. Sie mag noch gar nicht einmal als böswilliger Akt entstanden sein. Für alles gibt es große Erzählungen: und für die Entstehung der Hierarchie, der Rangfolge, mag die König-David-Geschichte heute noch rühren. Die Israeliten waren von einem monsterähnlichen Feind belagert, der König versammelte alle Männer und fragte, wer sich dem Ungeheuer entgegenzustellen wagen würde. Just in dem Moment kam der kleine Hirtenjunge David um die Ecke, der seinen großen Brüdern das Essen bringen sollte. Er setzte seinen Verstand statt bloßer – und ihm auch noch fehlender – Heldenstärke ein und wurde zum Helden und König, übrigens durch Heirat der Königstochter. Aber das ist kein Märchen.

Aber warum scheitern seitdem alle Versuche, Leistungen zwar anzuerkennen, aber daraus keine Hierarchie zu konstruieren? In vielen Geschichtsbüchern wird das westeuropäische Adelssystem der Primogenitur gern mit dem russischen, in dem alle Söhne erbten, und dem türkischen verglichen, das fast lupenreiner Nepotismus war. Bevor man aber seine Söhne und Neffen, daher der Begriff Nepotismus, einsetzen konnte, musste man seine Brüder als Konkurrenten ermorden, später wegschließen, daher kommt der Begriff des goldenen Käfigs. Sultan Mehmet III. ließ seine neunzehn Brüder nach der Beschneidung erdrosseln. Einer fragte, ob er seine Kastanien vorher noch zuende essen könne. Das Adelssystem, obwohl es zeitweise auch sehr erfolgreich war, ist insgesamt schlimm gescheitert. In den beiden Weltkriegen, die die Adligen verloren, verloren sie zugleich Anstand und Einfluss, nicht jedoch ihren umfänglichen Besitz, wie man heute noch auf Adelstreffen, -hochzeiten und -taufen bewundern kann.

Muss man wirklich täglich daran erinnern, dass auch alle Diktaturen, mithin alle autoritären Systeme einschließlich der Monarchien, gescheitert sind? Seit der Antike ist bekannt, dass auf Aristokratie, die Herrschaft der Besten, die Ochlokratie folgt, die Herrschaft des Pöbels. Man erkennt ihn am Pöbeln. Jeder Protest und jede Frage ist erlaubt, aber wie kann man glauben, dass es nur einer Autorität bedarf, um die Welt wieder in die Fugen zu rücken. Die Welt ist gar nicht aus den Fugen, weil sie nicht durch einen Plan erbaut wurde, etwa wie ein Haus und jeder andere Artefakt, sondern weil sie evolutionär entstanden ist, Stück für Stück, immer in Chaos und Schlamm. Das berühmte Zitat** ist nicht nur ironisch gemeint, sondern findet seinen Schlüssel im überforderten ICH des armen Hamlet, der glaubt, dass er die Welt einrenken muss, das ist der Fluch des Adels. Wo und wann wäre denn die Welt in den (und wenn dann in welchen) Fugen gewesen?

Verstärkt durch die technischen Kommunikationsmittel kann heute jede und jeder seine Kommentare zu jedem Ereignis abgeben. Wäre es nur so, würde es niemanden stören. Aber sobald einer etwas zu wissen glaubt, bestätigen es ihm seine Rechtgläubigen, und die Häretiker schreien Contra und Zeter und Mordio. Alle Hoaxes über Viren als biologische Waffen der Amerikaner, der Israelis, des Weltjudentums, der Russen und Nordkoreaner erwiesen sich selbstverständlich als falsch. Als die bösartige Schuldzuweisung gegen die USA in bezug auf AIDS die globale Runde machte, lebte ich in einem Land, in welchem dem Hoax schadenfroh zugestimmt wurde, zumindest als wahrscheinlichste Möglichkeit.

