PFINGSTEN UND DIE TELEOLOGIE

 

Nr. 244

Makro- und mikroperspektivisch gehen wir immer von uns aus. Wir beurteilen oder verurteilen den Fremden nach unseren Maßstäben. Gott und Tier und Pflanze müssen wir erst in der Vorstellung zu Menschen machen, damit wir sie verstehen. Auch Prozesse stellen wir uns anthropomorph vor: das berühmte Bild von der kaputten Uhr, die ein blinder Uhrmacher wieder zusammensetzen muss, ohne dass er sie vorher gekannt hat. Die Uhr ist ein von Menschen geformter und mit Zwecken ausgerüsteter Gegenstand, also, folgern wir, muss die Nachtigall, die vor unserem Fenster singt, ebenfalls ein Gegenstand sein, den jemand hergestellt und verzweckt hat. Der Baum, so haben wir es in unserer mittelalterlichen Schule gelernt, ist dazu da, uns Sauerstoff zu liefern. Es ist verzwickt, dass wir uns die Welt immer nur andersherum vorstellen können, eben von uns aus gesehen.

Adam Smith, der Vater der Nationalökonomie, erklärte das wahre Wesen des Bäckers, der, wie wir, nichts will, als sich erhalten. Ein Rechtsanwalt oder ein Zeitungsschreiber hat, außer dass er sich erhalten will, auch noch seinen gesellschaftlichen Status als Ziel. Der alte Bach schrieb am Samstagabend für den Sonntag, nicht für den Weltruhm. Der Weltruhm war die Zugabe. Und Beethoven, 1809 auf dem Gipfel seines Ruhm, las in der Zeitung, dass das letzte lebende Kind des alten Bach in Not lebt, überwies prompt 307 Gulden, eine stattliche Summe, die alle ihre Probleme löste und Erwartungen übererfüllte, wie sie ebenso prompt mit Freudentränen in den Augen Beethoven antwortete. Es geht um Versorgung. Die Arbeitsteilung bringt immer kompliziertere Verwicklungen hervor, umso wichtiger festzustellen, dass Lord Zuckerberg nicht die Weltherrschaft wollte, sondern ein leichtes Leben. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht dem Bäcker und Bach und Beethoven und Lord Zuckerberg dankbar sein können und sogar sollen. Wir können auch dem Baum dankbar sein und seine Würde achten. Aber er ist nicht in einem blinden Uhrwerk für uns erschaffen worden, damit wir ihn verheizen. Andererseits müssen wir uns auch nicht wegen all unserer Schuld verkriechen, nur weil wir die einzigen sind, die Schuld erkennen. Wir bleiben eine Art unter Arten und richten Schaden und Nutzen an, wie wir ihn verstehen. Allerdings ist selbst unser wissenschaftlicher Verstand nicht in der Lage, alle Ursachen oder alle Folgen eines einzigen Gegenstandes oder einer einzigen Erscheinung zu erfassen.