Muss man wirklich täglich daran erinnern, dass es weder eine Weltregierung noch eine Weltantiregierung gibt. Leider ist es mühevoll, einen internationalen Vertrag auszuhandeln, und mancher Vertrag wird durch einen Federstrich zunichte gemacht. Leider sind internationale Erleichterungen nur gegen den oft hartnäckigen Widerstand hartgesottener Nationalisten zu erreichen, die sie, wenn sie wieder einmal an die Macht kommen, wegwischen. Manche Nationalisten glauben, dass Globalisierung die Gegenstrategie zum Nationalismus sei. Sie fragen, ob sie Rassisten seien, wenn sie gegen Masseneinwanderung aufträten. Sie bemerken scheinbar nicht, dass sie ihre Ablehnung der Einwanderung rassistisch begründen und dadurch eben doch Rassisten sind. Manche von ihnen benutzen das gleiche Argumentationsmuster wie Graf Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und Adolf Hitler: ,man sähe doch in der Tierzucht, wie gut Rassismus sei‘. Entstehen edle Pferderassen, fragt allen Ernstes Chamberlain, dem schon sein Zeitgenosse Virchow den gesunden Menschenverstand absprach, etwa durch Promiskuität?

Ein Krieg, auch ein Handelskrieg, ist schnell gemacht. Aber seine meist negativen Folgen reichen in die nächsten Jahrhunderte und treffen immer auch den Verursacher.

Leider stehen wir alle im Moment nackt da: ohne Idee. Vielleicht ist die Zeit der guten Ideen, die ein halbes oder gar ganzes Jahrhundert wirken, vorbei. Vielleicht unterliegen wir, die wir an Ideen glauben, demselben Irrtum wie jene, die an Personen glauben, und es gibt sie nicht mehr. Vielleicht wird in späteren Geschichtsbüchern stehen, dass die Menschheit drei Phasen durchlebte, die Phase der Führer vom Schlage Davids, die Phase der Ideen von der Art der Aufklärung, und die Phase x von der Sorte, die wir noch nicht kennen.

Der Urvater der Rassisten, Graf Gobineau, gab seinen Anhängern am Schluss seines immerhin sechsbändigen Essays ‚Über die Ungleichheit der menschlichen Rassen‘ (1855) eine später viel bewunderte und viel gescholtene Formel auf den Weg:

„Die Nationen, nein, die menschlichen Herden, in dumpfer Einsamkeit dahindämmernd, werden fortan gefühllos in ihrer Nichtigkeit dahinleben, wie wiederkäuende Büffel in den stehenden Pfützen der pontinischen Sümpfe.“

Von Rousseau dagegen, dem verschrobenen Urahn der Demokratie, stammt die unverwirklichbar und kompliziert erscheinende Formel (1762), die von Zeit zu Zeit verworfen wird: „Jeder von uns stellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des Allgemeinwillens, und wir nehmen jedes Mitglied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“

 

*Segregation

**The time is out of joint

O cursed spite

That ever I was born

To set it right

Shakespeare, Hamlet, I,5

TRIPLE REPRESSION AND TRIPLE CONCERTO

Nr. 389

WANN WIRD AUCH DER ZEITPUNKT KOMMEN, WO ES NUR NOCH MENSCHEN GIBT?

Beethoven an Struve 1795

Wir haben es schon mehrmals erzählt: als Rousseau sechzehn Jahre alt war, warf er seine, man kann vermuten, wertvolle Uhr weg. Sein Vater war ein international hoch geachteter Uhrmacher, der kurz vor der Geburt Jean-Jacques‘ aus Konstantinopel zurückkam, der seinen Sohn über alles liebte und ihm Mutter und Vater zugleich sein wollte, da die Mutter im Kindbettfieber gestorben war. Der junge Rousseau war zum dritten Mal verspätet am Stadttor von Genf angekommen und das hätte ihm wieder eine Prügelstrafe eingebracht. Also warf er seine Uhr weg, obwohl ihm klar sein musste, dass die Uhr nicht Ursache der Prügel, sondern nur ihre Projektionsfläche war. Und zugleich verließ er seine Familie, seinen Lehrherrn und seine Heimatstadt, um nie wieder zurückzukehren, obwohl ihm die Stadt, nachdem er berühmt geworden war, einen lukrativen Posten angeboten hatte. Die Abhängigkeit der Stadtverfassung, überhaupt der Ordnung dieser Gesellschaft von der Zeiteinteilung, erinnert sehr an die heutige Abhängigkeit von Daten und Terminen.