Es wäre natürlich schön und wünschenswert, wenn unsere Vernunft uns hinderte, noch mehr Schaden anzurichten als die sprichwörtlichen alttestamentarischen und aktuellen Heuschreckenschwärme, die ganze Dörfer und Landschaften auffressen können. Wir würden schon wieder gern die falsche Frage stellen: vielleicht hat selbst die Inflation der Heuschrecken einen Zweck? Baruch d’Espinoza ist aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen worden, weil er schrieb, dass ein Gott, der einen Zweck hat, keinen Sinn hat. Der Sprachgebrauch war allerdings noch hundert Jahre nach Spinoza, wie wir ihn meist nennen, ungenau: Ende, Zweck und Sinn fielen mehr oder weniger zusammen. Der Streit allerdings, ob den Dingen ein Zweck schon innewohnt, tobt von der Antike bis heute munter fort. Insofern ist es nicht peinlich, zu einer Partei zu gehören. Viel spricht für intelligent design, aber wahrscheinlich noch mehr dagegen. Wir haben hier schon oft geschrieben,. dass die intelligenteste Lösung dieses Streits von Darwin selbst stammt, der ihn auf den Gipfel trieb, nämlich, dass Gott nicht nur die Welt der Dinge, sondern auch die Welt der Prozesse, das methodische Material lieferte, die Evolution in der Schöpfung schon anlegte. Selbst Einstein, der nicht in die Synagoge ging und Gott mit physikalisch-philosophischen Scherzen* eher ausschloss, stellte sich einen menschengestaltlichen Gott vor, der würfelt oder nicht würfelt. Das alles heißt ja nicht, dass wir nicht jeder Religion und vor allem jedem religiösen Menschen mit großer Achtung und Ehrfurcht begegnen sollen. Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob all diese religiösen Vorstellungen nicht in den nächsten tausend Jahren mit der Kunst und der Philosophie zusammenfallen werden. In der Kirche Santa Maria Novella in Florenz, gleich neben dem Bahnhof, ist das berühmteste Bild von Masaccio zu sehen, das die Trinität mit nur zwei Teilnehmern zeigt: Gottvater und Gottes Sohn. Aber wo ist der Heilige Geist, fragt man nicht nur zu Pfingsten. Und Masaccio hat die Antwort auf seinem Bild gegeben, das genauso Kunst wie Philosophie wie Religion ist. Der Geist ist die Perspektive.

Aus dieser Allgegenwart der Teleologie ergeben sich zwei Erscheinungen der modernen Welt: die Vermenschlichung der Maschinen und die Verschwörungstheorien. Beides gibt es in zunehmender Form seit dem Mittelalter. Wir erinnern an den Schachautomaten von Johann Nepomuk Mälzel, der aber Schachtürke hieß und ein Fake war, allerdings so grandios, dass die geistreichsten Schriftsteller der Zeit all ihren Geist bemühen mussten, um das Rätsel nach vielen Jahren zu lösen. Sein Nachfolger ist das Smartphone, das so vielen Menschen Menschenersatz ist. Für Beethoven baute Mälzel übrigens den Metronom. Seitdem wechselte die Priorität in der Musik von der Melodie und der Harmonie zum Rhythmus.

Verschwörung ist heute nicht mehr nur Brunnenvergiftung, die es aber auch noch gibt. Der Vorwurf der Verschwörung richtet sich wieder einmal gegen die Eliten, die mit der Demokratie ein neues Gesellschaftsmodell entwarfen. Früher litt das Volk unter den Führern, heute leidet es unter dem Führermangel. Jeder, der sich nicht selbst führt, muss leiden. Das gilt auch für Schmerz und Krankheit. Rousseau hat das als erster erkannt, hatte aber gleichzeitig furchtbare Angst vor Verfolgung und Erkältung. So ist der Mensch. So sind wir.

 

 

* Einstein soll einem Kardinal, der ihn für die Kirche gewinnen wollte, gesagt haben, dass er einträte, wenn der Kardinal zwei Fragen beantworten könne, erstens, ob Gott allmächtig, und zweitens, ob er demzufolge fähig sei, einen Stein (EIN STEIN) zu machen, den er selbst nicht heben kann.     

DIE WELT, DIE ICH MIR WÜNSCHTE

Nr. 213

Als ich ein kleiner Junge war, gab es wenige Autos und wenige Autofahrer, und sie hatten noch den Grundsatz gelernt, dass Motorkraft vor Muskelkraft geht. Autos hatten Vorfahrt. Die Muskelkraft wurde auch dem Geist vorgezogen, und so wurden wir Kinder, je nach der Kraft unserer Erziehungsberechtigten und weniger Berechtigten mit Ohrfeigen, Kopfnüssen, Ohrendrehen und auch mit der einen oder anderen ‚Tracht Prügel‘ zur vermeintlichen Ordnung gerufen. Aber was war das für eine Ordnung? Die Erwachsenen hatten gerade den zweiten Krieg ihres Lebens verloren, aber sie konnten und wollten nicht einsehen, dass damit auch alle ihre wirklich falschen Ordnungs- und Gedankengebäude zusammengebrochen waren. Ruinen waren nicht nur die Kirchen und Schulen, die Fabriken und Wohnhäuser, sondern auch die Pfarrer und Lehrer, Fabrikdirektoren und Hausbesitzer. Einmal waren sie Ruinen im wörtlichen Sinne: ihnen fehlten Arme, Beine, Augen… Vielleicht kommt daher das Wort Elternteil. Zum anderen aber verstanden sie die Welt nicht mehr und brüllten daher ihre Gedankenfragmente in die Ruinen, in denen wir, die Kinder jener Zeit, geduckt saßen. In die beiden deutschen Länder hinein, die allerdings am Anfang noch viele Klammern, wie etwa Verwandte und Radiosender, hatten, wurde die Vision des jeweiligen Siegers verbreitet. Dass der Kommunismus nur aus mehr oder weniger epigonalen Textbausteinen bestand, so wie vor ihm der Nationalsozialismus auch, war schon deshalb nicht gleich erkennbar, weil über den Kommunismus eine Folie des Antifaschismus gelegt wurde. Die Volksweisheit, dass man die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt, galt in beiden Deutschländern. Auch im Westen ist die Demokratie erst angenommen worden, als wir schon mitten im Generationskonflikt feststeckten.

Als ich ein kleiner Junge war, träumte ich von einem Fahrrad und von fernen Ländern. Mit dem Fahrrad fuhren die sich langsam wieder einordnenden Väter zur Arbeit. Es hatte keinen sportlichen Aspekt, sondern diese Schwerfälligkeit und Langsamkeit der Väter und Großväter, die für die Arbeit zuständig waren und nicht für das Vergnügen. Trotzdem lernte ich früh Fahrradfahren, ohne Hoffnung auf ein eigenes. Von fernen Ländern zu träumen war leicht. Noch war die grüne Grenze, so wurde sie genannt, offen. Mein Taschengeld dagegen reichte noch nicht einmal für eine Bahnsteigkarte. Ich hatte kleine Stapel von Briefmarken und Geldnoten geerbt, die materiell nichts wert waren, aber meinen Horizont erweiterten. Mit meinem ältesten Freund habe ich Landkarten in den Sand gemalt. Figuren und Wörter in den Sand zu malen, ist nicht nur ein Ausdruck von Abwesenheit, sondern auch von Vision, Traum, Fantasy, die man damals noch mit PH und IE schrieb. Wir haben damals von Ländern geredet, die niemand kannte und die es auch gar nicht mehr gab: Montenegro, Bosnien, Estland und San Marino, das es zwar gab, das faktisch im Schutz seiner Unbekanntheit lag, gegen die aggressive Kirche aber auch ein Heer ausgebildet hatte. Die letzte Todesstrafe wurde in San Marino 1468 vollzogen. Österreich erklärte San Marino den Krieg und Großbritannien warf trotz Neutralität und Grenzkennzeichnung durch riesige weiße Kreuze Bomben ab, und allein daran kann man die Unsinnigkeit und den Nichtsnutz von Aggression, Militär und Macht sehen. Demokratie und Kommunismus waren in San Marino sogar zeitweilig vereint, als kommunistische Kapitänregenten gewählt worden waren. Mit solchen Problemen haben wir uns beschäftigt, als wir kleine Jungen waren.

Als ich ein kleiner Junge war, waren Männer noch Männer und Frauen noch Frauen, rechts war rechts und links war links, Schwarze waren Schwarze und Weiße Weiße, und so weiter, das ganze dichotomische Lexikon herauf und herunter. Aber jeder in meiner brandenburgischen Kleinstadt kannte die Katzenfresserin und den alten Mann in Frauenklamotten. Jeder wusste, dass der Oberkommunist früher Nazi war. Später kannte jeder den berüchtigten Satz von Filbinger: Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein. Der erste Schwarze, den ich gesehen habe, wurde von einer Kindergruppe freundlichst begrüßt: Neger, Neger, Schornsteinfeger sangen sie oder waren es wir, die so sangen? Der erste Schwarze, mit dem ich befreundet war, wurde von den Konkurrenten seiner Leute erschossen, weil er in der falschen Befreiungspartei war. Der Befehlsgeber der Mörder ist der heute absurdeste Führer eines afrikanischen Landes. Heute kommt mir selbst die politisch korrekte Bezeichnung colored nations oder Schwarze inkorrekt vor, weil es keine Unterschiede gibt.