Der Grund für seinen Ruhm war seine preisgekrönte Abhandlung über die Ungleichheit der Menschen. Darin steht seine Ansicht, dass die Menschen böse seien, wofür man keinen Beweis brauche, weil die Erfahrung es lehrt, obwohl der Mensch an sich gut sei. Damit setzte er sich zwischen Baum und Borke, zwischen die herrschende Kirchenansicht von der Sündhaftigkeit des Menschen und die soeben aufkommende Aufkläreransicht vom ewigen Fortschritt des Menschengeschlechts durch Denken.

An dieser Stelle schon ist Rousseau absolut modern. Er sieht das Übel in Neid und Gier, in dem ständigen Vergleich der Menschen untereinander und der daraus folgenden Habsucht. In seinem noch berühmteren Buch über die Erziehung (‚Émile‘) wird er zeigen, wie man diese erworbene Bosheit der Menschen verhindern könnte. Aber auch die heutigen Schulpolitiker streiten sich lieber jahrzehntelang über Punkt- und Notensysteme, obwohl jeder weiß, dass sie eines der Übel sind. In seinem allerberühmtesten Buch aber (‚Der Gesellschaftsvertrag‘) lesen wir, dass alles am Menschen, bis auf das Verhältnis zu den Eltern, Vereinbarung ist.

Rousseau hat sozusagen das erste Allmendedilemma entdeckt: die Aufteilung des vorher gemeinschaftlich genutzten Landes in Parzellen des Unglücks und der Gier. Im zweiten Allmendedilemma [Garrett Hardin, 1968] wird eigentlich umgekehrt beschrieben, wie der gemeinschaftliche Nutzen durch die geheime und zunächst unmerkliche Gier des einzelnen torpediert wird. Allerdings wurde über dieses Problem lange nachgedacht, und schon Aristoteles wusste, dass demjenigen Gut, das die meisten nutzen, am wenigsten Fürsorge zuteilwird. Und wir, die wir im Ostblock gelebt haben, wissen das auch.

Beethoven wird das alles von Rousseau gelesen und sich gewundert haben, dass siebzehn Jahre nach Rousseaus Tod sich nichts geändert hat. Zwar wusste Beethoven, dass es tausend Adlige gibt, aber nur einen Beethoven, so dass klar war, wer vor wem den Hut zu ziehen hatte (Karlsbadanekdote), jedoch wusste er auch, dass Sklaverei und Krieg, Hunger und Cholera zur vermeidbaren Ungleichheit der Menschen beitragen.  Napoleon war als Hoffnung der Menschheit ein Ausfall, über den sich Beethoven so sehr ärgerte, dass er die Widmung seiner dritten Sinfonie zurückzog.

Und zweihundertfünfundzwanzig Jahre nachdem Beethoven an seinen Jugendfreund Heinrich von Struve, der später russischer Botschafter in verschiedenen deutschen Staaten und als Mineraloge Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften war, gibt es zwar weniger Hunger und mehr Bildung, aber immer noch mindestes dreifache Unterdrückung: Rassismus, Klassismus und Sexismus. Im Moment erleben wir sogar eine unerwartete Wiederkunft dieser Repression in autoritären Parteien und Herrschaften. Im Fußballstadion werden Menschen beleidigt, die vier oder fünf Millionen Euro im Monat verdienen, von Subjekten (wie man früher verächtlich sagte), die wahrscheinlich monatelang für die Eintrittskarte ins Stadion sparen müssen.

Man kann das empörend oder unverständlich finden, aber Beethoven hat darauf mit Leuchttürmen geantwortet, wo heute so viele ins schwarze Loch der Jammertäler fallen. ‚Jammertal‘ ist der barocke, religiös* gefärbte Begriff für die schlechte Welt.

Natürlich und zum Glück können nicht alle Sinfonien oder Romane schreiben, aber ein erster Schritt wäre schon einmal, mit dem ständigen Empören und Flennen aufzuhören. Die Welt mag als schlecht empfunden werden, aber sie wird nicht dadurch besser, dass man täglich in die Welt hinausschreit, dass die Welt schlecht ist. Einer möglichen Inflation von Sinfonien und Romanen steht der Mangel an Talent gegenüber, dem Jammern muss man allein widersprechen.

Das Tripelkonzert von Beethoven nimmt unter seinen Konzerten (fünf Klavier- und ein Violinkonzert, das er selbst auch für das Klavier transkribiert hat) eine Sonderstellung ein. Konzert heißt ja ohnehin eine Art nachgeahmter Kampf oder Wettbewerb zwischen dem Soloinstrument und dem Orchester. Hier aber bemühen sich drei Soloinstrumente nicht um die Vorherrschaft, sondern um die Öffnung. Einerseits wollen sie sich gegenseitig öffnen, ihre Differenzen und Hegemonialvorstellungen vergessen, andererseits zeigen sie ihre Herkunft aus dem und ihre Zukunft im Orchester. Mehrmals scheint das Konzert auseinanderzubrechen, um aber spätestens im zweiten wunderbaren Satz harmoniesüchtig zu werden.

Wenn er oder sie auch keine Sinfonien und Konzerte schreiben kann, so kann der moderne Mensch doch vielfältig kreativ werden** und das sind auch sehr viele von uns. Es ist gleich gültig, ob man in einem Hilfsverein tätig ist, in einer Tauschbörse oder in einem Laienchor. Es geht darum, die knappe Lebenszeit für sich und andere nutz- und freudebringend anzuwenden. Werfen wir endlich die Uhr oder das SMARTPHONE weg und wenden uns dem Buch, dem Lied, dem Mitmenschen zu. Fast unbemerkt ist unter all diesen üblen Schimpfworten, mit denen wir uns anscheinend zunehmend belegen, ein ganz anderes Wort Mode geworden (‚was die Mode streng geteilt‘***), nämlich Empathie. Das ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzufühlen, ihr Leid, ihre Freude, ihre Langeweile oder ihre Aufgeregtheit nachzuempfinden und daraus Schlüsse für mögliche Hilfe oder Mitarbeit zu ziehen. Öffnen wir die symbolischen und tatsächlichen Stadttore, die Grenzen, die immer Beschränkungen sind, die Herzen, die soviel Streben nach dem Ego in sich zu haben scheinen und doch erst aufblühen, wenn Kinderlachen oder Greisentränen Dankeshymnen singen.  Aber man muss sich auch in sich selbst hineinfühlen: some dreams die when they can be realized.

 

*flentes in hac lacrimarum valle = weinend in diesem Tal der Tränen, woher auch unser Kinderausdruck des Flennens kommt

**becoming a begetter would make you a bit better

***Schiller, Ode an die Freude in Beethovens IX. Sinfonie

 

L’ÉTAT C’EST MOI

 

Nr. 257

Wir wissen nicht, was genau der französische König Ludwig XIV. mit diesem legendären Satz meinte, aber wir haben die wohl allgemeingültige Interpretation, dass er meinte, er sei nicht nur der Souverän, sondern geradezu identisch mit dem Staat. Aber viele Historiker meinen, er hätte den Satz nicht gesagt. Wenn es so ist, würde ein Satz, der zu einem Menschen passt, ihm deshalb zugeschrieben, weil wir wollen, dass er ihn gesagt hätte. Das würde in unser Bild passen. Wir haben also vor den Fakten ein Bild fertig, in das die Fakten passen müssen. Ludwig XIV. war aber nicht nur der Inbegriff des Absolutismus, sondern auch der Kunstförderung. Besser als den falschen Satz sollte man sich vielleicht Merkantilismus, die Förderung des Handels, und den Bau des Schlosses Versailles merken, das dazu beitrug und beiträgt, dass Frankreich damals das reichste Land der Welt und heute das besucherreichste Land ist.