Als ich ein kleiner Junge war, träumten wir von Maschinen, die die Straßen fegen würden, denn die Straßen wurden von Losern gefegt und der Beruf galt als das allerletzte, was man erreichen konnte, wenn man nichts erreicht hatte. Der Müll wurde von Pferdewagen abgeholt, auf denen dreckige schlechtbeleumdete alte Männer saßen, die direkt aus den Geschichten aus der Murkelei von Hans Fallada entstiegen zu sein schienen. Hans Fallada ist der Dichter, der nicht so hieß, wie er hieß, der drogensüchtig und hochbegabt, Mörder ohne Abitur und Kreator ohne Studium gleichzeitig war, und obwohl er in der bürgerlichen Gesellschaft als ‚dauernd untauglich‘ galt, ist er bis heute äußerst erfolgreich. Wir träumten von Maschinen, die die Teller wüschen und die Dinge bauten, die wir verbrauchen würden, wenn wir so reich wären, wie wir heute sind. Wir träumten solange von Maschinen, sie waren auch in unseren Lesebüchern abgebildet und entsprangen der Fantasy von Fantasten gleich uns, bis wir von Maschinen umstellt, in Maschinen eingeschlossen, Gefangene unserer Fantasy waren. Wer sich schon einmal in einem Gebäude befand, nachdem die Alarmanlage eingeschaltet hatte, weiß, wovon hier die Rede ist. Wieder sind es die Romanschreiber und Filmemacher, die Maler und Fantasten, die uns die Alternative einer nie alternativlosen Welt zeigen: Jean Tinguely baute mit seinen absurden Maschinen die absurde Welt nach. Lange Zeit ist die Musik, die aus Geräuschen und Krach besteht, missverstanden worden: auch sie malt, wie Rembrandt, die Welt ab und nach: laut und sinnlos zieht sie ihren Umweg. Was uns früher als reine Dichotomie erschien, zeigt heute sein wahres Gesicht als Unschärfe.

Warum ist denn das Leben falsch? Es ist falsch, weil es nicht richtig sein kann. Es kann nur gut sein, wenn du aus der Maschinenwelt hinaustrittst, wenn du auf das falsche, aufgezwungene, vorgeschriebene, aus Text- und Legobausteinen bestehende Leben der anderen verzichtest, wenn du aufhörst, über den Verzicht der anderen zu lachen. Du musst dich selber nach dem Weg fragen, nicht deine Navigationsmaschine, du musst dich selber bewegen, nicht nur auf das Gaspedal deines Selbstbewegermaschine genannten Semiautomaten drücken, das Selbstbewegende bezog sich auf den Verzicht auf Pferde, die so schön und schnell und treu sind. Die Renaissance des Fahrrads in Amsterdam und Kopenhagen und Münster und Berlin, die Renaissance des Gesprächs, wenn die Geräte abgeschaltet sind, die Renaissance der maschinenlosen Welt jenseits der Schlachthöfe und jenseits der Betonvorstädte ist vielleicht die Alternative, die Zukunft der Menschheit, der Menschheit, nicht der weißen absurden stupiden Automateneuropäer in ihren fliegenden und sausenden kohlenstoffdioxiderzeugenden und energieverbrauchenden Kisten mit Monitoren und Kopfhörern und Telefonen, die alles können außer Espresso und Liebe. Glaubt mir, unser Leben ist ein Sinus, kein Kreuz.

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STORDEUR: Der indische Junge in der TINGUELY-Maschine. Amsterdam 2016