Theoretisch wurde der Absolutismus, die absolute Alleinherrschaft, vor allem in Frankreich abgeschafft, praktisch auch in Preußen, Österreich, Russland und natürlich England, und dann im Rest der Welt. Rousseau erklärte das Volk zum Souverän und den Staat zur Vereinbarung. Das ist mehr als zweihundert Jahre her.

Merkwürdig ist nur, dass so viele Menschen diese Veränderung noch nicht bemerkt haben. Sie scheinen zu glauben, dass Demokratie eine neue Art der Diktatur sei, bei der man zwar wählen kann, aber diese Wahl habe keinen Einfluss auf ihr Leben. Sie gehen lieber auf die Straße und benutzen Trillerpfeifen und Sprechchöre, um zum Ausdruck zu bringen, was sie wollen. Und was sie wollen, scheint direkt dem absolutistischen Staat entnommen: sie wollen, so wie die Menschen damals in Frankreich,  nur eine andere Führung. Unter Führung stellen sie sich jemanden vor, der ihnen Geld gibt. Auch wollen sie sich in der Zeitung lesen.  Als es noch keine Medien gab, hätten sie objektiv sein können, jetzt teilen sie unser Schicksal der Subjektivität. Eine Zeitung  nur für die Trillerpfeifenleute würde sich wohl schlecht verkaufen. Fernsehsender dieser Art gibt es zwar, aber in ihnen dominiert die Unterhaltung. Die Gegenkandidaten der gegenwärtigen Sonnenkönigin, wir bleiben in unserem Vergleich, müssen also Gegenwörter finden: Gerechtigkeit statt Wohlstand. Sicher weiß Schulz aus seiner Zeit als Bürgermeister, dass es keine Gerechtigkeit gibt. So läuft er durch das Land, wie damals durch Würselen, und sagt: Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.  Der FDP-Spitzenkandidat dagegen hat erkannt, worum es wirklich geht: einen gutaussehenden Menschen, der ständig etwas sagt, was man sich aber nicht merken muss. Die Linke Partei dagegen setzt auf eine Ikone, die immer das gleiche sagt, so dass man schon vorher weiß, dass sie auf jede Frage, auch auf die nicht gestellte, die Antwort weiß. Auch sie ist für die Abschaffung des Merkelismus, ist aber auch gegen Schulz. Wahrscheinlich träumt sie auf ihrem Fahrrad vom dritten Führer aus dem Saarland, und das wäre dann sie.  Die Grünen setzen weiter auf Sachthemen, die niemanden interessieren. Man kann ihren Niedergang fast körperlich wahrnehmen. Einzig die Rede Özdemirs im Bundestag, wo er die zornigen Trittin und Fischer (wie lange ist das her) imitiert, wurde kurz bemerkt und überzeugte Frau Martha Kienschwarz, 78, aus Bochum.

Die AfD dagegen ist eine Gruppe von Menschen, in der es plötzlich erlaubt ist, unanständige, ungebräuchliche und auch sogar unerlaubte Wörter zu sagen. Wenn man aber ernsthaft überlegt, wofür oder wogegen sie sind, fällt einem nichts ein. Vom Euro ist schon lange nicht mehr die Rede. Auch Flüchtlinge sind als Thema irgendwie weg. Bleiben nur noch die eigentlichen Nazibegriffe: völkisch, überfremdet, Untergang, Volksverräter, Volksaustausch.

Wir müssen uns endlich neu orientieren. Wir sind der Souverän: in unserem Land wird gemacht, was die Mehrheit von uns will. Wir sind, wie damals König Ludwig, auf Handel und Wandel angewiesen. Wir verdienen damit so gut, dass es fast egal ist, wer hier regiert, mit Ausnahme der AfD. Selbst Frau Wagenknecht droht ja wohl nur mit der Enteignung ihres Fahrradherstellers.

Unsinnig ist es wohl der Nation nachzutrauern, die ein temporäres Konstrukt des achtzehnten Jahrhunderts war, an dessen fast permanenter Umstrukturierung eigentlich nur die Rechten gearbeitet haben. Der erste Staat in Deutschland, der langsam und zögerlich genug die Diskriminierung des Andersseins beendete und auf den überholten Nation- und Ehebegriff langsam, sehr langsam verzichtete, war die Bundesrepublik unter Führung eines steinalten konservativen Mannes.

Die Technik unterliegt einem ungeheuren Innovations- und Geschwindigkeitswahn, unsere Begriffe stolpern mit unerlaubter Langsamkeit hinterher. Schon allein auf die Formulierung ‚Wie kann es sein…‘ fehlt uns die passende Antwort, dass nämlich, wo Menschen aufeinandertreffen, immer alles sein kann. Die Empörung ist schneller als der Fakt und jede Meinung braucht eine Mehrheit, wenn sie Wirklichkeit werden will.

Meine Wahlempfehlung lautet deshalb: erinnern wir uns, dass wir der Staat sind. L’État c’est nous!

PFINGSTEN UND DIE TELEOLOGIE

 

Nr. 244

Makro- und mikroperspektivisch gehen wir immer von uns aus. Wir beurteilen oder verurteilen den Fremden nach unseren Maßstäben. Gott und Tier und Pflanze müssen wir erst in der Vorstellung zu Menschen machen, damit wir sie verstehen. Auch Prozesse stellen wir uns anthropomorph vor: das berühmte Bild von der kaputten Uhr, die ein blinder Uhrmacher wieder zusammensetzen muss, ohne dass er sie vorher gekannt hat. Die Uhr ist ein von Menschen geformter und mit Zwecken ausgerüsteter Gegenstand, also, folgern wir, muss die Nachtigall, die vor unserem Fenster singt, ebenfalls ein Gegenstand sein, den jemand hergestellt und verzweckt hat. Der Baum, so haben wir es in unserer mittelalterlichen Schule gelernt, ist dazu da, uns Sauerstoff zu liefern. Es ist verzwickt, dass wir uns die Welt immer nur andersherum vorstellen können, eben von uns aus gesehen.

Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, erklärte das wahre Wesen des Bäckers, der, wie wir, nichts will, als sich erhalten. Ein Rechtsanwalt oder ein Zeitungsschreiber hat, außer dass er sich erhalten will, auch noch seinen gesellschaftlichen Status als Ziel. Der alte Bach schrieb am Samstagabend für den Sonntag, nicht für den Weltruhm. Der Weltruhm war die Zugabe. Und Beethoven, 1809 auf dem Gipfel seines Ruhm, las in der Zeitung, dass das letzte lebende Kind des alten Bach in Not lebt, überwies prompt 307 Gulden, eine stattliche Summe, die alle ihre Probleme löste und Erwartungen übererfüllte, wie sie ebenso prompt mit Freudentränen in den Augen Beethoven antwortete. Es geht um Versorgung. Die Arbeitsteilung bringt immer kompliziertere Verwicklungen hervor, umso wichtiger festzustellen, dass Lord Zuckerberg nicht die Weltherrschaft wollte, sondern ein leichtes Leben. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht dem Bäcker und Bach und Beethoven und Lord Zuckerberg dankbar sein können und sogar sollen. Wir können auch dem Baum dankbar sein und seine Würde achten. Aber er ist nicht in einem blinden Uhrwerk für uns erschaffen worden, damit wir ihn verheizen. Andererseits müssen wir uns auch nicht wegen all unserer Schuld verkriechen, nur weil wir die einzigen sind, die Schuld erkennen. Wir bleiben eine Art unter Arten und richten Schaden und Nutzen an, wie wir ihn verstehen. Allerdings ist selbst unser wissenschaftlicher Verstand nicht in der Lage, alle Ursachen oder alle Folgen eines einzigen Gegenstandes oder einer einzigen Erscheinung zu erfassen.

Es wäre natürlich schön und wünschenswert, wenn unsere Vernunft uns hinderte, noch mehr Schaden anzurichten als die sprichwörtlichen alttestamentarischen und aktuellen Heuschreckenschwärme, die ganze Dörfer und Landschaften auffressen können. Wir würden schon wieder gern die falsche Frage stellen: vielleicht hat selbst die Inflation der Heuschrecken einen Zweck? Baruch d’Espinoza ist aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen worden, weil er schrieb, dass ein Gott, der einen Zweck hat, keinen Sinn hat. Der Sprachgebrauch war allerdings noch hundert Jahre nach Spinoza, wie wir ihn meist nennen, ungenau: Ende, Zweck und Sinn fielen mehr oder weniger zusammen. Der Streit allerdings, ob den Dingen ein Zweck schon innewohnt, tobt von der Antike bis heute munter fort. Insofern ist es nicht peinlich, zu einer Partei zu gehören. Viel spricht für intelligent design, aber wahrscheinlich noch mehr dagegen. Wir haben hier schon oft geschrieben,. dass die intelligenteste Lösung dieses Streits von Darwin selbst stammt, der ihn auf den Gipfel trieb, nämlich, dass Gott nicht nur die Welt der Dinge, sondern auch die Welt der Prozesse, das methodische Material lieferte, die Evolution in der Schöpfung schon anlegte. Selbst Einstein, der nicht in die Synagoge ging und Gott mit physikalisch-philosophischen Scherzen* eher ausschloss, stellte sich einen menschengestaltlichen Gott vor, der würfelt oder nicht würfelt. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht jeder Religion und vor allem jedem religiösen Menschen mit großer Achtung und Ehrfurcht begegnen sollen. Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob all diese religiösen Vorstellungen nicht in den nächsten tausend Jahren mit der Kunst und der Philosophie zusammenfallen werden. In der Kirche Santa Maria Novella in Florenz, gleich neben dem Bahnhof, ist das berühmteste Bild von Masaccio zu sehen, das die Trinität mit nur zwei Teilnehmern zeigt: Gottvater und Gottes Sohn. Aber wo ist der Heilige Geist, fragt man nicht nur zu Pfingsten. Und Masaccio hat die Antwort auf seinem Bild gegeben, das genauso Kunst wie Philosophie wie Religion ist. Der Geist ist die Perspektive.

Aus dieser Allgegenwart der Teleologie ergeben sich zwei Erscheinungen der modernen Welt: die Vermenschlichung der Maschinen und die Verschwörungstheorien. Beides gibt es in zunehmender Form seit dem Mittelalter. Wir erinnern an den Schachautomaten von Johann Nepomuk Mälzel, der aber Schachtürke hieß und ein Fake war, allerdings so grandios, dass die geistreichsten Schriftsteller der Zeit all ihren Geist bemühen mussten, um das Rätsel nach vielen Jahren zu lösen. Sein Nachfolger ist das Smartphone, das so vielen Menschen Menschenersatz ist. Für Beethoven baute Mälzel übrigens den Metronom. Seitdem wechselte die Priorität in der Musik von der Melodie und der Harmonie zum Rhythmus.

Verschwörung ist heute nicht mehr nur Brunnenvergiftung, die es aber auch noch gibt. Der Vorwurf der Verschwörung richtet sich wieder einmal gegen die Eliten, die mit der Demokratie ein neues Gesellschaftsmodell entwarfen. Früher litt das Volk unter den Führern, heute leidet es unter dem Führermangel. Jeder, der sich nicht selbst führt, muss leiden. Das gilt auch für Schmerz und Krankheit. Rousseau hat das als erster erkannt, hatte aber gleichzeitig furchtbare Angst vor Verfolgung und Erkältung. So ist der Mensch. So sind wir.

 

 

* Einstein soll einem Kardinal, der ihn für die Kirche gewinnen wollte, gesagt haben, dass er einträte, wenn der Kardinal zwei Fragen beantworten könne, erstens, ob Gott allmächtig, und zweitens, ob er demzufolge fähig sei, einen Stein (EIN STEIN) zu machen, den er selbst nicht heben kann.